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Tourismus und Religion

Einleitung
Philippe Bachimon et Hervé Théry
Traduction de Marleen Beisheim
Cet article est une traduction de :
Tourisme et religion [fr]
Autre(s) traduction(s) de cet article :
Turismo y religión [es]
Turisme i religió [ca]
Turismo e religião [pt]
Turismo e religione [it]
Tourism and Religion [en]

Texte intégral

1Die Beziehung zwischen Religion und Freizeit, zwei zentrale soziale Praktiken und kulturelle Bewegungen des 21. Jahrhunderts, ist nicht klar ersichtlich und auch nicht ohne Mehrdeutigkeiten. Sogar nach Nietzsche (für den „Gott tot“ war) verdränge die Freizeit, als Ausdruck des Materialismus, entweder die Religion oder lösche sie gänzlich aus, indem sie letztere als Teil einer dunklen und vergangenen Zeit als nicht mehr zeitgemäß abtue. Jedoch scheint das Gegenteil der Fall zu sein.

2Zunächst erleben wir einen starken Anstieg des Religiösen im 21. Jahrhundert, und dies nach einem 20. Jahrhundert, das von der Säkularisierung der Gesellschaft geprägt war (republikanischer Laizismus, kommunistische und faschistische Ideologien …). Letzteres wiederum erinnert an das 19. Jahrhundert, das von internen sowie kolonialen „Missionen“ zur Rückeroberung eines durch die Revolution abgestumpften „Christentums“ geprägt war, sowie an das 15. und 16. Jahrhundert, die Jahrhunderte der Reconquista (der Iberischen Halbinsel) gefolgt von der Conquista Lateinamerikas.

3Die Form dieser an Bedeutung gewinnenden religiösen Dimension unterscheidet sich im 21. Jahrhundert jedoch deutlich von dem, was sie zu bestimmten Zeiten, wie etwa während der Kreuzzüge, der Inquisition oder des Dschihad gewesen sein mag. In der Postmoderne (Jameson, 2007) kann per definitionem alles einen Wert (und in erster Linie den einer Ware) annehmen. Dementsprechend weisen die Religionen, meist die monotheistischen, eine Dimension auf, die sie deutlich näher in Verbindung mit Formen des Konsumismus bringen. Der Tourismus in seiner heute vorherrschenden Ausprägung zählt wiederum zu diesem Konsumismus oder ist sogar einer seiner zentralen Aspekte.

4Die Verbindung zwischen Tourismus und Religion, die in dieser Ausgabe von Via beleuchtet wird, ist besonders komplex und nimmt viele Mischformen an, weswegen man sie nicht mit Herangehensweisen analysieren sollte, die Tourismus und Religion getrennt voneinander betrachten. Die Grenzen zwischen diesen beiden Phänomenen, die vorläufig (und beispielsweise im Hinblick auf Pilgerfahrten noch immer) als solche angesehen werden, verwischen, auch wenn sie letztendlich dabei ihre Eigenheiten verlieren. Dieser Thematik soll sich angenähert werden, indem untersucht wird, was das Religiöse vom Tourismus übernimmt und umgekehrt. Das Ziel dahinter ist es, zu verstehen, wie ihre wechselseitigen Hybridisierungen sie beeinträchtigen und herausfordern.

Touristifizierung des Religiösen

5Immer mehr religiöse Praktiken ähneln dem Tourismus, beispielsweise wenn man die Definition berücksichtigt, der das INSEE (Institut national de la statistique et des études économiques) folgt. Demnach umfasst Tourismus „Aktivitäten, die von Personen während ihrer Reisen und Aufenthalte an Orten außerhalb ihres gewohnten Lebensraums für einen ununterbrochenen Zeitraum von nicht mehr als einem Jahr zu Freizeit-, Geschäfts- und anderen Zwecken durchgeführt werden“.

6Religiöse Gebäude wie Kathedralen, Klöster oder Kapellen, Synagogen, Moscheen sowie protestantische, buddhistische oder andere Tempelanlagen, ob sakralisiert oder entsakralisiert, erwecken zunächst einmal Neugierde und werden besucht. Solche Besuche fallen zweifellos in die Kategorie des Kulturtourismus. Seit dessen Anfängen wird unter anderem debattiert, welches Erbe erhalten und für nicht praktizierende Besucher geöffnet werden soll (oder eben nicht) und ob ein kostenpflichtiger Eintritt für religiöse Gebäude eingeführt werden soll. Aber auch religiöse Ereignisse wie Feste (Weihnachten, Eid al-Adha ...) und Pilgerfahrten (nach Lourdes, Mekka, Ghom ...) weisen eine starke Tendenz auf, die Eigenschaften des Tourismus und der Freizeitgestaltung zu übernehmen. Man könnte auch die Weihnachtsmärkte erwähnen, die in allen großen europäischen Städten verbreitet sind. Aber auch die Pilgerorte mit ihren „Tempelhändlern“ wie in Lourdes und ihren Restaurants, Terrassen, Luxushotels und Hammams wie in Mekka sind zu „religiösen Reisezielen“ geworden. Letztere besitzen alle Eigenschaften von touristischen Reisezielen, auch wenn sie nicht deren Status haben.

7Zwar sind Pilgerfahrten schon immer auf eine gewisse Logistik angewiesen und zwar für die Anreise, Unterbringung und Verpflegung der Gläubigen. Jedoch haben sich durch die teilweise erst seit kurzem einsetzende Massifizierung die Maßstäbe verschoben. Mekka, Lourdes und Fatima werden jedes Jahr von Millionen Menschen besucht. Aber auch an anderen Orten werden mehrere zehn Millionen Besucher pro Jahr erwartet. Alle zwölf Jahre findet die Purna Kumbh Mela oder Große Kumbh Mela in Prayagraj (Indien) statt. Im Jahr 2001 strömten in drei Wochen 70 Millionen Menschen an die Ufer des Ganges, davon 40 Millionen an einem einzigen Tag. Den Rekord in dieser Hinsicht hält wohl die Maha Kumbh Mela, die alle 144 Jahre nach zwölf Purna Kumbh Mela stattfindet. Die Letzte fand 2013 statt und wurde von mehr als 100 Millionen Menschen besucht. Sicherlich ist das „Klientel“ dieser riesigen Bevölkerungsbewegungen nicht so einheitlich, wie es ihre rituelle Kleidung vermuten lässt. Doch obwohl diese Pilgerfahrten äußerst beliebt sind, was im Hinduismus unübersehbar ist, werden sie auch immer teurer und bieten den wohlhabendsten Gläubigen, die zu VIPs geworden sind, außergewöhnlichen Komfort jenseits der Standards. Letzteres führt dazu, dass ein touristisches Gefälle entsteht, das von einem an die breite Öffentlichkeit gerichteten Massentourismus (Schlafen im Freien oder in Zelten) bis hin zu einem elitären Luxustourismus oder einem Tourismus der gehobenen Preisklasse (Unterkunft in Palästen) reicht.

Die Abgrenzung des Religiösen vom Tourismus

8Auch wenn aus religiöser Perspektive der Tourismus das Verhalten der Gläubigen negativ beeinflussen kann, so verhindert dies nicht, dass sich ein teilweise sehr innovatives Nebeneinander von Religion und Tourismus entwickelt, sogar aus der Initiative von Geistlichen heraus.

9Die Abgrenzung des Religiösen vom Tourismus scheint eine tief verwurzelte Grundannahme zu sein. Viele Gebetsstätten sind für „profane“ Besucher gesperrt, um die Gläubigen vor aufdringlicher Neugier zu schützen, die ihre Andacht und die Heiligkeit der Orte stören könnte. Jeder Kontakt mit Touristen, auch außerhalb der heiligen Mauern, kann zu Verdammungspredigten führen. So können seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Polynesien Missionare und ihre Nachfolger, die einheimischen Pastoren, Touristen als Ungläubige anprangern, die Geld und sexuell übertragbare Krankheiten bringen. Bei Straßenüberfällen, organisiert von dschihadistischen Gruppen, wurden Touristen in der Sahelzone und im Nahen Osten entführt. Bei messianischen Bewegungen in den Anden kann Ähnliches passieren. Zwar kommt es bei diesen Entführungen manchmal direkt zu Hinrichtungen, doch handelt es sich meist um Geiselnahmen. Letzteres zeigt, dass religiöse Bewegungen einer Marktlogik folgen, bei der die Geiseln gegen Zahlung eines Lösegelds freigelassen werden, das wiederum der religiösen Bewegung zufließen soll. Dies führt in den betroffenen Regionen, die häufig außerhalb der touristischen Zentren liegen, zu einer Unsicherheit, die den Tourismus in jedem Fall zum Erliegen bringt, solange diese Situation andauert.

10Dies ist aufsehenerregend und in den Medien sehr präsent, denn die Sicherheit der Touristen ist für die Reiseländer „heilig“, aber auch weil – jenseits dieser veralteten Perspektiven – extremistische (manchmal zu einer Sekte gehörende) religiöse Bewegungen versuchen, den Tourismus als Teil einer westlichen Soft Power anzugreifen, die traditionelle Gesellschaften entsakralisieren will. Dies wäre in gewisser Weise ein Neokolonialismus, der versucht, seine kommerziellen und gesellschaftlichen Werte zu exportieren, um die Religion zu destabilisieren. Diese Sichtweise passt gut in eine Welt, die zutiefst von starken Nord-Süd-Ungleichheiten geprägt ist, und in der der Tourismus als eine Art Voyeurismus der Wohlhabenden gegenüber dem Elend wahrgenommen werden kann. Auch wenn es solche Spannungen gibt, sind diese keineswegs eindeutig. Westliche „Touristen“ können sich als Verbreiter eines Glaubens erweisen, der mit dem etablierten Glauben in Konflikt steht. In der Sahelzone konnten sich evangelikale Missionare mit einem einfachen Touristenvisum einschleusen, was wiederum das Misstrauen gegenüber allen westlichen Reisenden schürte. Gerüchte haben – oft eher als harte Fakten – zu realen religiösen Konflikten mit Ermordungen geführt.

Die Frage eines Nebeneinanders

11Offen bleibt die Frage nach einem möglichen Nebeneinander von Touristen (a priori „passive“ und „nicht teilnehmende“ Beobachter), die Rituale stören, auf der einen und sich stetig erneuernden Religionen auf der anderen Seite. Die Antworten auf diese Frage können, wie wir gesehen haben, vom absoluten Verbot (Mekka und Medina) bis zur vollständigen Einbeziehung reichen. Der politische Entscheidungsprozess ist von einer offenen Haltung gekennzeichnet, die sowohl die wirtschaftlichen Auswirkungen als auch die durch eine missionierende Medienberichterstattung hervorgebrachte Anerkennung berücksichtigt. Die erfolgreiche Einbindung möglichst vieler Akteure in ein Raumentwicklungsprojekt kann Energien bündeln, sodass beispielsweise Pilger aus Mekka Saudi-Arabien außerhalb des streng religiösen Kontexts besuchen (Alzahrani, 2014). Touristen werden aber auch als Störfaktor bei bestimmten Zeremonien, deren Codes und Dogmen sie nicht teilen, angesehen. Diese Sorge haben viele Glaubensgemeinschaften in Klöstern. Die Vermeidung von einer Überfüllung an Besuchern kann als wesentlich für eine ruhige Besinnung und Kontemplation angesehen werden. Die meisten Menschen (ob gläubig oder nicht), die sich dort zurückziehen, werden dort empfangen. In offenen Räumen kann sich eine solche Kontrolle als schwieriger erweisen. Touristen, die in Indien entlang der heiligen Flüsse Einäscherungen fotografieren, können auf die Angehörigen äußerst unangemessen wirken. Dies beruht nicht auf Gegenseitigkeit, und in diesen Verhaltensweisen (hier wird auf die Selfies verwiesen, auf denen man sich selbst mit ausgespreiztem Zeige- und Mittelfinger als „Victory-Zeichen“ vor einem Scheiterhaufen fotografiert) kommt eine Verachtung des Anderen zum Ausdruck. Dieser Andere, den man besucht, kann das Gefühl haben, aus einer bloßen Neugierde degradiert zu werden. Dies ist ein Gefühl, das im Gastland empfunden wird und zu Reibungen führen kann. Umgekehrt könnte man aber auch argumentieren, dass die Lust am Exotischen eine Tradition aufwertet, die manchmal im Niedergang begriffen war. Ein Ritual, das die Neugier von Menschen aus fernen Ländern weckt, ist ein Beweis für seine Bedeutung. Dies festigt den Ritus und trägt dazu bei, dass er, wenn auch in verzerrter Form, als eine Art traditionelle Aufführung fortgeführt wird.

Formen der Hybridisierung

12Man kann, ohne ein theoretisches und konzeptionelles Risiko einzugehen, sagen, dass die Beziehung zwischen Tourismus und Religion von Hybridisierung gekennzeichnet ist. Den Tourismus kann man zwar aus materialistischer Perspektive betrachten (z. B. das Erleben eines „irdischen Paradieses“ hier auf der Erde), er ist aber letztlich auch eine Form des Heidentums (die Erfahrung des irdischen Paradieses bleibt ein Glaube, der die monotheistischen Religionen infrage stellt). Er kann sich als neue Religion präsentieren, wenn er Erfahrungen in Form von Yoga-Kursen in Ashrams oder ein „Auftanken“ in Klöstern anbietet, und wenn umgekehrt die religiöse Praxis immer mehr touristische Aspekte aufweist (Reiseagenturen, Flugreisen, Hotelketten, standardisierte Gastronomie sowie Regelungen für Touristen bei Reisen). So ähnelt die Abwanderung von Dschihadisten in den Islamischen Staat (IS), wie sie von den Betroffenen geschildert wird, einer von einem Reiseveranstalter organisierten touristischen Reise, wenn auch mit einigen Heucheleien. Fahrten zu Sekten können manchmal wie authentische Touristenziele wirken. Man denke nur an Yogakurse in Lama-Tempeln in Nepal und später überall auf der Welt. So wurde Mandarom, der Prototyp einer skurrilen synkretistischen Sekte, als „Ferien“-Dorf in seiner Panoramalage nach dem kitschigen Vorbild eines Themenparks konzipiert (Duval, 2002).

Der touristische Temperaturgradient

13Das Religiöse ist eines der bekannten und zentralen Objekte des Kulturtourismus. Der Besuch ist meist „kalt“, die Touristen besuchen Stätten und Denkmäler, die nicht mehr in Betrieb sind oder sogar entweiht wurden, und manchmal geht es darum, die religiösen Aspekte neu zu interpretieren. Beispiele hierfür sind die Tempel der Maya oder Azteken, die Marae in Polynesien, aber auch Angkor Wat sowie heilige Berge und Hügel. Es gibt auch „lauwarme“ Begegnungen, wie z. B. die Monumente des Christentums, die (zumindest in Europa) umso häufiger besucht werden, je weniger sie von den Gläubigen aufgesucht oder je mehr sie von ihren Geistlichen vernachlässigt werden (Jakobsweg und Retreat in Klöstern).

14Schließlich stellt sich die Frage nach einem „sehr warmen“ Tourismus, wenn die Religion nämlich den öffentlichen Raum dominiert (hier sei die Klagemauer genannt). Dies führt auf beiden Seiten zu Verboten. Nicht-Muslimen ist es verboten, marokkanische Moscheen oder die heiligen Stätten Mekka und Medina in Saudi-Arabien zu betreten. Muslimischen Pilgern aus Mekka ist es beispielsweise in Saudi-Arabien verboten, alte archäologische Stätten zu besuchen, die die Doxa der Weltentstehung in Frage stellen würden. Ein besonderer Fall, den es wert wäre zu analysieren, ist die Kathedrale Notre-Dame de Paris, die sowohl ein Gotteshaus als auch eine wichtige Touristenattraktion war. Der Brand von 2019 hat gezeigt, dass sie ein wichtiges Symbol für viele Franzosen, aber letztlich auch für viele Menschen auf der ganzen Welt ist (Disneys überarbeitete Version von Victor Hugos Notre-Dame de Paris spielte eine große Rolle bei der Verbildlichung ihrer typischen Merkmale). Dies führte zu Spenden, um die Restaurierungskosten zu decken, aber auch zu der Frage, wie das religiöse Monument als solches im Rahmen der Restaurierung respektiert werden kann.

15Die komplexen Beziehungen zwischen den beiden markanten gesellschaftlichen Phänomenen Religion und Tourismus sind nicht eindeutig ersichtlich. A priori scheinen diese beiden Phänomene gegensätzlich zueinander zu sein, abgesehen vielleicht von ihrer Dynamik. Diejenige des Tourismus wurde durch die Pandemie für eine Weile unterbrochen. Jedoch muss das Wiedererstarken des religiösen Fundamentalismus wohl als Antwort auf den Materialismus, den der Tourismus fördert, analysiert werden. Die Religion verspricht das Paradies im Jenseits, während der Tourismus es im Rahmen einer Vergnügungsreise anbietet. Die religiöse Wiedergeburt (Revival) definiert sich unter anderem als Reaktion auf die Bedeutung des Tourismus in Bezug auf die Säkularisierung der Gesellschaft, die „fehlgeleiteten“ Sitten, die Erotisierung des Verhaltens und den Voyeurismus im Hinblick auf die Privatsphäre. Das Religiöse als „Hüter“ der „gelebten“ Tradition kann es darauf anlegen, den Tourismus als Ausdruck einer „materialistischen“ (in doppelter Weise komplementär zur religiösen Ideologie) Moderne zu schwächen. Die Situation ist jedoch nicht eindeutig, da sich die Pilgerfahrt in zunehmendem Maße von der Professionalität der Reiseveranstalter und der großen Konzerne, an die sie sich wendet, inspirieren lassen wird. Allerdings ist der Tourismus an den Rändern seines Handlungsfelds nicht mehr expansiv, sondern gezwungen, sich auf seine noch sicheren Standbeine zu konzentrieren. Andererseits bleibt im Gegensatz dazu eine „Haltung“ (manchmal eine List? Man denke nur an die Entdeckung von Timbuktu oder die Reise von Alexandra David Neel), die daraus besteht, als Pilger (oder als Pilger verkleidet) zu reisen, um die Welt zu erkunden. Dieser Bereich der touristischen Reise, der angesichts des zunehmenden Fundamentalismus immer kleiner zu werden scheint, zeigt in der Tat eine weniger bekannte Seite (Kassouha, 2018). Indem sie sich vermischen, beteiligen sich Tourismus und Religion an der Erfindung einer neuen Mischform, eines Hybriden, die vielleicht die vorherrschende Form ihrer noch komplizierteren Beziehung sein wird.

Der Inhalt dieser Ausgabe

16Dass sich Via in dieser Ausgabe diesem Thema widmet, ist daher gerechtfertigt. Die zahlreichen Artikelvorschläge, die bei uns eingegangen sind, verweisen auf das große wissenschaftliche Interesse an dieser Fragestellung. Auch wenn es nicht möglich war, das gesamte Untersuchungsgebiet zu erfassen, werden wir im Folgenden sehen, dass interessante Aspekte angesprochen, Besonderheiten enthüllt und Ambivalenzen aufgedeckt wurden. Die gesamte Bandbreite, die vom Materialismus zum Idealismus, von der Säkularisierung bis zum Fundamentalismus reicht, wird in dieser Ausgabe erkundet.

  • 1 Übersetzt aus dem französischsprachigen Original „Le baptistère de Lydie en Grèce du Nord. Touri (...)

17Der Artikel von Katerina Seraidari „Das Baptisterium von Lydien in Nordgriechenland. Religiöser Tourismus, Kultstätte und rituelles Erlebnis“1 untersucht, wie einer symbolträchtigen Taufe (angeblich die erste auf dem europäischen Kontinent, da Paulus Lydia zwischen 49 und 50 n. Chr. im Fluss bei Philippi getauft haben soll) im 19. Jahrhundert zunächst von dem griechischen Gelehrten Lampakis gedacht worden sei: Er verwandelte das Wasser von Philippi in ein Museumsobjekt. Mit der Errichtung einer Kirche wurde dann das bis dahin Transportable in ein Monument verwandelt und somit im Boden verankert. Dieses Beispiel ermöglicht somit ein besseres Verständnis für die Wechselwirkungen zwischen den vier Hauptparametern des religiösen Tourismus, und zwar den religiösen Stätten, den Menschen, den Objekten und den Geschehnissen.

  • 2 Übersetzt aus dem französischsprachigen Original „Tourisme religieux : pour en finir avec l’oxym (...)

18In ihrem Artikel „Religiöser Tourismus: Ein Ende für das Oxymoron?“2 mit dem Untertitel „Verbindungen zwischen touristischen und religiösen Praktiken“ stellt Marie-Hélène Chevrier fest, dass in der Wissenschaft „keine Einigkeit“ hinsichtlich der Definition und der Verwendung des Begriffs besteht. Der Artikel zielt daher auf eine Präzisierung des Begriffs ab. Außerdem geht er auf die Unterscheidung zwischen Tourismus und Pilgerfahrt ein, um die Idee eines Kontinuums zu vertiefen und um „die zeitgenössischen Entwicklungen der dialektischen Beziehung von Tourismus und Religion besser zu verstehen“.

  • 3 Übersetzt aus dem französischsprachigen Original „Tourisme, patrimoine et islam : Fès, pôle tour (...)

19Anne Ouallet zeigt in „Tourismus, Kulturerbe und Islam: Fes, ein touristisches und tidschanisches Zentrum“3, dass Fes sowohl Teil des weltweiten Netzwerks der Stätten des Welterbes als auch Vorzeigeobjekt des internationalen Tidschani-Netzwerkes ist. Zwei Arten von Besucherströmen fließen so in der Stadt zusammen. Jeder von ihnen ist Teil eigener Routen und sie folgen spezifischen Logiken: Die Aufnahme von Fes in das UNESCO-Welterbe führt zum Zustrom weltlicher Touristen, die nicht von vornherein durch religiösen Glauben motiviert sind, es sei denn, man geht davon aus, dass das Welterbe an sich zu einem solchen geworden ist. Gleichzeitig führt die tidschanische Heiligkeit der Stadt zu Strömen von Einzelpersonen oder Gruppen, von denen viele auf den internationalen Routen des Islams pilgern und Teil einer großen Bewegung sind, die den religiösen Tourismus aufblühen lässt.

  • 4 Übersetzt aus dem portugiesischsprachigen Original „Turismo religioso em municípios do estado do (...)

20Der Artikel von Maria Adriana S. B. Teixeira, Lúcia Cláudia Barbosa Santos und Maria Jacqueline Ramos Iwata „Religiöser Tourismus im brasilianischen Amazonasgebiet“4 befasst sich mit den religiösen Aspekten von drei wichtigen Festen des religiösen Tourismus im Bundesstaat Amazonas und zwar dem Fest von Nossa Senhora do Carmo (Parintins), dem Fest von Santo Antônio de Borba (Borba) sowie dem Fest von Nossa Rainha do Rosário (Itapiranga). Ihre Hauptmerkmale sind: die von Generation zu Generation überlieferten religiösen Traditionen aufrechtzuerhalten, die Verehrung des örtlichen Schutzheiligen zu stärken und die Beziehungen zwischen den Menschen, die an diesen Festen teilnehmen, zu fördern.

  • 5 Übersetzt aus dem französischsprachigen Original „Itinéraire culturel et patrimoine religieux“

21Isabelle Brianso verdeutlicht in „Kulturrouten und religiöses Erbe“5, dass sich seit 1987 die geografischen Spuren (Straße, Weg, Pfad) des Mittelalters in „zertifizierte Kulturrouten des Europarats“ verwandeln. Wurden sie früher von europäischen Reisenden und Pilgern benutzt, ziehen sie heute eine Vielfalt von Wanderern mit heterogenen Profilen (Bewohner, Pilgerwanderer, Wandertouristen) an, die vielfältige Gemeinschaften bilden, die sich auf soziale, religiöse und kulturerbliche Werte beziehen. Sie spielen daher eine zentrale Rolle bei der Anerkennung dieses Kulturobjekts als neuere Kategorie des Kulturerbes an der Schnittstelle von Geographien der Kultur, der Landschaft und der kommunikativen Prozesse.

  • 6 Übersetzt aus dem französischsprachigen Original „Lourdes, haut-lieu du tourisme religieux, entr (...)

22Nathalie Jarraud und Sylvie Clarimont untersuchen die Frage „Lourdes, Hochburg des religiösen Tourismus, zwischen Krise und Wandel?"6. Dass bestimmte touristische Orte obsolet werden, wurde modelliert, indem das Konzept des Produktlebenszyklus auf Lourdes, eine Hochburg des religiösen Tourismus, angewandt wurde. Die Covid-19-Krise könnte, indem sie das System in Lourdes erschüttert, den Wandel des Reiseziels beschleunigen und die Transformation fördern. Auch wenn der Wallfahrtsort einige innovative Veränderungen vorsieht, entsprechen diese eher einer Logik der „Resilienz durch Anpassung“ als einer Logik der Transformation. Bisher scheint die Krise eher die Spannungen unter den Akteuren verschärft zu haben, als dass sie eine Bündelung der Energien um ein gemeinsames Projekt für den Übergang zu einem nachhaltigeren Tourismus ausgelöst hätte.

  • 7 Übersetzt aus dem französischsprachigen Original „Quand le pèlerin chrétien est-il devenu touris (...)

23Zu diesen Artikeln des Dossiers kommen zwei Essays und zwei Analysen von Fotografien hinzu. Michel Bonneau fragt sich „Wann wurde der christliche Pilger zum Touristen?“7 und analysiert die Entwicklung des Verhaltens der Pilger von den Anfängen bis zum 15. Jahrhundert im Heiligen Land. Er greift ein selten analysiertes Thema auf, nämlich das Verhalten der Pilger gegenüber dem Profanen. Die Berichte aus dem vierten Jahrhundert zeigen, dass die Pilger dem Profanen keinen Platz einräumten, da sie ganz auf den heiligen Ort ausgerichtet waren, den sie aufsuchen wollten. Das Verhalten änderte sich ab dem 13. und 14. Jahrhundert allmählich, da sich die Pilger zunehmend für die reale Welt um sie herum interessierten. Die Entwicklung wird im 15. Jahrhundert so weit abgeschlossen sein, dass die Pilger auf ihren Fahrten ins Heilige Land Naturschauplätze, schöne Landschaften, Denkmäler, Ruinen, Märkte oder symbolträchtige Weltwunder wie die Pyramiden besuchen werden. Die Suche nach diesen „Singularitäten“ wird sogar zum treibenden Element der Reise, die nicht mehr nur um der Pilgerfahrt und des Heils willen unternommen wird.

  • 8 Übersetzt aus dem italienischsprachigen Original „Il viaggio a Loreto: turismo religioso e turis (...)

24Salvatore Santuccio berichtet über „Die Reise nach Loreto: religiöser Tourismus und Kulturtourismus“8. Die Basilika von Loreto ist Anziehungspunkt für Pilger und zwar seit der Verbreitung der „traditionellen Überlieferung von Loreto“, die von der wundersamen Reise des Geburtshauses von Maria von Palästina nach Loreto erzählt, die im Flug von einigen Engeln begleitet wurde. Im Laufe seiner Geschichte wurde dieses wichtige religiöse Zentrum auch zu einem bedeutenden Monument der Kunst und Architektur der italienischen Renaissance und zu einem der wichtigsten kulturellen Zentren Mittelitaliens. Dies hat zum Ruhm der Basilika und zum internationalen Interesse vieler Wissenschaftler beigetragen, die sicherlich von dem symbolischen religiösen Wert des Gebäudes angezogen werden, aber auch von seinen künstlerischen und historiografischen Aspekten.

  • 9 Übersetzt aus dem französischsprachigen Original „Le tourisme religieux en Arabie Saoudite. Entr (...)

25Auch Moulay Salah Oumoudden und Rhaled Alzarhani nähern sich den beiden Phänomenen in „Religiöser Tourismus in Saudi-Arabien. Zwischen Pilgerfahrt und Konsum“9. Für Muslime ist der Hadsch, die jährliche Pilgerfahrt nach Mekka in Saudi-Arabien, das Herzstück des religiösen Tourismus. Sie gilt als eine der fünf Säulen des Islam und verpflichtet diejenigen, die körperlich und finanziell in der Lage sind, sie einmal im Leben zu vollziehen. Fast zwei Millionen Menschen aus allen Teilen der Welt reisen daher jedes Jahr nach Mekka. Das „Ministerium für Hadsch“ unterstützt die Organisation der Pilgerfahrten zu den heiligen Stätten für die Bevölkerung muslimischen Glaubens und ist auch für die Erfassung der Besucherzahlen zuständig.

  • 10 Übersetzt aus dem französischsprachigen Original „Un pèlerinage divertissant?“

26Schließlich zeigt und kommentiert Anthony Goreau-Ponceaud in „Eine Pilgerfahrt zum Vergnügen?“10 Fotos einer Gruppe von Frauen, die ihren Heimatort Theni, eine Kleinstadt im Osten des indischen Bundesstaates Tamil Nadu, verlassen, um zum Tempel Arulmigu Adhiparasakthi Siddhar Peetam in Melmaruvathur zu reisen. Ihre Reise fiel in die Zeit der Irumudi Shakti Malai-Pilgerfahrt, in der Pilger – und insbesondere Frauen – aus ganz Tamil Nadu zusammenströmten, um ihre Hingabe an Amma (Mahādevī oder Adi Parashakti), die Muttergöttin, zum Ausdruck zu bringen.

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Bibliographie

Alzahrani, Kh. (2014), Du cultuel au culturel : le tourisme international en Arabie Saoudite, Thèse de l’université de Grenoble, UMR Pacte.

Duval, M. (2002), Un ethnologue au Mandarom : Enquête à l'intérieur d'une "secte", PUF.

Jameson, F. (2007), Le Postmodernisme ou la logique culturelle du capitalisme tardif, Beaux-Arts de Paris, Ed originale 1991, Duke University Press.

Khasouha, Z. (2018), Le tourisme en Syrie, passé, présent, futur : entre résilience et réinvention, Thèse de l’université d’Avignon, UMR Espace-Dev.

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Notes

1 Übersetzt aus dem französischsprachigen Original „Le baptistère de Lydie en Grèce du Nord. Tourisme religieux, lieu de culte et événement rituel“

2 Übersetzt aus dem französischsprachigen Original „Tourisme religieux : pour en finir avec l’oxymore ? Réflexion sur les pratiques articulant tourisme et fait religieux“

3 Übersetzt aus dem französischsprachigen Original „Tourisme, patrimoine et islam : Fès, pôle touristique et pôle tijane“

4 Übersetzt aus dem portugiesischsprachigen Original „Turismo religioso em municípios do estado do Amazonas“

5 Übersetzt aus dem französischsprachigen Original „Itinéraire culturel et patrimoine religieux“

6 Übersetzt aus dem französischsprachigen Original „Lourdes, haut-lieu du tourisme religieux, entre crise et transition“

7 Übersetzt aus dem französischsprachigen Original „Quand le pèlerin chrétien est-il devenu touriste“

8 Übersetzt aus dem italienischsprachigen Original „Il viaggio a Loreto: turismo religioso e turismo culturale“

9 Übersetzt aus dem französischsprachigen Original „Le tourisme religieux en Arabie Saoudite. Entre Pèlerinage et Consumérism“

10 Übersetzt aus dem französischsprachigen Original „Un pèlerinage divertissant?“

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Pour citer cet article

Référence électronique

Philippe Bachimon et Hervé Théry, « Tourismus und Religion », Via [En ligne], 20 | 2021, mis en ligne le 15 décembre 2021, consulté le 18 mars 2025. URL : http://0-journals-openedition-org.catalogue.libraries.london.ac.uk/viatourism/7954 ; DOI : https://0-doi-org.catalogue.libraries.london.ac.uk/10.4000/viatourism.7954

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Auteurs

Philippe Bachimon

Professeur émérite, Université d'Avignon

Articles du même auteur

Hervé Théry

Directeur de recherche émérite au CNRS-Creda, Professor na Universidade de São Paulo (USP-PPGH)

Articles du même auteur

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Traducteur

Marleen Beisheim

Universität Freiburg

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Droits d’auteur

CC-BY-NC-ND-4.0

Le texte seul est utilisable sous licence CC BY-NC-ND 4.0. Les autres éléments (illustrations, fichiers annexes importés) sont « Tous droits réservés », sauf mention contraire.

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