1In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts druckte Nicolas II Oudot in Troyes in mehreren Auflagen eine französische Bearbeitung des Eulenspiegels, die der Bibliothèque bleue, einer durch Hausierer vertriebenen Buchreihe, zugerechnet werden. Die Herkunft des Bildmaterials für diese Bücher ist größtenteils nicht geklärt, nur ein Holzschnitt konnte bisher durch Walter Splittgerber als eine Illustration aus einer französischen Äsop-Edition identifiziert werden. Der Beitrag stützt sich auf der Entdeckung, dass neben jener Druckgrafik noch zwei weitere Bilder auf den Äsop zurückzuführen sind. Im Folgenden soll neben der ikonografischen Zuordnung die Frage diskutiert werden, inwiefern der Bildtransfer auf die wirtschaftlichen Umstände des Druckunternehmens von Nicolas II Oudot zurückgeführt werden kann und ob nicht auch eine Programmatik dahinterstehen könnte. Dafür soll ebenfalls untersucht werden, inwiefern zeitgenössische Leser:innen die textuellen Bezüge erkennen konnten und ob es ihnen möglich war, die Darstellung dem Äsop zuzuordnen. In einem letzten Schritt werden mögliche Parallelen zwischen den beiden Texten aufgezeigt.
- 1 Die drei Ausgaben sind La vie de Tiel Ulespiegle, de ses faicts merveilleux et finesses par luy fai (...)
2Obwohl mindestens drei Auflagen aus dieser Zeit bekannt sind, haben sich von den Eulenspiegel-Editionen Oudots lediglich vier Exemplare erhalten: Eine erste aus dem Jahr 1655, heute aufbewahrt in der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt in Halle, eine zweite mit der Datierung 1677, die sich in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek in Göttingen befindet und zwei weitere ohne Jahresangabe aus der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel und der British Library, bei denen es sich jedoch um identische Ausgaben handelt1. Im Gegensatz zu den frühen Ausgaben des Eulenspiegels, die reich mit Illustrationen verziert waren, sind diese Bearbeitungen jedoch kaum bebildert. Neben den Titelholzschnitten findet sich in den Ausgaben jeweils nur eine weitere Druckgrafik, sowie zusätzlich die Darstellung eines Gelehrten im Prolog der Ausgabe von 1655.
- 2 Ein Exemplar wird u.a. in Det Kongelige Bibliotek in Kopenhagen aufbewahrt (Ulenspieghel. Van Ulens (...)
3Als einziges Bild zeigt das Titelbild der Ausgabe von 1677 eine Szene aus dem Eulenspiegel, das auf einen Holzschnitt der ersten überlieferten Antwerpener Eulenspiegel-Ausgabe zurückgeht (Abb. 1)2.
Abbildung 1: Till und der Reiter (Titelholzschnitt), aus: La Vie de Tiel Vlespiegle. De ces faits merveilleux, des grandes fortunes qu’il a euës lequel par aucunes fallaces ne se laissa surprendre n’y tromper, Troyes, 1677, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek, Göttingen, Signatur: 8 FAB VI, 1245, Public Domain Mark 1.0 (PDM), <http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN1012128687>
4Die anderen Illustrationen zeigen Darstellungen, die auf dem ersten Blick nicht in Verbindung mit dem Text stehen. So wurde als Titelbild der Ausgabe von 1655 und der undatierten Ausgabe das Bild eines Esels gewählt, der sich mit seinen Vorderbeinen auf einem sitzenden Mann mit Schoßhund abstützt, während ein weiterer Mann eine Keule zum Schlag gegen den Esel erhebt (Abb. 2 und 3).
Abbildung 2: Der Esel und das Hündchen (Titelholzschnitt), aus: La vie de Tiel Ulespiegle, de ses faicts merveilleux et finesses par luy faictes, & des grandes fortunes qu’il a euës, lequel par nulles fallaces ne se laissa tromper, Troyes, 1655. © Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Halle, Signatur: Pon IId 1060, <https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:gbv:3:3-54633-p0005-7>
Abbildung 3: Der Esel und das Hündchen (Titelholzschnitt), aus: La Vie de Tiel Vlespiegle de ses faicts et merveilles, & des grandes fortunes qu’il a euë, lequel par nulles fallaces ne se laissa tromper, Troyes, s.d., Herzog-August-Bibliothek, Wolfenbüttel, Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenz (CC BY-SA), © Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Signatur: A: 536.8 Quod. (1), <http://diglib.hab.de/drucke/536-8-quod-1s/start.htm >
5Im Eulenspiegel aus dem Jahr 1677 wird in einer Illustration zu der 9. Historie eine Szene mit sechs Männern im Gespräch gezeigt, von denen einer auffällig klein und mit einem besonders großen Kopf dargestellt wird (Abb. 4).
Abbildung 4: Äsop wird auf dem Sklavenmarkt verkauft, aus: La Vie de Tiel Vlespiegle. De ces faits merveilleux, des grandes fortunes qu’il a euës lequel par aucunes fallaces ne se laissa surprendre n’y tromper, Troyes, 1677, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek, Göttingen, Signatur: 8 FAB VI, 1245, Public Domain Mark 1.0 (PDM), <http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN1012128687>
6Die gleiche Geschichte wird auch in der undatierten Ausgabe bebildert, in diesem Fall findet sich jedoch ein sitzender Bischof im Ornat neben einem Mönch (Abb. 5).
Abbildung 5: Äsop wird auf dem Sklavenmarkt verkauft, aus: La Vie de Tiel Vlespiegle de ses faicts et merveilles, & des grandes fortunes qu’il a euë, lequel par nulles fallaces ne se laissa tromper, Troyes, s.d., Herzog-August-Bibliothek, Wolfenbüttel, Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenz (CC BY-SA), © Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Signatur: A: 536.8 Quod. (1), < http://diglib.hab.de/drucke/536-8-quod-1s/start.htm >
7Eine letzte Illustration der Ausgabe von 1655 zeigt eine zum Betrachter hin geöffnete Hütte mit einem bettlägerigen Mann, an dessen Seite eine weitere Figur steht (Abb. 6).
Abbildung 6: Der bettlägerige Mann, aus: La vie de Tiel Ulespiegle, de ses faicts merveilleux et finesses par luy faictes, & des grandes fortunes qu’il a euës, lequel par nulles fallaces ne se laissa tromper, Troyes, 1655. © Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Halle, Signatur: Pon IId 1060, <https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:gbv:3:3-54633-p0005-7>
8Die Holzschnitte sind in ihrer Ausführung grob und können stilistisch in die Zeit um 1500 eingeordnet werden. Sie weisen außerdem Fehlstellen im Druckstock auf und zeigen deutliche Abnutzungserscheinungen, sodass es unwahrscheinlich ist, dass sie eigens für die drei Eulenspiegel-Ausgaben angefertigt wurden. Vielmehr kann die Vermutung aufgestellt werden, dass es sich um wiederverwendetes Bildmaterial handelt, wie es für die Bücher der Bibliothèque bleue üblich war.
- 3 Ein Exemplar wird u. a. in der Münchener Staatsbibliothek aufbewahrt (Esopet en françoys. Avec les (...)
- 4 Dieses Werk findet sich u.a. in der Bibliothèque nationale in Paris (Esopet en françoys. Avec les F (...)
9Für das Titelbild mit dem Esel und dem Mann konnte wie oben erwähnt Splittgerber den Ursprung in dem 1516 von Alain Lotrian in Paris gedruckten Esopet en françoys. Avec les fables de Avien de Alphonte et de Poge Florentin3, aufbewahrt in der Bayrischen Staatsbibliothek in München, erkennen (Splittgerber 1918: 29), die anderen Holzschnitte wurden bislang nicht identifiziert. Jedoch können auch zwei weitere dieser Bilder auf Bearbeitungen des Äsop zurückgeführt werden: Dasjenige aus der Edition von 1677 zeigt den Verkauf Äsops auf dem Sklavenmarkt und lässt sich entweder auf ebenjenes Werk Lotrians zurückführen oder auf die zwischen 1515 und 1519 von der Witwe Jehan Trepperels und Jehan Jehannot herausgegebene Äsop-Ausgabe (Abb. 7)4.
Abb. 7: Äsop auf dem Sklavenmarkt, aus: Esopet en françoys. Avec les Fables de Avian delphonce. Et de poge florentin, Paris, 1515-1519, Bibliothèque nationale de France, Paris, Rés. p-Ye-136, Source gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France < https://0-gallica-bnf-fr.catalogue.libraries.london.ac.uk/ark:/12148/bpt6k704475/f10.item.r=Esopet%20en%20fran%C3%A7oys.zoom>
- 5 Ein Exemplar wird u. a. in der Münchener Staatsbibliothek aufbewahrt (Steinhöwel, Heinrich: Fabulae (...)
10Der Holzschnitt mit den beiden Geistlichen verbildlicht die Fabel um den Pfarrer, seinen Hund und den Bischof aus dem „Collecte“-Anhang des Petrus Alfonsi. Die direkte Herkunft konnte nicht bestimmt werden, obwohl die große Ähnlichkeit in der Bildkomposition mit einem Holzschnitt in Heinrich Steinhöwels 1476/1477 und bei Johann Zainer in Ulm erschienenen Äsop-Roman vermuten lässt, dass sich in diesem Druck das Vorbild findet5. Der letzte Holzschnitt, der den bettlägerigen Mann zeigt, konnte nicht identifiziert werden.
11Die Erkenntnis, dass es sich bei drei der fünf Holzschnitte um Darstellungen aus dem Äsop handelt, führt zu der Frage, warum ausgerechnet dieses Bildmaterial für den Eulenspiegel von Nicolas II Oudot ausgewählt wurde. Möglich wäre, dass die Auswahl zufällig erfolgte und nur dem Lagerbestand an Druckstocken geschuldet war. Einer solchen planlosen Verwendung von Bildern widerspricht jedoch Roger Chartier. Für Bücher mit nur einem einzigen Bild im Text stellt er fest, dass das Bild, wenn es zu Beginn des Textes steht, als ein Schlüssel zur Lektüre des gesamten Textes dient und es, wenn es sich am Schluss befindet, die Moral herausstellt oder als Gedächtnisstütze nach der Lektüre fungiert (Chartier, 1984: 260).
12Von Nicolas I Oudot zu Beginn des 17. Jahrhunderts erschaffen und an sich nur eine lose Buchreihe, wurden die Bücher der Bibliothèque bleue hauptsächlich mithilfe von Hausierern in Frankreich verteilt. Der Name lässt sich vermutlich von den blauen Umschlägen ableiten, wenn auch der Ursprung nicht abschließend geklärt ist (Marais, 1980: 68). Durch eine gewisse Heterogenität, wegen der man auch von Bibliothèques bleues sprechen könnte, lässt sich die Bibliothèque bleue in ihren Eigenschaften nur schwer greifen (Leclerc, Robert, 2017: 7). So wurden Romane, Almanache, Kochbücher, Heiligenviten und vieles mehr vertrieben, die oftmals auf schlechtem Papier mit alten Lettern wenig sorgfältig gedruckt wurden (Mandrou, 1964: 18). Durch diese Maßnahmen waren sie günstig und konnten in hohen Auflagen verkauft werden. Die Bücher verfügen allgemein über wenig Illustrationen und die Holzschnitte stammten meist aus alten Werken, deren Bildmaterial aufgekauft und wiederverwendet wurden. Druckstöcke aus dem ausgehenden 15. Jahrhundert bis zum Ende des 16. Jahrhunderts waren durch ihre Gestaltungsprinzipien, bei denen mit geraden Linien und klarer Bildsprache gearbeitet wurde, robuster als zeitgenössische und somit kostengünstig (Bouquin, 1999: 143).
13Wenn also die massive Produktion von Büchern im Vordergrund des Unternehmens von Nicolas II Oudot stand, erscheint es durchaus wahrscheinlich, dass man sich bei der Auswahl der Illustrationen nur wenig Gedanken machte oder es sogar, wie es Robert Mandrou allgemein vom Bildmaterial der Bibliothèque bleue annimmt, keine Verbindung zwischen Text und Bild gibt (Mandrou, 1964: 18). Die Forschungen von Marie-Dominique Leclerc zu der Verwendung von Holzschnitten aus dem Äsop in den Ritterromanen der Bibliothèque bleue zeigen beispielsweise, dass sie oftmals nur in einer sehr losen Verbindung stehen, zum Beispiel, weil eine Jagdszene mit zu dieser Thematik passendem Bildmaterial geschmückt wird (Leclerc, 1999: 121). Dies ließe sich auch auf die Eulenspiegel-Bearbeitung Oudots übertragen: Der Holzschnitt mit dem Bischof und dem Mönch könnte durch die Assoziation mit den abgebildeten Geistlichen und Eulenspiegel, der sich als Priester ausgibt, gewählt worden sein. Auch der Druck mit dem bettlägerigen Mann passt thematisch, da Eulenspiegel in der Historie krank ist.
- 6 Die früheste bis heute überlieferte Äsop-Ausgabe wurde erst 1714 von der Witwe Jacques Oudots gedru (...)
14Folgt man der These Roger Chartiers, dass die fremden Holzschnitte mit Bedacht in die Bücher der Bibliothèque bleue eingefügt wurden, stellt sich zunächst die Frage, ob die Leser:innen der Eulenspiegel-Bearbeitungen Oudots auch Zugang zum Äsop hatten. Tatsächlich gab es zahlreiche Ausgaben auf Französisch und Latein, die vor allem Verwendung in der Schule fanden und zur intellektuellen Grundbildung gehörten, wie es Parussa konstatiert (Parussa, 1993: 16). Zudem wurde laut Inventarlisten der Äsop im 17. Jahrhundert in Troyes gedruckt, so bei Blaise Boutard, Jean Oudot dem Jüngeren und Yves Girardon (Leclerc, 2000: 126), sodass im Rahmen der in der Bibliothèque bleue angebotenen Bücher die Möglichkeit bestand, das Werk zu konsultieren. Diese Ausgaben sind jedoch verloren gegangen, sodass nicht festgestellt werden kann, inwiefern sie mit Illustrationen versehen waren und welcher ikonografischen Tradition sie angehörten6.
15Ähnlichkeiten zwischen dem Äsop und dem Eulenspiegel waren zudem bereits seit langer Zeit bekannt. Bereits 1522 verknüpfte Johannes Pauli in Schimpf und Ernst beide Werke miteinander (Schulz-Grobert, 1999: 102). Eine Kombination von Bildern aus dem Äsop mit dem Text des Eulenspiegels ist also keineswegs als eine Innovation zu betrachten, sondern kann als eine Fortführung der Tradition gewertet werden, den Äsop mit dem Eulenspiegel zu verbinden.
16Neben dem textuellen Zugang zum Äsop stellt sich jedoch auch im Hinblick auf das Bildmaterial die Frage, ob die Referenz erkennbar war, schließlich wird dem Holzschnitt kein Verweis auf den Äsop und auch kein erklärender Titel beigeordnet. Obwohl die Fähigkeit in der Frühen Neuzeit Bild-Text-Kombinationen zu lesen, in der Forschung allgemein angenommen wird (Puff, 2014: 329), stellt sich die Frage, ob eine Darstellung im Bildgedächtnis der Betrachter:innen verankert und somit identifizierbar ist, zum Beispiel indem das Bild ohne größere Veränderungen immer wieder kopiert wird.
- 7 Ein Exemplar findet sich u. a. in der Münchener Staatsbibliothek (Boner, Ulrich: Der Edelstein, Bam (...)
17Untersucht man den Holzschnitt mit dem Esel, kann festgestellt werden, dass er einer bestimmten Ikonografie folgt, die in ihren Grundzügen bereits in Ulrich Boners Der Edelstein angelegt ist (Abb. 8) (Hilpert, 1992: 136)7, und die in den Holzschnitten der Fabeln von Steinhöwel dann gefestigt wird (Abb. 9).
Abbildung 8: Der Esel und das Hündchen, aus: Boner, Ulrich: Der Edelstein, Bamberg, 1461, Herzog-August-Bibliothek, Wolfenbüttel, A: 16.1 Eth. 2° (1), Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenz (CC BY-SA), © Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Signatur: 16.1 Eth. 2° (1), <http://diglib.hab.de/inkunabeln/16-1-eth-2f-1s/start.htm>
Abbildung 9: Der Esel und das Hündchen: aus Fabulae, Sammlung des Heinrich Steinhöwel, Ulm, um 1476, Rar. 762, Attribution-NonCommercial-ShareAlike 4.0 International (CC BY-NC-SA 4.0), © München, Bayrische Staatsbibliothek, < https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb00024825?page=157>
- 8 Eine Ausgabe wird u.a. in der Bibliothèque nationale de France aufbewahrt (Corrozet, Gilles: Les Fa (...)
18Von diesem ausgehend, entstehen zwei Kompositionstraditionen der frühen illustrierten französischen Äsop-Bearbeitungen: Zum einen eine Wiederholung des Motivs des sitzenden Herrn mit dem Esel und dem Mann, der den Knüppel zum Schlag erhoben hat, so wie es auch im Eulenspiegel von 1655 aus Troyes zu finden ist, und zum anderen eine Variante, die das Motiv leicht abwandelt, indem nun zwei Männer den Esel prügeln. Die zweite Variante findet sich zuerst in der Äsop-Bearbeitung von Gilles Corrozet, die 1542 in Paris gedruckt wurde und die Fabeln in eine emblematische Form bringt (Abb. 10)8. Diese beiden Kompositionsschemata dominieren die späteren Fabelbücher bis ins 17. Jahrhundert.
Abb. 10: Der Esel und das Hündchen, aus: Corrozet, Gilles: Les Fables du très ancien Ésope phrigien. Premièrement escriptes en grec, & depuis mises en rithme françoise, Paris, 1542, Bibliothèque nationale de France, Paris, RESERVE 8-BL-16772, Source gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France < https://0-gallica-bnf-fr.catalogue.libraries.london.ac.uk/ark:/12148/bpt6k1510876j.r=Corrozet%2C%20Gilles%20Les%20Fables%20du%20tr%C3%A8s%20ancien%20%C3%89sope%20phrigien?rk=42918;4>
19Auch die beiden anderen Holzschnitte orientieren sich am Vorbild von Steinhöwels Äsop. Während die Illustration zu der Geschichte von Äsop auf dem Sklavenmarkt im Eulenspiegel im Vergleich zu Steinhöwels Inkunabel zwar deutlich grober und schematischer ausfällt und auch um eine Figur ärmer ist, bleibt die Komposition trotzdem der Vorlage verhaftet (Abb. 11).
Abbildung 11: Äsop auf dem Sklavenmarkt: aus Fabulae, Sammlung des Heinrich Steinhöwel, Ulm, um 1476, Rar. 762, Attribution-NonCommercial-ShareAlike 4.0 International (CC BY-NC-SA 4.0), © München, Bayrische Staatsbibliothek, <https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb00024825?page=64,65>
Abbildung 12: Der Pfaffe, sein Hund und der Bischof: aus Fabulae, Sammlung des Heinrich Steinhöwel, Ulm, um 1476, Rar. 762, Attribution-NonCommercial-ShareAlike 4.0 International (CC BY-NC-SA 4.0), © München, Bayrische Staatsbibliothek, < https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb00024825?page=543>
20Dass der Äsop Steinhöwels einen so deutlichen Einfluss auf spätere Illustrationen hatte und typbildend gewirkt hat, kann bedeuten, dass die Leser:innen die abgebildete Fabel erkennen und die Verbindung zum Äsop herstellen konnten. Dabei könnte eine Rolle spielen, dass im 17. Jahrhundert Rätsel beliebt waren, zum Beispiel in der Form von Emblemen, und dazu auch die Interpretation von Fabeln zählt (Parussa 1993: 15). Die Entschlüsselung von Text-Bild-Kombinationen zwischen dem Äsop und dem Eulenspiegel könnte also auch als eine Art intellektuelles Spiel für die gelehrten Leser:innen gedacht sein. Welche Deutungsmöglichkeiten ergeben sich daraus für die Äsop-Holzschnitte aus den Eulenspiegeln aus Troyes?
21Das Titelbild der Ausgabe von 1655 und der undatierten Ausgabe illustriert im Äsop die Fabel um den Esel und das Hündchen (Abb. 2 und 3). Ein Esel, der feststellt, dass das Hündchen seines Herrn Zuwendung erhält, während er selbst harte Arbeit verrichten muss, will das Verhalten des Hündchens nachahmen. Er versucht, seinen Herrn mit seinen Hufen zu streicheln, wodurch er ihn verletzt und letztlich Prügel erhält. Wenn man nun Chartiers These folgt, dass das Titelbild als Schlüssel zum Verständnis des restlichen Textes fungiert, stellt sich zunächst die Frage, wie die Fabel in der Frühen Neuzeit verstanden wurde.
- 9 Eine Ausgabe befindet sich in der Bibliothèque nationale de France (Heyns, Peter: Esbatiment moral, (...)
22In Peeter Heyns‘ 1578 erschienener Fabelsammlung Esbatiment moral, des animaux, in der die Lehren der Äsopischen Fabeln mit denen der Bibel verknüpft werden (Abb. 13)9, wird die Moral der Fabel um den Esel und das Hündchen als „Demourer en sa vocation“ angegeben.
Abb. 13: Der Esel und das Hündchen, aus: Heyns, Peter: Esbatiment moral, des animaux, Antwerpen, 1578, Bibliothèque nationale de France, Paris, Signatur: RES P-YE-550, Source gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France < https://0-gallica-bnf-fr.catalogue.libraries.london.ac.uk/ark:/12148/bpt6k10403521.r=peeter%20heyns?rk=21459;2>
- 10 Das Werk wird u.a. in der Bibliothèque municipale in Lyon aufbewahrt (Baudoin, Jean: Les Fables d'E (...)
23Ähnlich interpretiert auch Jean Baudoin die Fabel in seiner 1631 in mehrfacher Auflage und mit Illustrationen des Stechers Issac Briot und seiner Tochter Marie versehenen Ausgabe des Aesopus Dorpii (Amstutz, 2017: 88) (Abb. 14)10.
Abb. 14. Baudoin, Jean: Les Fables d'Esope Phrygien, traduction nouuelle illustrée de discours moraux, philosophiques et politiques par I. Baudoin, Rouen, 1665 [1631], Bibliothèque municipale, Lyon, Signatur: 396285, Domaine public, Licence Ouverte-Open Licence, Bibliothèque municipale de Lyon <https://numelyo.bm-lyon.fr/f_view/BML:BML_00GOO0100137001100444814>
24Jean Baudoin, der die Fabeln im Sinne der humanistischen Tradition auslegt (Spica, 2002, 418f.), schreibt in seinem Kommentar:
- 11 „Es ist eine überlieferte Wahrheit, dass wir seit unserer Geburt einen gewissen Instinkt besitzen, (...)
„C’est vne verité receuë que nous tenons de la naissance vn certain instinct, qui nous porte aux actions où nous sommes le plus propres, qui se fortifient par l’exercice, & par le raisonnement. Il est donc bon que nous suiuions cét instinct, si nous voulons reüssir en nos actions; comme au contraire, c‘est vne chose peu judicieuse de le forcer, & de s’appliquer à vne estude contraire à son Genie“11.
- 12 Die Assoziation von Esel und Narr zeigt sich auch in der klassischen Gestaltung der Narrenkappe, di (...)
- 13 „Wenn es keine Narren gäbe, wie könnte man die Weisen erkennen“ (Übers. d. Verf.).
- 14 „[...] weder aus Verachtung noch um Schalkhaftigkeit zu unterrichten“ (Übers. d. Verf.).
25Überträgt man die Moral auf den Eulenspiegel, könnte der Verweis auf die Fabel als Handlungsanweisung für die Leser:innen fungiert haben. Anstatt es Eulenspiegel in seinem devianten Treiben nachzutun, sollen sie ihrer eigenen Natur treu bleiben, denn auch wenn Eulenspiegel mit seinen Schelmereien Erfolg hat, ist dies durch seinen Charakter bedingt, und eine Nachahmung von Seiten der Leser:innen würde aufgrund der Verschiedenheit ihrer Natur zum Scheitern verurteilt sein. Zudem kann der Esel auch als Symbol für die Narrheit verstanden werden12, der durch sein Verhalten entlarvt wird. Darin ähnelt er in gewisser Hinsicht Eulenspiegel, dem ebenfalls die Züge eines Narren zugesprochen werden. Der Gegensatz zwischen dem Verrückten und dem Weisen wird durch eine Gegenüberstellung sichtbar gemacht. So steht auch am Ende der Episode, in der Eulenspiegel einen Doktor heilen soll, eine Erkenntnis, die durchaus bereits im Titelbild angedeutet wird: „s’il n’y avoit point de fols comment pourroit-on cognoistre les sages“ 13. Im Prolog der Ausgabe von 1655 wird dies noch verstärkt, indem – visuell unterstützt durch den Holzschnitt eines Gelehrten – explizit darauf hingewiesen wird, dass das Buch „non point pour mespris ny enseigner malice“14 veröffentlicht wurde.
26Im Holzschnitt zu der 9. Historie der undatierten Eulenspiegel-Ausgabe wird die Fabel illustriert, in der ein Pfarrer seinen geliebten Hund nach dessen Tod auf dem Kirchfriedhof beerdigt (Abb. 5). Von dem als geldgierig bekannten Bischof zur Rede gestellt, erklärt der Pfarrer, der Hund habe dem Bischof eine Geldsumme in seinem Testament hinterlassen. Um dieses finanziellen Vorteils willen erteilt der Bischof dem Pfarrer Absolution und der Hund darf im Friedhof begraben bleiben.
27Im Eulenspiegel befindet sich der Holzschnitt bei der Historie, in der Eulensiegel mit einem Priester die Wette eingeht, dass dieser es nicht wage, sein Geschäft in der Mitte der Kirche zu erledigen. Eulenspiegel gewinnt, indem er nachweist, dass der Kot des Priesters nicht exakt mittig liegt. Anschließend spielt er der Dienerin des Priesters, mit der er in der vorangegangenen Episode bereits im Zwist lag, einen Streich beim Osterspiel, bei dem sie den Engel und er mit zwei Bauern die drei Marien darstellt. Die Dienerin fragt, wen die drei suchten und einer der Bauern antwortet, instruiert von Eulenspiegel, sie suchten die Hure des Priesters. Daraufhin bricht ein Handgemenge zwischen der Dienerin, den Bauern und dem Priester aus, währenddessen Eulenspiegel heimlich verschwindet.
28Durch die Verwendung des Holzschnitts werden die Eulenspiegel-Episode und die Geschichte aus dem Äsop-Roman einander gegenübergestellt und ermöglichen es den Leser:innen, durch das Auffinden von Parallelen in der Geschichte neben der inhaltlichen auch die moralische Ebene der Geschichten zu vergleichen. Beide Geschichten legen dabei anstößiges und blasphemisches Verhalten des Klerus offen, auch wenn die Geschichten nicht zwingend moralisierend gemeint sind. Die Entweihung der Kirche durch den Pfarrer entspricht der Entweihung des Kirchhofs durch die Beerdigung des Hundes. Auch die Entweihungen von Riten können miteinander verglichen werden: Dem Prozess der unrechtmäßigen Bestattung wird die Störung des Osterspiels gegenübergestellt. Ebenso lassen sich im Verhalten des Klerus Parallelen aufdecken, so machen sich der Bischof in der Fabel und der Pfarrer im Eulenspiegel der Sünde der Gier, der avaritia, schuldig. Wo der Pfarrer durch eine Wette ein Fass Bier zu gewinnen sucht, ist es das Geld, das den Bischof lockt. Unterschiede gibt es jedoch im Hinblick auf den Ausgang der Geschichten. Bei Äsop kehrt durch die Bestechung Frieden ein, während im Eulenspiegel das Osterspiel in eine Schlägerei ausartet.
29Beide Episoden zeigen also das Verhalten des korrupten Klerus, das durch die Gegenüberstellung von den Leser:innen verglichen und bewertet werden kann. Die Moral der Fabel (durch Geld ist alles möglich) kann kritisch auf die Eulenspiegelepisode angewendet und sich vergegenwärtigt werden, welchen Schaden der Klerus anrichten kann, wenn er die ihm durch seine Religion und auch durch seine soziale Stellung auferlegten moralischen Grundsätze missachtet.
30Der letzte der drei Holzschnitte ist der gleichen Eulenspiegelgeschichte wie derjenige zu dem Bischof und dem Pfarrer beigeordnet, also der 9. Episode (Abb. 4). Er illustriert den Verkauf von Äsop auf den Sklavenmarkt, durch den er in die Dienste des Philosophen Xanthus eintritt. Im Gegensatz zu den beiden anderen Äsop-Illustrationen wird in diesem Fall nun keine Fabel verwendet, sondern eine Episode aus dem Leben Äsops, wodurch ein Vergleich der Lebensläufe Eulenspiegels und Äsops naheliegt. Tatsächlich stellt auch Jürgen Schulz-Grobert mehrere Parallelen zwischen dem Leben Äsops in der Ausgabe Steinhöwels und der Straßburger Eulenspiegel-Ausgabe von 1515 fest, so beispielsweise in der vollständigen Entwicklung des Lebenslaufs, im Wörtlichnehmen, im Verhältnis zu übergeordneten Personen und im Lösen von Rätselfragen (Schulz-Grobert, 1999: 103).
31Diese Ähnlichkeiten scheinen auch noch bei der Herausgabe der Eulenspiegel aus Troyes präsent gewesen zu sein, denn wenn auch der Holzschnitt mit der Fabel um den Bischof und den Pfarrer selbst keinen direkten Bezug zu der Eulenspiegelepisode aufweist, sind doch die dahinterstehenden Abschnitte im Leben Eulenspiegels und Äsops eng miteinander verknüpft. Die Illustration mit dem Verkauf Äsops an Xanthus kann dabei als Anhaltspunkt für die Leser:innen betrachtet werden, der die Episoden einläutet, in denen zahlreiche Parallelen zwischen dem Eulenspiegel und dem Äsop-Roman zu finden sind. So entstehen bereits kurz nach dem Erwerb von Äsop Unstimmigkeiten zwischen ihm und der Frau des Xanthus‘, die sich einen hübschen Sklaven als Liebhaber gewünscht und nun einen abstoßenden erhalten hatte. Ähnliche Zwistigkeiten entspannen sich in der Eulenspiegel-Ausgabe auch in der Geschichte, die der Illustration vorangeht und in der Eulenspiegel mit der einäugigen Dienerin des Priesters in Streit gerät, weil er eines der von ihr gebratenen Hühner verspeist hatte. Von ihr vor dem verbleibenden Huhn zu Rede gestellt, äußert er, sie möge ihr zweites Auge öffnen, dann würde sie das Fehlende sehen. Weil er daraufhin vom Priester ermahnt wird, rächt sich Eulenspiegel in der neunten Episode beim Osterspiel an ihr. Auch Äsop findet einen Weg, sich im Folgenden für den Spott seiner Herrin zu rächen, indem er das Essen, das ihm Xanthus für diejenige mitgibt, die ihm zugetan sei (also seine Frau), stattdessen der Hündin zu fressen gibt, denn nur diese liebe Xanthus wahrhaftig. So sät er Zwietracht zwischen den Eheleuten. Die Reaktionen der beiden Frauen auf die Streiche Eulenspiegels und Äsops sind ebenfalls vergleichbar, beide drohen damit fortzugehen.
32Durch ihre sprachliche Gewitztheit beweisen Eulenspiegel und Äsop immer wieder, dass sie den anderen überlegen sind. So gewinnt Eulenspiegel die Wette gegen den Priester, indem er auf die wortwörtliche Ausführung der Wette dringt. Auch Äsop nimmt die Anweisungen von Xanthus zu wörtlich, um ihn vorzuführen und ihn zu lehren, seine Aufträge korrekt auszusprechen. Er kocht nur eine Linse, weil Xanthus ihm aufträgt, Linse im Singular zu kochen und nicht im Plural, er schenkt Badewasser zum Trinken ein und bringt nur ein Becken zum Füßewaschen, aber kein Wasser dafür.
33Die Untersuchung der Äsop-Holzschnitte in den in Troyes von Nicolas Oudot gedruckten Eulenspiegel-Ausgaben zeigt, dass die These, die Illustrationen seien ohne Zusammenhang und willkürlich in den Text integriert worden, nicht haltbar ist. Dass es sich um wiederverwendete Holzschnitte handelt, mag zwar dem günstigen Druck geschuldet sein, heißt aber nicht, dass deswegen keine Verbindung zwischen Text und Illustration besteht. Im Gegenteil bedeutet der Rückgriff auf bereits bekannte und über die Zeit in ihrer Komposition gefestigte Abbildungen, dass die Leser:innen durch das Erkennen und Einordnen der Bilder in ihren ursprünglichen Kontext den Zusammenhang zwischen dem Eulenspiegeltext und dem Äsop-Roman herstellen konnten. Dies kann auch als eine Art intellektuelles Spiel betrachtet werden, bei dem der Ursprung der Illustration erst erkannt und anschließend der Querverweis zum anderen Werk aufgebaut werden muss, um dann die Parallelen und Unterschiede zwischen den Werken aufzuspüren. Die Rezeptionsangebote, die durch das Einfügen der Äsop-Holzschnitte in den Eulenspiegel gemacht werden, sind dabei vielfältig. So kann das Titelbild, das die Fabel um den Esel und das Hündchen zeigt, als Mahnung an die Leser:innen verstanden werden, Eulenspiegel nicht als Vorbild zu betrachten und es ihm in seinem schalkhaften Treiben gleichzutun. Durch das Einfügen der Fabel um den Pfarrer, seinen Hund und den Bischof werden direkte Motivähnlichkeiten zwischen dem Äsop und dem Eulenspiegel offengelegt, denn beiden Geschichten liegen moralische Transgressionen des Klerus zugrunde. In der Illustration zu Äsops Verkauf auf dem Sklavenmarkt aus dem Vita-Teil werden hingegen nicht nur zwei Episoden einander gegenübergestellt, es können vielmehr allgemeinere Parallelen zwischen dem Leben des Eulenspiegels und des Äsops hergestellt werden, die auf den Gemeinsamkeiten der beiden Romane fußen.
34Dass bereits Johannes Pauli in dem 1522 erschienen Schimpf und Ernst Geschichten aus dem Eulenspiegel mit dem Äsop kombiniert (Schulz-Grobert, 1999: 102), zeigt, dass die Ähnlichkeiten zwischen beiden Werken durchaus seit langer Zeit erkannt wurden und die Kombination von Äsop-Holzschnitten mit dem Eulenspiegeldruck aus Troyes keineswegs besonders innovativ war, sondern eher als eine Fortführung der Tradition betrachtet werden kann, den Äsop mit dem Eulenspiegel zu verbinden und Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten.