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Perspectives

Wie (nicht)modern ist die Kritik an der Agrogentechnik?

Vorstellungen von Natur und Gesellschaft im Licht der Thesen Bruno Latours
Anne Bundschuh

Résumés

La dichotomie entre nature et culture est pensée comme l’une des bases de la société moderne. Selon Bruno Latour, cette division claire n’a cependant jamais correspondu à la réalité, le domaine social se constituant non seulement des humains, mais aussi des créatures non-humaines. L’article applique ces thèses de Latour à l’exemple de la critique des OGM en montrant comment les opposants germanophones aux OGM conçoivent le rapport entre nature et culture et en analysant si leur discours présente des éléments de ce que Latour appelle la « non-modernité ».

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Géographique :

Allemagne

Chronologique :

21e siècle
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Texte intégral

1Ausgangspunkt des vorliegenden Artikels sind die Thesen Bruno Latours zum Verhältnis zwischen Natur und Gesellschaft. Die Dichotomie zwischen den beiden Bereichen gilt als eine Grundlage der modernen Gesellschaft. Gleichzeitig wird jedoch, insbesondere angesichts neuer grenzüberschreitender Technologien (Wehling, Viehöfer und Keller, 2005), deutlich, dass es sich keineswegs um zwei klar voneinander getrennte, sondern um miteinander verwobene Bereiche handelt. Eine dieser Technologien ist die Agrogentechnik, das heißt die Übertragung fremder DNA in das Erbgut von Tieren oder Pflanzen. In Frankreich und Deutschland wird die Agrogentechnik von großen Teilen der Bevölkerung abgelehnt, und seit den 1980er-Jahren organisieren KritikerInnen vielfältige Kampagnen, um ihre weitere Ausbreitung zu verhindern (Gill, 2008). Die folgenden Erörterungen widmen sich der Fragestellung, welche Vorstellungen von Natur und Gesellschaft dieser Kritik zugrunde liegen und inwiefern hier eine nichtmoderne Konzeption dieses Verhältnisses im Sinne Latours zu finden ist. Durch diese Anwendung der Thesen Latours auf eine aktuelle sozialökologische Thematik soll die Frage beantwortet werden, ob gesellschaftliche Akteure die vielfältigen Verwicklungen zwischen Natur und Gesellschaft wahrnehmen oder ob ihrem Diskurs (weiterhin) die Vorstellung einer starren Natur-Gesellschafts-Grenze zugrunde liegt.

Bruno Latours Thesen zur Moderne

  • 1 Frz. Nous n'avons jamais été modernes (1991).
  • 2 Frz. Politiques de la nature. Comment faire entrer les sciences en démocratie (1999).

2Im Einklang mit anderen TheoretikerInnen sieht Latour die dualistische Unterscheidung zwischen Natur und Gesellschaft als ein wesentliches Merkmal der Moderne an. Er stellt sich jedoch gegen die These einer neuen, postmodernen Epoche, die durch das Verschwimmen von ehemals festen Grenzen gekennzeichnet ist, und argumentiert stattdessen, dass die „Zweiteilung“ der Welt schon immer eine Fiktion gewesen sei. Im Essay Wir sind nie modern gewesen (Latour, 2008)1 beschreibt er die von ihm so bezeichnete „moderne Verfassung“ als eine Ansammlung von Praktiken, mit deren Hilfe alle Phänomene entweder der Natur oder der Gesellschaft zugeordnet werden können. Im Ergebnis stelle sich die Welt als eine Zusammensetzung von aktiv handelnden menschlichen Subjekten auf der einen Seite und passiven nicht-menschlichen Objekten auf der anderen Seite dar. Verknüpfungen zwischen diesen beiden Bereichen würden nicht als solche wahrgenommen – und genau hierin sieht Latour die große Schwachstelle der modernen Verfassung: Sie biete keine geeignete Grundlage, um mit gegenwärtigen (Umwelt-)Problemen angemessen umzugehen. Um Phänomene wie den Klimawandel oder die Agrogentechnik einordnen und bearbeiten zu können, müssen wir Latour zufolge unsere moderne durch eine „nichtmoderne“ Verfassung ersetzen, deren Charakteristika er in Das Parlament der Dinge (Latour, 2001)2 umreißt. Statt die Welt vorschnell den Dualismen Gesellschaft (die durch die Politik repräsentiert wird) bzw. Natur (die durch die Wissenschaft repräsentiert wird) unterzuordnen, zeichnet sich die nichtmoderne Verfassung durch ein grundlegend anderes Verständnis von Natur und Gesellschaft aus. Natur erscheint nicht mehr länger als eine objektive Wirklichkeitswelt jenseits des Sozialen, sondern als ein umfassender politischer Prozess. Um diese nichtmoderne Verfassung umzusetzen, müsse die alte, am Schutz der Natur ausgerichtete Umweltbewegung durch eine (neue) politische Ökologie ersetzt werden, die bereit ist, ihre grundsätzlichen Annahmen über das Verhältnis zwischen Natur, Gesellschaft, Politik und Wissenschaft neu zu überdenken. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sowohl menschliche als auch nicht-menschliche Wesen als Akteure im politischen Prozess berücksichtigt werden. Die Relevanz und Handlungsmacht dieser heterogenen Akteure könne dabei nicht a priori, sondern erst anhand einer konkreten Problemstellung bestimmt werden. Eine wichtige Aufgabe der Politik in einer nichtmodernen Verfassung bestehe demnach darin, herauszufinden, welche (menschlichen und nicht-menschlichen) Akteure in ein Problem verwoben sind und darin eine relevante Rolle spielen (Latour, 2001).

Zum Natur-Gesellschafts-Verhältnis in der Gentechnikkritik

  • 3 Gill (2008) weist darauf hin, dass es sich bei der Opposition gegen die Agrogentechnik nicht um ein (...)

3Im Folgenden werde ich anhand des Fallbeispiels der gentechnikkritischen Bewegung im deutschsprachigem Raum3 analysieren, inwiefern Latours Thesen einer (nichtmodernen) Verwobenheit von Natur und Gesellschaft in aktuellen umweltpolitischen Debatten aufzufinden sind. Das Fallbeispiel wurde nicht deshalb ausgewählt, weil sich GentechnikkritikerInnen auf Latour berufen – dies ist, soweit mir bekannt ist, nicht der Fall –, sondern weil die Gentechnikkritik ein wichtiges Thema der gegenwärtigen Umweltbewegung darstellt und ein geeignetes Feld bietet, um Latours Thesen empirisch zu beleuchten. Denn einerseits spricht Latour den „grünen Bewegungen“ das Potential zu, durch ihre Praxis am „Kern dessen [zu rühren], was wir als moderne Verfassung bezeichnen“, und somit zu Vorreitern einer nichtmodernen Verfassung zu werden (Latour, 2001: 34), da die Umweltbewegung in ihrer Praxis Natur und Gesellschaft permanent miteinander vermische. Andererseits kritisiert er, dass der theoretische Diskurs der Umweltbewegung weiterhin eine moderne Sicht beibehalte, die von einer klaren Trennung zwischen Natur und Gesellschaft ausgehe.

  • 4 „Naturkonflikte als Ausdruck einerNichtmoderne’? Zum Verhältnis zwischen Wissenschaft, Natur und (...)
  • 5 Charakterisierung der InterviewpartnerInnen: Umweltwissenschaftlerin und Angestellte einer bäuerlic (...)

4Inwiefern wird also in der Gentechnikkritik eine moderne, inwiefern eine nichtmoderne Sichtweise auf Natur und Gesellschaft vertreten? Wird – nach dem Schema der Latour’schen „alten Umweltbewegung“ – ein dualistisches Verhältnis zugrunde gelegt und das Ziel vertreten, die Natur zu schützen? Oder wird vielmehr – nach Latours Konzept einer politischen Ökologie – davon ausgegangen, dass Natur und Soziales immer verwoben sind und dass die Grenzen zwischen den beiden Bereichen niemals klar zu ziehen sind? Die empirische Basis der hier dargestellten Untersuchung bilden sieben teilstrukturierte Leitfaden-Interviews, die ich 2009 im Rahmen meiner Magisterarbeit4 mit GentechnikkritikerInnen geführt habe. Die Auswahl der InterviewpartnerInnen orientierte sich am Ideal des theoretischen Samplings (Glaser und Strauss, 1967). Aufgrund der Breite des Samples – die InterviewpartnerInnen stammen aus verschiedenen Spektren der gentechnikkritischen Bewegung und unterscheiden sich in ihren inhaltlichen Schwerpunkten und Tätigkeiten5 – ist davon auszugehen, dass eine inhaltliche Generalisierbarkeit der Ergebnisse zulässig ist (vgl. Merkens, 2008: 291).

  1. Die moderne Sicht

5Nach Latour zeichnet sich eine moderne Sichtweise auf Umweltprobleme vor allem dadurch aus, dass die Natur als ontologische Gegebenheit angesehen wird und einen wichtigen Stellenwert in der Argumentation einnimmt. Unter meinen InterviewpartnerInnen findet sich jedoch nur ein Akteur, der den Schutz der Natur als einen wichtigen Grund für seine Opposition gegen die Agrogentechnik anführt und der während des Interviews immer wieder auf die Natur verweist, um seine Position zu begründen (Int7). Die anderen Akteure kommen erst zu einem späteren Zeitpunkt des Interviews oder auf meine explizite Nachfrage auf die Natur zu sprechen – dann jedoch sind die Aussagen häufig geprägt von einer Sichtweise, derzufolge Natur und Gesellschaft zwei klar voneinander getrennte Bereiche der Welt darstellen: Auf der einen Seite steht die „Natur an sich“, das „vom Menschen Unbeeinflusste“ oder die „Artenvielfalt“; auf der anderen Seite befinden sich „Menschen“, „Pestizide“ und „Getreide-Monokulturen“. Eine Interviewpartnerin beschreibt Natur als ein „biologisches System“, das „total aufeinander abgestimmt ist“ (Int5), ein anderer Interviewpartner konzeptionalisiert Natur als „ökologisches Gleichgewicht“ (Int2). Beide teilen starke Bedenken gegen das menschliche Eingreifen in natürliche Prozesse. Auch die Gegenüberstellung von natürlicher Evolution und gentechnischem Eingreifen, bei dem „völlig willkürlich […] ein fremdes Genbruchstück in [den] Wirtsorganismus“ eingebracht wird (Int3), findet sich mehrmals in den Interviews.

6All diesen Aussagen ist gemein, dass sie von der Existenz einer Natur jenseits menschlichen beziehungsweise gesellschaftlichen Zugriffs ausgehen und dass sie diese Natur als etwas Schützenswertes erachten. Der Eingriff des Menschen wird zunächst als grundsätzlich schädlich angenommen und müsse so gering wie möglich gehalten werden: In die Natur „sollte man so wenig wie möglich eingreifen“ (Int2). Insbesondere die Art und Weise des Eingriffs, zum Beispiel in Bezug auf landwirtschaftliche Technologien, wird häufig kritisiert. Mehrere InterviewpartnerInnen weisen darauf hin, dass es sich bei der Gentechnik nicht um eine „natürliche“ Technologie im Sinne einer Fortsetzung der Evolution durch den Menschen handele, sondern vielmehr um einen explizit gesellschaftlich-technischen Eingriff in natürliche Prozesse.

  1. Nichtmoderne Praxis: Schwierigkeiten der Grenzziehung

7Neben dieser modernen Bezugnahme auf eine Trennung zwischen Natur und Gesellschaft finden sich jedoch auch Aussagen, die diese klare Grenzziehung zumindest implizit infrage stellen. So beschreibt ein Interviewpartner die Tätigkeiten seiner Naturschutzgruppe wie folgt: „Wir bauen dann lieber unser Vogelkästchen […] oder machen für die Eule was […].“ (Int7) Dieses Zitat drückt die Kluft zwischen (nichtmoderner) Praxis und (moderner) Theorie der Umweltbewegung aus, auf die Latour hinweist, wenn er fordert, „das Tun der ökologischen Aktivisten von dem zu unterscheiden, was sie zu tun behaupten“ (Latour, 2001: 42): Laut Aussage des Interviewpartners wird etwas „für die Eule“, das heißt für die Natur getan (Artenschutz und Bestandserhaltung), wobei die Natur als etwas Schutzbedürftiges angesehen wird. In der Praxis vermischt diese Tätigkeit jedoch Natur und Gesellschaft, denn „für die Eule was tun“ bedeutet (auch), Kulturlandschaft zu gestalten – sei es durch Eingriffe und Veränderung oder durch Pflege und Erhalt der bestehenden Landschaft. Während der Naturschützer also davon spricht, die objektive, außerhalb des Sozialen stehende Natur zu schützen oder zu bewahren, greift er de facto durch seine Tätigkeiten in die gemeinsam gestaltete Landschaft ein, und mit dieser Gestaltung von Landschaft sind immer auch eigene bzw. soziale Interessen verknüpft. An späterer Stelle des Interviews macht er eben diesen Bezug auf Landschaft auch selbst zum Thema, wenn er von seiner Tätigkeit als Wanderführer spricht:

„Ich versuche das schon […] mit rüberzubringen, wo in der Landschaft sich was verändert hat. Ob da eine Baumreihe verschwunden ist oder eine Böschung oder ein Weghain […], dadurch geht natürlich auch fürs Auge viel verloren. Wenn ich durch die Landschaft gehe und Kornblumen oder Mohnblumen nicht mehr sehe oder die Wegewarte, die irgendwo steht, dementsprechend fehlen natürlich auch die Kleintiere, die dazugehören, Schmetterlinge Insekten. Oder die Vogelwelt, die sieht oder hört man dann nicht mehr.“ (Int7)

8Die Kritik an der Agrogentechnik als einen reinen „Schutz der Natur“ zu begreifen, greift also zu kurz. Denn tatsächlich geht es nicht (nur) um die Natur, es geht um Vorstellungen von einer spezifischen Landnutzung, es geht um ästhetische, visuelle und akustische Ansprüche an die Umwelt und um das (subjektive) Erleben von Natur.

9Neben der Naturschutz-Thematik gibt es noch zwei weitere Kritikbereiche, bei denen die Problematik einer klaren Grenzziehung zwischen Natur und Gesellschaft ersichtlich wird: einerseits die Auskreuzungsproblematik, das heißt die Übertragung der neu eingefügten Gene auf verwandte Wildpflanzen oder konventionelle Nutzpflanzen, und andererseits die Frage nach der Natürlichkeit konventionell – also ohne Hilfe der Gentechnik – gezüchteter Pflanzen.

10Fast alle InterviewpartnerInnen weisen darauf hin, dass sich gentechnisch erzeugte Artefakte auf natürliche Art und Weise vermehren: „Das ist ja der große Unterschied bei Gentechnik, dass eben Pflanzen produziert werden, die sich selber auch wieder weiter vermehren können.“ (Int2) Was hier zur Sprache kommt, ist die Möglichkeit der (unbeabsichtigten) Auskreuzung gentechnisch veränderter Pflanzen. Diese Auskreuzungsproblematik stellt Latours Vorstellung der modernen Gegenüberstellung von passiver Natur auf der einen und aktiver, handelnder Gesellschaft auf der anderen Seite infrage:

„Durch die Auskreuzung wird der Natur und der Technik ein Eigenpotential – Aktivität – zugeschrieben, die sie, nach der modernen Verfassung, eigentlich nicht haben dürften. Damit verdeutlicht das Phänomen der Auskreuzung das Verhältnis von Technik und Natur und für kritische Positionen die Besonderheit und Neuheit der Gentechnik als eine Technik, die sich verselbstständigen kann.“ (Peuker, 2010: 216)

11Die Natur ist also in erster Linie dynamisch; für die GentechnikkritikerInnen ist es „einfach klar, dass die Natur nicht beherrschbar ist“ und dass sich ins Freiland ausgebrachte Transgene durch Insekten und Schmetterlinge „in Windeseile über die ganze Welt“ verbreiten (Int6). Natur wird in erster Linie als „Leben, das sich selber weiter entwickelt“, konzeptionalisiert (Int5), wobei diese Entwicklungen und Veränderungen vom Menschen nicht vorhergesagt und nicht – oder nur sehr begrenzt – gesteuert werden können. An dieser Stelle weichen die Aussagen der InterviewpartnerInnen also von der Latour’schen modernen Sicht ab: Natur erscheint als nicht nur passiv, Gesellschaft als nicht nur aktiv.

12Dass die Grenzen zwischen aktiv und passiv quer zur Natur-Gesellschafts-Dichotomie verlaufen, veranschaulicht auch die Aussage einer Interviewpartnerin, derzufolge sie „Mitverantwortung“ für diejenigen „Menschen und Tiere und Pflanzen“ übernehmen müsse, „die sich nicht selber wehren können“ (Int5), etwa gegen Eingriffe der gentechnischen Veränderung. Der Kreis der Schutzbedürftigen wird hier also nicht nur auf Pflanzen und Tiere beschränkt (dies entspräche der modernen Dichotomie), auch Menschen werden in diesen Kreis mit einbezogen. Es ist also nicht „der“ Mensch, der handelt und aktiv ist; vielmehr gibt es bestimmte Menschen, die über Handlungsmacht verfügen, und andere, die diesen Handlungen eher wehrlos gegenüberstehen. Die Kritik an der Agrogentechnik ist hier direkt verbunden mit einem Verweis auf gesellschaftliche Machtverhältnisse – ein Aspekt, der in Latours Überlegungen vernachlässigt wird: Die Frage, wie ein gleichberechtigter Einbezug aller Akteure stattfinden kann, ohne gesellschaftliche Ungleichheiten zu reproduzieren, stellt sich für ihn kaum. Dieser Punkt soll am Ende dieses Artikels nochmals aufgegriffen werden, da er auf die blinden Flecken verweist, die Latours Thesen in Bezug auf gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse beinhalten.

13GentechnikkritikerInnen sind sich darin einig, dass gentechnisch veränderte Pflanzen nicht zum Bereich der Natur gehören. Schwierigkeiten tauchen jedoch auf bei der Frage, welcher Seite der Natur-Gesellschafts-Dichotomie konventionell gezüchtete Pflanzen zuzurechnen seien:

„Also wenn […] gentechnisch veränderte Pflanzen auskreuzen und irgendwo an den Feldreihen stehen, ist das dann Natur oder nicht. […] Ich glaube, ich würde sagen, es ist auch Leben, aber es ist nicht Natur. Wobei natürlich auch […] eine nicht gentechnisch veränderte Weizenpflanze nicht Natur ist, weil sie auch schon seit Jahrhunderten weiter gezüchtet wurde. Aber ich glaube, ich bin da schon relativ eng mit dem Naturbegriff, dass es das ist, was natürlich vorhanden ist, wenn man das so sagen kann. Unverändert.“ (Int5)

14Die Interviewte thematisiert hier den schwierigen „Akt der Deutung“, den die KritikerInnen zwar vollziehen, den sie jedoch gleichzeitig „(auch sich selbst gegenüber) unsichtbar machen“ müssen (Gill, 2003: 261): Einerseits stoßen sie an verschiedenen Punkten ihrer Argumentation auf die Schwierigkeit, eine klare Grenze zwischen Natur und Gesellschaft zu ziehen und hierbei die Gentechnik klar der einen oder anderen Seite zuzuordnen. Andererseits muss eine Grenze aufrecht erhalten werden, um einen Maßstab der Kritik zur Verfügung zu haben, beispielsweise durch Rückgriff auf moralische Begründungen: „Ich finde, das ist ein Schritt zu weit, an Gentechnik zu forschen, im Erbgut herumzupfuschen, sich im übertragenen Sinne zu Gott zu machen […]. Da ist irgendwo ein moralischer Punkt, wo ich finde, nein, bis hierher und nicht weiter.“ (Int6) Einen Ausweg aus diesem Dilemma, in dem eine Grenzziehung a priori nicht mehr notwendig scheint, in dem die Grenze selbst zum Gegenstand politischer Aushandlungen wird, bietet die Sichtweise der nichtmodernen Verfassung.

  1. Jenseits des Natur-Gesellschafts-Dualismus?

15„Die Tomaten, die auf Steinwolle wachsen […], die jeden Tropfen Wasser und Dünger abgezählt zugefügt bekommen, die […] haben null Möglichkeit ein eigenständiges Leben zu führen […]. Das sind einfach Maschinen, die Tomaten produzieren. Geht das zu weit? Da ist jetzt die Diskussion offen, wie steht’s mit Monokulturen-Risiken, ob jetzt manipuliert oder nicht? Nimmt man da nicht den Pflanzen die Fähigkeit weg, sich zu wehren oder zu kommunizieren? Andererseits hat mir ein Bauer gesagt: […] ‚Ich sehe auf dem Nachbarfeld bei einem konventionellen Bauern den Mais, den er erntet, das sind so grüne knackige Kolben, wunderbar gesund sehen die aus, wie kann ich sagen, dieser Mais ist krank, das kann ich ja gar nicht. Der wurde gedüngt und gespritzt und alles, sieht prächtig aus.’ Das sind enorm schwierige Diskussionen, aber einfach die mal ins Publikum zu setzen und anzufangen.“ (Int4)

16Aus dieser Sicht werden Pflanzen erst durch den menschlichen Eingriff und die Kontrolle durch den Menschen zu wehrlosen, leblosen Objekten gemacht. Wird auf diesen Eingriff verzichtet, sind sie „eigenständige“ Lebewesen, die mit ihrer Fähigkeit zur Kommunikation über einen gewissen Handlungsspielraum verfügen; die Natur ist also in der Lage, sich gegen unerwünschte Änderungen und Eingriffe zur Wehr zu setzen, in gewissem Sinne also zu handeln. Diese Fähigkeit ist jedoch durch die menschliche Kontrolle bedroht. Gleichzeitig thematisiert die Kritikerin die Frage, ab welchem Punkt menschliche Eingriffe „zu weit“ gehen und die Eigenaktivität der Pflanzen in unzulässigem Maße eingeschränkt werde. Dabei kommt sie nicht zu dem Ergebnis, dass es eine absolute Grenze gebe – dies entspräche einer modernen Sichtweise –; vielmehr müsse diese Grenze des Eingriffs offen ausdiskutiert werden. Im Unterschied zu anderen kritischen Positionen sieht die Interviewpartnerin die Gentechnik also nicht grundsätzlich als einen unzulässigen Eingriff in das Leben und die Handlungsfähigkeit der Pflanzen an, sondern lehnt die Agrogentechnik und andere Eingriffe vielmehr dann ab, wenn sie die Handlungsfähigkeit der Pflanzen unverhältnismäßig einschränkt. Menschliches Handeln muss also dafür Sorge tragen, dass nicht nur menschliche Interessen verfolgt werden, sondern dass auch die Interessen und Rechte nicht-menschlicher Wesen berücksichtigt werden. Diese Argumentation steht im Einklang mit einer zentralen Forderungen Latours: Das Kollektiv muss erweitert werden; welche Wesen an Entscheidungen teilhaben dürfen und wessen Interessen berücksichtigt werden, das steht dabei nicht von vornherein fest, sondern ist das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses. Interessant ist hier die Betonung der Wichtigkeit von (offener) Diskussion: Mit ihrer Kritik will die Interviewpartnerin vor allem eine öffentliche Debatte anregen. Dies entspricht durchaus dem Bild einer Wissenschaftlerin, das Latour in seinem Buch Das Parlament der Dinge zeichnet: Wissenschaften sollen nicht die Natur „entdecken“ und sie mit Hilfe endgültiger (Tatsachen-)Aussagen repräsentieren, sondern dafür sorgen, dass permanent neue Verwicklungen in Form unklarer Zusammenhänge aufgedeckt und in die öffentliche Diskussion gebracht werden.

Nichtmoderne Elemente in der Gentechnikkritik und gesellschaftstheoretische Blindstellen in Latours Thesen

17Inwiefern liegt der hier dargestellten Kritik an der Agrogentechnik eine nichtmoderne Konzeptionalisierung des Natur-Gesellschafts-Verhältnisses im Sinne Latours zugrunde? Natur und Gesellschaft werden von den KritikerInnen durchaus als voneinander getrennte Bereiche angesehen. Zwar spielt die Natur in der Gesamtheit der Interviews eine untergeordnete Rolle; doch wenn die KritikerInnen explizit auf Natur oder Naturschutz angesprochen werden, treffen sie eine klare Unterscheidung zwischen „Natur“ (Artenvielfalt, ökologische Landwirtschaft etc.) und „Gesellschaft“ (Städte, Gentechnik etc.). Diese Unterscheidung wird häufig mit einer positiven Konnotation der Natur verbunden sowie teilweise mit der Forderung, dass diese von den schädlichen Einflüssen der Gesellschaft verschont werden müsse. Allerdings liefern die Interviewaussagen auch zahlreiche Hinweise dafür, dass die von Latour konstatierte Diskrepanz zwischen der Theorie und Praxis der politischen Ökologie tatsächlich aufzufinden ist: Denn bewusst oder unbewusst, implizit oder explizit werden mit der Kritik an der Gentechnik vor allem soziale Belange zum Ausdruck gebracht, und wenn die KritikerInnen über die Gentechnik sprechen, sprechen sie ebenso sehr von einer bestimmten Art und Weise der Landschaftsgestaltung oder der Nutzung natürlicher Ressourcen. Ein im Latour’schen Sinne moderner Rückgriff auf die Natur – mit dem Ziel, absolute und nicht mehr hinterfragbare Fakten zu präsentieren – findet auf einer sprachlichen Ebene zwar statt. Die KritikerInnen beziehen sich jedoch vor allem deshalb auf Natur, um Forderungen für die Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen. Die von mir interviewten GentechnikkritikerInnen verfolgen somit keine konsequent moderne oder konsequent nichtmoderne Argumentation, sondern mischen beide Konzeptionen.

18Bezüglich der von Latour konstatierten Zweiteilung der modernen Welt erscheinen zwei Aspekte interessant: Erstens wird der Natur keineswegs nur eine passive Rolle zugeschrieben, sondern sie wird als aktiv und handelnd dargestellt; gleichzeitig werden Menschen teilweise als passiv und ihrer Handlungsfähigkeit beraubt konzipiert. Die Unterscheidung zwischen passiver Natur als Objekt und aktiver, an der Politik teilhabender Menschen wird von den InterviewpartnerInnen also teilweise durchbrochen. Zweitens wird Natur nur teilweise als ein von der Gesellschaft klar abgrenzbarer Bereich angesehen: Mehrere InterviewpartnerInnen äußern – nicht zuletzt angesichts der Problematik, transgene Pflanzen dem einen der beiden Bereiche zuzuordnen – ihre Unsicherheit, eine solche Grenze festlegen zu können. Insbesondere Interviewpartnerin 4 weist deutlich auf die Kontingenz beziehungsweise historische Veränderbarkeit dieser Grenze hin. Durch ihre offene Thematisierung dieser Grenzziehung wird deutlich, dass die Rede von Natur beziehungsweise von Pflanzen untrennbar mit der Thematisierung von Wissenschaft und Politik (im Sinne politischer Aushandlungsprozesse) verbunden ist. Die Kritik an der Agrogentechnik verfügt also durchaus über das Potential, an Latours Thesen anzuschließen und eine grundlegende Kritik an der modernen Zweiteilung der Welt zu entwickeln: Ist zum einen die Vorstellung einer Natur-Gesellschafts-Dichotomie in den Aussagen der befragten KritikerInnen sehr präsent, lassen sich zum anderen auch Elemente eines nichtmodernen Verständnisses im Sinne Latours erkennen. Eine grundlegende Umarbeitung von Begrifflichkeiten wie „Natur“, „Politik“ und „Wissenschaft“, wie sie Latour (2001) fordert, ist jedoch nicht zu erkennen. Diese Reflexion müssten die KritikerInnen noch leisten, um Latours Vorstellungen einer neuen politischen Ökologie zu entsprechen.

19In den bisherigen Abschnitten wurde die Gentechnikkritik aus den Augen Latours analysiert. Zum Schluss des Beitrag soll diese Sichtweise noch umgekehrt werden und Latours Thesen aus den Augen der GentechnikkritikerInnen betrachtet werden. Die Fragestellung „Wie (nicht)modern ist die Gentechnikkritik?“ wird somit noch ergänzt durch die (normative) Frage „Wie (nicht)modern kann und soll die Gentechnikkritik sein?“.

20Wie hier erläutert, geht es den KritikerInnen der Agrogentechnik häufig weniger um den Schutz der äußeren Natur als um die Thematisierung gesellschaftlicher Ungleichheiten und Machtverhältnisse. An diesem Punkt kann Latour – der ursprünglich aus der Technik- und Wissenschaftsforschung kam, bevor er den Schwenk zur Gesellschaftstheorie vollführte – jedoch wenig Hilfestellung bieten: Sein Erkenntnisinteresse liegt damals wie heute in der akribischen Beschreibung von Situationen, in denen menschliche und nicht-menschliche Akteure auf einer mikrosoziologischen Ebene zusammen agieren. Vorgänge im Labor und das direkte Zusammenspiel von ForscherInnen, Molekülen, Genen etc. können auf diese Weise gut untersucht werden. Die „Verallgemeinerung der Laborsituation“ (Lau und Keller, 2001: 91) auf makrosoziologische Fragestellungen hat jedoch zur Folge, dass gesellschaftliche Phänomene wie Herrschafts- und Machtverhältnisse nicht ausreichend berücksichtigt werden. In dem von Latour beschriebenen Parlament der Dinge sind Gentechnik-Firmen, Maispflanzen, Kleinbauern, Pflanzenschädlinge und ForscherInnen durch ihre jeweiligen SprecherInnen zwar gleichermaßen vertreten, die „generelle Allinklusion“ (Lindemann, 2008: 354) ist zunächst durchaus gegeben. Wie soll jedoch gewährleistet werden, dass sich so unterschiedliche Akteure auf der gleichen hierarchischen Ebene begegnen (können)? Wie werden die ganz unterschiedlichen Ausgangsbedingungen in Bezug auf materielle Ressourcen oder auf soziales und kulturelles Kapital ausgeglichen, und wie kann garantiert werden, dass sie über denselben Zugang zu Entscheidungspositionen verfügen und die Entscheidungsfindung somit in gleichem Maße beeinflussen können? Diese Fragen sind von großer Bedeutung für die GentechnikkritikerInnen; bei Latour werden sie jedoch eher keine zufriedenstellenden Antworten finden. Der Mehrwert seiner Thesen für die GentechnikkritikerInnen liegt somit in einer (Selbst-)Reflexion des zugrunde liegenden Natur-Gesellschafts-Verhältnisses. Für die Kritik an ungleichen Voraussetzungen gesellschaftlicher Akteure, an politischen Entscheidungen zu partizipieren, wäre eine Ergänzung der Latour’schen Thesen durch andere theoretische Ansätze notwendig.

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Bibliographie

Gill, Bernhard (2003): Streitfall Natur. Weltbilder in Technik- und Umweltkonflikten. Wiesbaden (Westdeutscher Verlag).

Gill, Bernhard (2008): Kampagnen gegen Bio- und Gentechnik, in: Roth, Roland und Dieter Rucht (Hg.): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch. Frankurt/Main (Campus), S. 613–631.

Glaser, Barney G. und Anselm L. Strauss (1967): The Discovery of Grounded Theory. Strategies for qualitative research. Chicago (Aldine).

Latour, Bruno (2001): Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie. Frankfurt/Main (Suhrkamp).

Latour, Bruno (2008): Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt/Main (Suhrkamp).

Lau, Christoph und Reiner Keller (2001): Zur Politisierung gesellschaftlicher Naturabgrenzungen, in: Beck, Ulrich und Wolfgang Bonß (Hg.): Die Modernisierung der Moderne. Frankfurt/Main (Suhrkamp), S. 82-95.

Lindemann, Gesa (2008): „Allons enfants et faits de la patrie...“. Über Latours Sozial- und Gesellschaftstheorie sowie seinen Beitrag zur Rettung der Welt, in: Georg Kneer, Markus Schroer und Erhard Schüttpelz (Hg.): Bruno Latours Kollektive: Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen. Frankfurt/Main (Suhrkamp), S. 339-360.

Merkens, Hans (2008): Auswahlverfahren, Sampling, Fallkonstruktion, in: Uwe Flick, Ernst von Kardoff und Ines Steinke (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek bei Hamburg (Rowohlt), S. 286-299.

Peuker, Birgit (2010): Der Streit um die Agrar-Gentechnik. Perspektiven der Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld (transcript).

Wehling, Peter, Willy Viehöver und Reiner Keller (2005): Wo endet die Natur, wo beginnt die Gesellschaft? Doping, Genfood, Klimawandel und Lebensbeginn: die Entstehung kosmopolitischer Hybride, in: Soziale Welt. Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis, 56.2, S. 137-158.

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Notes

1 Frz. Nous n'avons jamais été modernes (1991).

2 Frz. Politiques de la nature. Comment faire entrer les sciences en démocratie (1999).

3 Gill (2008) weist darauf hin, dass es sich bei der Opposition gegen die Agrogentechnik nicht um eine einheitliche Bewegung mit geteilten ideologischen Grundsätzen und klaren Zielsetzungen handelt, stattdessen hebt er die „Heterogenität der Widerstände“ hervor. Insofern der Begriff „gentechnikkritische Bewegung“ an dieser Stelle dennoch verwendet wird, ist die Selbstwahrnehmung einer solchen Bewegung vonseiten der KritikerInnen gemeint.

4 „Naturkonflikte als Ausdruck einerNichtmoderne’? Zum Verhältnis zwischen Wissenschaft, Natur und Politik in der Kritik an der Agro-Gentechnik, unveröffentlichte Magisterarbeit im Fach Soziologie, eingereicht an der Philipps-Universität Marburg, 2010.

5 Charakterisierung der InterviewpartnerInnen: Umweltwissenschaftlerin und Angestellte einer bäuerlichen Interessenvertretung (Int1); Lehrer, Imker und kritischer Konsument (Int2); Agrarwissenschaftler und Landwirt (Int3); Biologin und Chemikerin, die Alternativen zum gegenwärtig in der Wissenschaft vorherrschenden mechanistischen Verständnis von Pflanzen sucht (Int4); Geisteswissenschaftlerin und Aktivistin (Int5); Öko-Gemüsegärtner und Aktivist (Int6); Naturschützer und Wanderführer (Int7).

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Pour citer cet article

Référence électronique

Anne Bundschuh, « Wie (nicht)modern ist die Kritik an der Agrogentechnik?  »Trajectoires [En ligne], 6 | 2012, mis en ligne le 14 décembre 2012, consulté le 23 janvier 2025. URL : http://0-journals-openedition-org.catalogue.libraries.london.ac.uk/trajectoires/985 ; DOI : https://0-doi-org.catalogue.libraries.london.ac.uk/10.4000/trajectoires.985

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Auteur

Anne Bundschuh

Soziologin (M.A.), Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF) in Müncheberg, Institut für Sozioökonomie, anne.bundschuh@web.de

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Droits d’auteur

CC-BY-NC-SA-4.0

Le texte seul est utilisable sous licence CC BY-NC-SA 4.0. Les autres éléments (illustrations, fichiers annexes importés) sont « Tous droits réservés », sauf mention contraire.

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