1Das interkulturelle Potenzial der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zeichnet sich unter anderem durch die kunstvolle Darlegung von Exil und Migration aus. Dabei scheint es unabweislich, dass die agierenden (post-)migrantischen oder exilierten Protagonisten von einer pluralen Existenz geprägt sind, mittels derer sie sich gleichzeitig in verschiedenen und zum Teil widersprüchlichen Kulturen definieren. Hinsichtlich dessen wird der vorliegende Beitrag die Leithypothese überprüfen, dass literarische Texte fragmentierte und dissonante Zugehörigkeiten von migrantischem oder exiliertem Dasein konfigurieren, das sich in permanenten mehrfachkodierten Prozessen kultureller Transfers und Übergänge befindet. Am Beispiel von von Saša Stanišićs Herkunft (2019) und Iris Wolffs Die Unschärfe der Welt (2020) wird diese gegenwärtige Konstruktion von Subjektbildungen analysiert.
2In Rassismus und kulturelle Identität (1994) analysiert Stuart Hall die Transformation postmoderner Subjektbildungen. Hierbei entwickelt er ein dreistufiges Konzept von Identität: das Subjekt der Aufklärung, das soziologische Subjekt und das postmoderne Subjekt. Hall diagnotiziert eine Entwicklung von der Vorstellung des Subjekts als autonom und vereinheitlicht zu einem offeneren und fragmentarischen Prozess hin zur dritten Stufe des postmodernen Subjekts. (vgl. Hall, 1994: 181). Dieses postmoderne Subjekt, das Hall ohne eine gesicherte, wesentliche oder anhaltende Identität konzipiert, ist aufschlussreich: Es „ist historisch, nicht biologisch definiert“ und „nimmt zu verschiedenen Zeiten verschiedene Identitäten an, die nicht um ein kohärentes ‚Ich‘ herum vereinheitlicht worden sind“ (ebd.: 183). Anschlussfähig für meine Argumentation ist dieser Gedanke der ‚Ent-Vereinheitlichung‘, die jede Vorstellung einer gesicherten Heimat oder Herkunft als illusorisch bloßstellt. Für das globale Phänomen migrantischen und exilierten Daseins ist ein solcher Gedanke konstituierend, weil sich im Zuge von Migrationserfahrungen ein, wenn man so will, alchemistisches, d. h. fließendes, von Einzelnen immer wieder neu zusammengestelltes, subjektives und flüchtiges Konzept von Heimat oder Herkunft durchsetzt.
3Zygmunt Bauman hat in seiner Studie Flüchtige Moderne (2003) für diesen Prozess fließender Subjektbildungen in der Gegenwart den Begriff der ‚Liquidität‘ geprägt. Er plädiert dafür, das Feste und Beständige in den kulturellen und religiösen Aggregatszustand des Geschmolzenen und Flüssigen zu überführen (Bauman, 2003: 209), um eine solche Fluidität zu erzeugen. Diese Liquidität, so eine Besprechung von Bauman durch Volker Demut in Lettre International vom Winter 2017, sickere in sämtliche Kulturen ein und führe in allen Gesellschaftsschichten zur Aufweichung erstarrter Lebensformen (vgl. Demuth, 2017). Daher spricht Demut auch von „Fluidalexistenz“ (ebd.). Gemeint ist damit, dass das gegenwärtige ‚menschliche Experiment‘ Prozessen folgt, die weniger etwas medientechnisches bedeuten. Vielmehr meinen sie die Dimension einer weltweiten Kultur flottierender und fragmentierter Wahrheiten (vgl. ebd.).
4Als weitere Stimme kann in diesem Zusammenhang ebenso Anil Bhatti mit seinem Plädoyer für ein Denken in Ähnlichkeiten genannt werden. Für ein migrantisches und exiliertes Dasein mit Kontingenzen und Zufälligkeiten ist Bhattis Ansatz der Ähnlichkeit deshalb von zentraler Bedeutung, weil sie mit Elementen des Unscharfen und des Ungefähren operiert:
„Das Ähnlichkeitsdenken erlaubt uns, eine ›Unschärferelation‹ in unsere Analyse einzuführen. Wir nehmen weite Flächen der Überlappungen wahr, wahrscheinlich häufiger in urbanen Milieus, in denen Mehrsprachigkeit mittlerweile stark verbreitet ist, also dort, wo verschiedene sichtbare Unterschiede unsere Urteilsfähigkeit verwirren“ (Bhatti und Kimmich, 2015: 26).
5Will man eine Zwischenbilanz bezüglich der drei hier angeführten Ansätze ziehen, so lässt sich feststellen, dass sowohl Halls, Baumans als auch Bhattis Ausführungen der Gedanke der Pluridimensionalität postmoderner Subjektbildungen als roter Faden durchzieht. Mit Blick auf das exilierte Dasein, das sich durch Unwägbarkeiten und Kontingenzen auszeichnet, können Stichwörter wie ‚Ent-Vereinheitlichung’, ‚Flüchtigkeit’ oder ‚Überlappungen’ als grundlegend bezeichnet werden.
6Diese Überlappungen und Unwägbarkeiten werden durch Erkenntnisse aus den Diaspora Studies untermauert, die mit Blick auf das globale Phänomen exilierten Daseins von einer Re-Definition von Diaspora sprechen. In dieser Hinsicht sind zunächst Williams Safrans Kriterien interessant, wonach das Konzept der Diaspora auf expatriierte Gemeinschaften von Minderheiten angewandt werden könne, wenn u. a. diese oder ihre Vorfahren von einem originären Zentrum in zwei oder mehrere fremde, periphere Regionen zerstreut wurden oder wenn sie eine kollektive Erinnerung, Vision oder einen Mythos über ihr Ursprungsland aufrechterhalten (Safran, 1991: 83f.). Safrans Diaspora-Konzeptualisierung kann durch die Begriffsbestimmung von James Clifford erweitert werden, der sich den Exil- und Diasporaerfahrungen von „displacement“ widmet und argumentiert, dass gegenwärtige Konstellationen von Exil und Diaspora keineswegs auf nationale Epiphänomene reduziert werden dürften. Vielmehr sind diasporische Kulturformen durch transnationale Netzwerke gekennzeichnet: „They are deployed in transnational networks built from multiple attachments, and they encode practices of accommodation with, as well as resistance to, host countries and their norms.“(Clifford, 1994: 302 und 307) Ein solches diasporisches Bewußtsein („Diaspora consciousness“) wird von spezifischen „skills of survival“ (ebd.: 312) beflügelt, die auch Strategien der Anpassung und Weltoffenheit umfassen. Ähnlich wie Clifford insistiert Paul Gilroy auf der Tatsache, dass Diaspora als eine Alternative zu festen Ideologien von race, Nation und Zugehörigkeiten verstanden werden soll: „As an alternative to the metaphysics of race, nation, and bounded culture coded into the body, diaspora is a concept that problematizes the cultural and historical mechanics of belonging“ (Gilroy, 2000: 123). Auf diese gegenwärtigen Konfigurationen fragmentierter und dissonanter Zugehörigkeiten will ich im Folgenden am Beispiel der zwei gewählten literarischen Texte eingehen.
7In der Jurybegründung für die Zuerkennung des deutschen Buchpreises 2019 für Stanišić heißt es, unter jedem Satz seines Romans warte die unverfügbare Herkunft, die gleichzeitig der Antrieb des Erzählens sei. Verfügbar werde sie nur als Fragment, als Fiktion und als Spiel mit den Möglichkeiten der Geschichte (Jury für die Verleihung des Deutschen Buchpreises, 2019). Gerade dieses ‚Spiel‘ mit verschiedenen Möglichkeiten, dieses Fragmentarische und Zufällige hinsichtlich der sich immer weiter ausdehnenden Migrations- und Exilerfahrungen zu analysieren, zeichnet den Roman Herkunft aus. Bereits zu Beginn wird den Leser*innen die Komplexität exilierten Daseins nahegebracht. Im Kapitel An die Ausländerbehörde berichtet der Ich-Erzähler, inwieweit es für ihn schwer, ja unmöglich sei, seinen Lebenslauf in eine einfache, mit Daten belegte Tabelle zu fassen:
„Ich legte eine Tabelle an – Besuch der Grundschule in Višegrad, Studium der Slavistik in Heidelberg –, es kam mir jedoch vor, als hätte das nichts mit mir zu tun. Ich wusste, die Angaben waren korrekt, konnte sie aber unmöglich stehen lassen. Ich vertraute so einem Leben nicht“ (Stanišić, 2019: 7).
8Eine solche Negation substanzieller Teile seines Lebenslaufes verweist darauf, dass er der tabellarischen Aufzählung eine Komplexitätserweiterung durch mehr Details vorzieht. Es stellt sich die Frage, warum er denn einem Framing seines Lebens in Tabellen nicht vertraut. Am Ende des zweiten Kapitels gibt es zwei Begründungen, die seine Schwierigkeit, eine klare Herkunft oder Heimat zu definieren, untermauern sollen, und diese beiden Begründungen werden in kursiv gesetzt: „Ich schrieb eine Geschichte auf, die so begann: Fragt man mich, was für mich Heimat bedeutet, erzähle ich von Dr. Heimat, dem Vater meiner ersten Amalgam-Füllung“ (ebd.: 10). Das Wortpaar ‚Amalgam-Füllung‘ ist hier aufschlussreich, weil es erlaubt, einen Zusammenhang zu Stuart Halls Definition des postmodernen Subjekts herzustellen. Mit dieser ersten Begründung geht eine zweite einher: „Ich schrieb: Hier ist eine Reihe von Dingen, die ich hatte.“ (ebd.) Dieser Satz ist deshalb entscheidend, weil er nicht nur in dieser Passage, sondern auch im darauffolgenden Kapitel zweimal zur Anwendung kommt. Diese dreimalige Wiederholung des Satzes verweist auf eine poetologische Strategie der Reihung: Sie besteht in einer kunstvollen Summierung von Dingen, mithilfe derer der Ich-Erzähler ein „Befeuern der Welt durch das Addieren von Geschichten“ (ebd.: 37) gestaltet. Dadurch werden die Leser*innen mit einem Mehr – bzw. Meer – aus Fiktionen konfrontiert: „Mehr Herkunftskitsch, den ich reproduzieren könnte? […] Mehr Erschütterung gefällig? […] Mehr Biografie […] Das alles ist eine Art Urszenerie geworden für mein Selbstporträt mit Ahnen. Es ist auch ein Porträt meiner Überforderung mit dem Selbstporträt.“ (ebd.: 50)
9Ein Grund für dieses Addieren von Geschichten lässt sich darin sehen, dass wir in der Gegenwart mit einer Zunahme kultureller und sprachlicher Zeichen zu operieren haben, die uns zuweilen herausfordern, wenn nicht überfordern. Gerade diese Überforderung, die der Ich-Erzähler selbst spürt, lässt sich durch den folgenden Satz erklären, nämlich: „Hier ist eine Reihe von Dingen, die ich hatte.“ Damit meint er, dass seine Herkunft, seine Heimat nicht in einfachen oder einfältigen Tabellen dargestellt, sondern aus vielfältigen, zum Teil widersprüchlichen Dingen hergestellt werden kann. Am Ende des dritten Kapitels listet er auf einer ganzen Seite skizzenhaft diese Dinge auf. Unter anderem habe er „[e]ine Sammlung von Katzenaugen, abgeschraubt von Autokennzeichen“, „zwei Wellensittiche“, „[e]inen Hamster namens Indiana Jones“, „[e]inen undenkbaren Krieg“, und nicht zuletzt „[e]inen rot-weißen Schal“ (ebd.: 17). Im Sinne von Dorothee Kimmich können diese Dinge als „lebendige Dinge“ bezeichnet werden, d. h. als Dinge, die „eine tiefere Bedeutung, einen höheren Sinn oder eine symbolische Dimension“ (Kimmich, 2011: 9) haben. Sie seien ein zentraler Bestandteil postmoderner Poetologie (vgl. ebd.). Für Stanišićs Poetologie sind diese Dinge markante Zeichen seiner unerhörten und eigenartigen Bestimmung von Herkunft, die er im Text wie folgt präsentiert: „Es ist so: Das Land, in dem ich geboren wurde, gibt es heute nicht mehr. Solange es das Land noch gab, begriff ich mich als Jugoslawe. Wie meine Eltern, die aus einer serbischen (Vater) bzw. einer bosniakisch-muslimischen Familie stammten (Mutter)“ (ebd.: 13). Im Text liest man eine Passage, in der der Ich-Erzähler in Begleitung der Figur Gravillo zu Besuch im Dorf Oskoruša am Grab seiner Urgroßeltern steht. Dieses Dorf liegt in den bosnischen Bergen, im äußersten Osten. Als die Figur Gravilo den Ich-Erzähler fragt, woher er kommt, antwortet er wie folgt: „Komplexe Frage! Zuerst müsse geklärt werden, worauf das Woher ziele. Auf die geographische Lage des Hügels, auf dem der Kreißsaal sich befand? Auf die Landesgrenzen des Staates zum Zeitpunkt der letzten Wehe? Provenienz der Eltern? Gene, Ahnen, Dialekt?“ (ebd.: 33).
10Anschließend kommt eine Stelle, die für die Herkunftsbestimmung zentral ist: „Wie man es dreht, Herkunft bleibt doch ein Konstrukt! Eine Art Kostüm, das man ewig tragen soll, nachdem es einem übergestülpt worden ist. Als solches ein Fluch! Oder, mit etwas Glück, ein Vermögen, das keinem Talent sich verdankt, aber Vorteile und Privilegien schafft“ (ebd.). ‚Herkunft‘ wird hier doppeldeutig, da es im Sinne eines ‚Fluchs‘ wie auch als ‚Vermögen‘ verstanden wird. Im Prinzip könnte man das Bindewort „oder“ durch „und“ ersetzen und argumentieren, dass Herkunft eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen sein kann. Damit lässt sich die Gefahr einer einfältigen, klaren Bedeutung zum Ausdruck bringen. Bezüglich einer solchen Gefahr gibt es ein Zeichen, das öfters im Buch in Zusammenhang mit Herkunft vorkommt: die Schlange. Nicht nur auf dem Cover wird der Romantitel „Herkunft“ von einer Schlange umwunden, sondern er wird im Text auch als Synonym für das Wort „Poskok“ verwendet, was wiederum als ein „unerhörte[s] Wort“ (ebd.: 27) oder als etwas Problematisches bezeichnet wird, das mit Angst und Gift einhergeht. (ebd.) Dieser unerhörte Charakter von Herkunft und Heimat wird den Leser*innen noch deutlicher im Kapitel Lost in the strange, das mit einer Selbstvorstellung des Ich-Erzählers beginnt: „Ich lebe in Hamburg. Ich habe einen deutschen Pass. Mein Geburtsort liegt hinter fremden Bergen. An der vertrauten Elbe gehe ich zweimal laufen, eine App zählt die zurückgelegten Kilometer.“ (ebd.: 37) Weiterführend heißt es:
„Ich bin Anhänger des Hamburger Sportvereins. „[…] Man will gelegentlich von mir wissen, ob ich in Deutschland zu Hause sei. Ich sage abwechselnd ja und nein. […] Ich sage: Ich komme aus… undsoweiter [!]. […] Wenn sich der Gesprächspartner umsieht, verwandle ich mich in einen deutschen Schmetterling und fächle davon“ (ebd.).
11Mich interessiert an dieser Stelle die Komplexität bzw. Vieldimensionalität des Ichs bzw. des Subjekts, das hier spricht, ein Ich-Erzähler, der mal hier, mal dort zu Hause ist. Es handelt sich um ein exiliertes Ich, das sich mal zu Hamburg, mal zu Bosnien zugehörig fühlt und nicht zuletzt, um ein Ich, das sich beliebig verwandeln kann. Im Kapitel Fragmente gibt es einige Indizien dieser Vielfältigkeit – oder Verstreuung:
„Meine Familie lebt über die ganze Welt verstreut. Wir sind mit Jugoslawien auseinandergebrochen und haben uns nicht mehr zusammensetzen können. Was ich über Herkunft erzählen möchte, hat auch zu tun mit dieser Disparatheit, die über Jahre mitbestimmt hat, wo ich bin: so gut wie niemals dort, wo Familie ist“ (ebd.: 66).
12Ich möchte behaupten, dass der interkulturelle Mehrwert dieses Textes gerade in der kunstvollen Darlegung von Herkunft und Heimat als Disparatheit, Verstreuung oder als Kontingenz liegt. Diese Darstellung von Disparatheit und Dissonanzen entsprechen z.B. Cliffords oder Gilroys oben skizzierte Analysen, wonach gegenwärtige Konstellationen des Exils und der Diaspora nicht durch nationale Epiphänomene, sondern in transnationalen Perspektiven gesehen werden sollen. „Herkunft“, so schreibt Stanišić, „sind die süß-bitteren Zufälle, die uns hierhin, dorthin getragen haben. Sie ist Zugehörigkeit, zu der man nichts beigesteuert hat“ (ebd.: 67).
13Diese Zufälligkeit wird auch im Text durch die Verschränkung von geographischen Räumen, von Bosnien und Deutschland, von Heidelberg und Višegrad manifest: „In Bosnien hat es geschossen am 24. August 1992, in Heidelberg hat es geregnet. Es hätte ebenso gut Osloer Regen sein können. Jedes Zuhause ist ein zufälliges: Dort wirst du geboren, hierhin vertrieben, da drüben vermachst du deine Niere der Wissenschaft“ (ebd.: 123). Weiterführend liest man die Bedeutung von Heidelberg für den Ich-Erzähler: „Heidelberg begann für mich als eine zufällige Stadt. Ich war vierzehn und hatte von ihr nie gehört, geschweige denn geahnt, wie gut sich am Neckar später mit einer Studentin der Philosophie spazieren lassen würde“ (ebd.). Und in dieser zufälligen Stadt Heidelberg sieht er ein Schloss, dessen Ruine für ihn lebenswichtig ist. Aufschlussreich ist auch der Vergleich zwischen der Lage dieser Heidelberger Schlossruine und derjenigen der Familie des Ich-Erzählers:
„Der Anblick des Schlosses wird für mich immer nach Schokolade schmecken. […] Hier waren wir fremd, aber die Fremde war nicht bedrohlich, der Regen einfach nur Wetter, die Sonne nur sie. An diesem merkwürdigen Ort, an dem du als gigantische Ruine einfach herumstehen konntest, und Japaner kraxeln auf dir herum, […] hier konnte uns nichts geschehen. Wie die Schlossruine würden auch wir überdauern“ (ebd.: 125).
14Ein zweiter Grund, warum Heidelberg als ein merkwürdiger Ort bezeichnet werden kann, ist die von ihm besuchte Schule, nämlich die Internationale Gesamtschule Heidelberg, die dermaßen auf die Diversität der Schülerschaft eingestellt war, dass eine feste ,Herkunft‘ des Ich-Erzählers obsolet war (vgl. ebd.: 151). Aufgrund dessen zieht er im Text ein Fazit:
„Meine Rebellion war die Anpassung. Nicht an eine Erwartung, wie man in Deutschland als Migrant zu sein hatte, aber auch nicht bewusst dagegen. Mein Widerstreben richtete sich gegen die Fetischisierung von Herkunft und gegen das Phantasma nationaler Identität. Ich war für das Dazugehören. Überall, wo man mich haben und wo ich sein wollte. Kleinsten gemeinsamen Nenner finden: genügte“ (ebd. 221f.).
15Diese fast paradoxale Strategie der Rebellion durch Anpassung praktiziert der Ich-Erzähler, indem er nicht nur von einer sogenannten Aral-Literatur spricht, sondern in seinem Roman auch öfters intertextuelle Bezüge zu Joseph von Eichendorff einflechtet und dies explizit thematisiert: „Ich finde Gefallen daran, wie Eichendorff die Welt hofiert. Wie freundlich er ihr gegenübertritt. Ihr, auch dem Mystischen in ihr, zugewandt. Wie er sich der Natur mit allen Sinnen hingibt, wie klar und verrückt er darüber schreibt. Mir gefällt seine Kauzigkeit. Seine Biografie rührt mich“ (ebd.: 233). Es ließe sich die Frage aufwerfen, warum er diesen intertextuellen Bezug zu Eichendorff herstellt. Hierfür können zwei mögliche Antworten skizziert werden: Erstens kann der Bezug dadurch begründet werden, dass auch Eichendorff Erfahrungen von Migration aus seiner Geburtsstadt in Oberschlesien nach u. a. Heidelberg durcherlebte. Intertextualität kann somit in zweierlei Hinsicht analysiert werden: Zum einen wird sie im Sinne von Renate Lachmann als eine „Produktionsintertextualität“ verwendet, in der eine „semantische Explosion“ durch die Einlagerung fremder Textelemente generiert wird (Lachmann, 1994: 134), in diesem Fall von Autor*innen, die selbst die Erfahrung des Exils gemacht haben. Zum anderen wird sie in Anlehnung an den Begriff „Interexil“ als Interexilität verstanden, die „Formen literarischer Konnexionen zwischen Exilen“ bzw. ein Netz von literarischen Korrespondenzen umfasst (Benteler und Narloch, 2015). Zweitens kann der intertextuelle Bezug zu Eichendorff darin gesehen werden, dass ähnlich wie Eichendorff, der die Welt hofiert, Stanišić die Welt zu romantisieren versucht, d. h. bestrebt ist, eine qualitative Potenzierung im Sinne von Novalis zu generieren. So schreibt Novalis in „Die Welt muß romantisiert werden“: „Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es“ (Novalis, 2000: 51). Bei Stanišić erfolgt dieses Romantisieren z.B. durch eine qualitative Potenzierung der Schlossruine oder durch die Potenzierung einer Reihe von Zeichen oder Dingen, mit denen er ein Spiel mit den Möglichkeiten der Geschichte aufzeigt, um den Leser*innen die Unverfügbarkeit von Herkunft und Heimat nahezulegen.
16Ähnlich wie Stanišićs kunstvolle Darlegung der Fragmentierung von Herkunft gelingt es Iris Wolff, die Verstreuung ihrer Protagonisten aufzuzeigen, indem sie in den sieben Kapiteln ihres Romans Die Unschärfe der Welt ihre Lebenswege, ihr Denken und Fühlen trotz räumlicher Distanzen ineinander übergehen lässt. Besonders auffällig ist das Narrativ der Fluidität und Unbestimmtheit, das den gesamten Roman wie ein roter Faden durchzieht. Im zweiten Kapitel berichtet die auktoriale Erzählinstanz über den Protagonisten Samuel, der vom Gedanken der Unschärfe und des Unbestimmten begeistert ist: „Dieses Unbestimmte, Nicht-Fassbare hatte ihm immer gefallen, gefiel ihm noch“ (Wolff, 2020: 47). In einer zentralen Textstelle im dritten Kapitel zeigt Samuel, wie er vom Begriff des Transsilvanischen fasziniert ist und deshalb bei der Protagonistin Karline um eine eingehende Erläuterung bittet: „Erzähl mir von der Transilvania“ (ebd.: 76). Der Erzähler kommentiert diese Frage wie folgt:
„Sie hatte ihm diese Geschichte oft erzählt. Ob er die Abweichungen erkannte? Ob er merkte, was sie ausließ, hervorhob, wo sie aus lauter Lust übertrieb? Man musste beim Erzählen aufpassen. Kam man von einer vorgegebenen Spur in ungewisses Wasser, konnte sich noch etwas anderes zu Wort melden, Sehnsüchte, Ängste, Wahrheiten. […] Karline erwartete das Launische, Unberechenbare, Widersprüchliche geradezu“ (ebd.).
17Wolff schreibt hier gegen die Illusion der ‚vorgegebenen Spur‘, die andere Repräsentationen siebenbürgischer Identitäten ausschließen könnte. Daher bevorzugt sie eine breite oder dichte Beschreibung, die widersprüchlich und unberechenbar ist. Gerade diese Flexibilität und Fluidität wird im Text sichtbar durch die auffällige Häufung des Wortes ‚Wasser‘ und von anderen Begriffen, die im isotopischen Zusammenhang damit stehen, so dass man von einer Apologie der Fluidität sprechen kann. Der Erzähler berichtet von einer Konversation zwischen Samuel und der Figur Stana: „Das Wasser trägt dich, hatte Samuel gesagt, du musst dich nur leicht machen. […] Stana lernte von den Windwanderern, lernte, nicht gegen das Wasser zu kämpfen […]“ (ebd.: 100). Weiterführend heißt es über Stanas Mutter: „Malvas Augen waren wie das Regenfass im Garten, randvoll, und doch mit der Fähigkeit, auch nach starkem Regen nicht über die Kante hin auszulaufen. Eine gebogene, elastische Wasserhaut“ (ebd.: 103). Interessant scheint mir hier die Elastizität, denn die Adjektive »gebogen« oder »elastisch« weisen auf den roten Faden des Romans hin, nämlich die Erkenntnis der Unschärfe, Brüchigkeit und Unbestimmtheit der Welt.
18Diese Erkenntnis wird u.a. durch die Entdeckung von neuen Wörtern sowie durch eine Variabilität in der Namensgebung ausgelotet, etwa wenn die Figur Stana von Samuel ‚Sana‘ genannt wird: „Ich lasse das ›t‹ weg“, hatte Samuel eines Tages gesagt. […] Weil Sana Träumerin hieß und im Arabischen ‚der Blaue Himmel‘, was ihm noch besser gefiel“ (ebd.: 112). Der Erzähler belässt es nicht bei dieser Passage, sondern versucht den Leser*innen aufzuzeigen, was Samuel mit dieser Namensänderung intendiert, und zwar die Möglichkeit des Sich-neu-Erfindens: „Das, worauf er referierte, was er umfasste, wurde sacht abgefälscht; kaum mehr als eine Ungenauigkeit und doch aufregend unbekannt. Es berührte etwas, das noch ungenutzt war, und gab ihr das Gefühl, sich neu erfinden zu dürfen.“ (ebd.) Das Resultat dieser Neu-Erfindung fasst der Erzähler wie folgt zusammen: „Etwas Weiches, Großzügiges, aber auch eine neue Verletzlichkeit wurde offenbar, als würde etwas fehlen, als hätte er nicht nur einen einzigen, aufstrebenden Buchstaben für sich behalten“ (ebd.). Die hier angewendeten Adjektive ‚weich‘ und ‚großzügig‘ könnten als Bestätigung der oben skizzierten Ansätze von Bauman über gegenwärtige Repräsentationen von postmodernen und exilierten Subjekten gelesen werden. Baumans Begriff der ‚Liquidität‘ entspricht, wie oben im theoretischen Teil erläutert, dem gegenwärtigen postmodernen Subjekt, der mit einer Kultur flottierender und fragmentierter Wahrheiten wahrgenommen wird. Das Wort ‚großzügig‘ wird hier verwendet gegen eine eindimensionale, eindeutig festgelegte Auslegung von Kultur. Iris Wolffs Wortpaar ‚neue Verletzlichkeit‘ kann dahingehend interpretiert werden, dass die Autorin auf die Entwicklung eines Bewusstseins für das Brüchige und Unscharfe hinweist.
19Diese Unschärfe wird noch in der Textstelle gezeigt, in der der Erzähler von einem Gespräch zwischen Samuels Großmutter und ihrer Schwiegertochter Florentine über das Kochen von Suppen berichtet. Als die Großmutter behauptet, „dass hier niemand eine einheimische Suppe zu kochen imstande ist“ (ebd.: 113), erwidert Florentine: „Was meinst du mit einheimisch? Schwäbisch, slowakisch, ungarisch, rumänisch, tschechisch, jüdisch oder vielleicht serbisch?“ (ebd.) Diese Metapher der Unmöglichkeit einer einheimischen Suppe, die durch sieben verschiedenen Möglichkeiten, diese zu kochen, zum Ausdruck kommt, deutet auf die Komplexität von Subjektbildungen sowie auf die gegenwärtigen Konfigurationen fragmentierter und dissonanter Zugehörigkeiten hin, insbesondere in diesem transsilvanischen, siebenbürgischen Raum mit einer Vielfalt von Kulturen und Religionen. Man könnte im Sinne der Raumtheorie Henri Lefèbvres argumentieren, dass der wahrgenommene siebenbürgische Raum (espace vécu) eine Diversität von Kulturen erlaubt (vgl. Lefèbvre, 2006: 333), sodass jede Festschreibung bezüglich der Heimat oder des Einheimischen illusorisch und kontraproduktiv ist. Eine interkulturelle Subjektbildung hängt also davon stark ab, in welchem kulturellen Raum und an welchem Ort man sich befindet und welche Werte von Belang sind.
20Ferner kann diese ,Suppen-Metapher‘ als eine Kritik an nationalistischen Ideologien gelesen werden, die nach festen Übereinstimmungen bzw. nach klar definierten Grenzziehungen zwischen Räumen suchen, welche die Öffnung zur Pluralität der Perspektiven von Heimat konterkarieren. In dieser Hinsicht zeigen Doerte Bischoff und Susanne Komfort-Hein in der Einleitung zu ihrem Sammelband Literatur und Exil (2013) auf, dass Literaturen des Exils, Akkulturationsprozesse bezeugen und die Bedingungen entstehender Diaspora-Gemeinschaften zum Thema machen und„von der Vernetzung und Beweglichkeit von Kulturen eher als von deren eindeutiger Abgrenzung gegeneinander, von Kulturtransfer und hybriden Identitäten eher als von nationalkultureller Repräsentanz“ (Bischoff , Komfort-Hein 2013: 2) erzählen. Den beiden Autorinnen zufolge stellten Exile und ihre literarische Reflexion die Vorstellung von homogenen, von gegeneinander abgrenzbaren kulturellen Räumen ebenso wie Vorstellungen zeitlicher Abfolge und Abschließbarkeit in Frage (vgl. ebd.: 10). Es gehe in diesen Texten um ein Wissen über die Vervielfältigung von Herkünften und eine grundsätzliche Problematisierung von Heimat und nationaler bzw. kultureller Identität (vgl. ebd.: 17). Diese Problematisierung von Grenzen wird an einer anderen Textstelle durch die Metapher des Eisernen Vorhanges deutlich: „Der eiserne Vorhang, hieß es, war zerbrochen, und Bene dachte darüber nach, wie selbstverständlich man in Metaphern lebte. Auch etwas, das über Jahrzehnte das Leben unzähliger Menschen bestimmt hatte, konnte fallen, konnte zerbrechen [...]“ (ebd.: 163). Die beiden Verben ‚fallen‘ und ‚zerbrechen‘ deuten in diesem Kontext auf die Brüchigkeit von angeblichen festen Kategorien hin. Diese Erkenntnis der Brüchigkeit erweist sich aus der Sicht der Figur Bene, der einen Buchladen führt, als positiv, denn: „[E]s war möglich, dass jemand nach einem Buch fragte, dass jetzt, wo die Grenze offen war, nicht nur Menschen und Waren wandern mussten, sondern auch Geschichten“ (ebd.: 172).
21Die Problematisierung nationaler Identität wird bei Wolff durch eine Überschreitung nationalsprachlicher Grenzen hin zu trans- und multilingualen Dynamiken dargestellt. Als sich herausstellt, dass Samuel und Oz nach einer Zwischenstation in Österreich und der Durchgangsstelle für Aussiedler in Nürnberg keinen Sprachtest in der Landesaufnahmestelle für Flüchtlinge und Aussiedler in Rastatt absolvieren müssen, werden sie in einem Übergangswohnheim untergebracht, in dem sie Unterschiede im gesprochenen Schwäbisch-Deutschen vernehmen: „Das Deutsch, dass sie hörten, war gerundet, mit langen Vokalen und vielen Sch-Lauten. Es war ihnen nicht vertraut, und sie wussten, dass sie fremd waren mit ihrer kantigen, eigenwilligen Aussprache“ (ebd.: 138). Interessant ist hier, dass sie sich trotz oder gerade aufgrund ihrer deutschen Sprache fremd fühlen: „Sie sagten Banat. Und sie hätten Atlantis sagen können, Wunderland, Mittelerde. Sie sagten Rumänien. Und wurden für Rumänen gehalten, als gäbe es eine Übereinstimmung zwischen einem Land und den Nationalitäten, die darin lebten“ (ebd.).
22Ähnlich wie bei Stanišić, der u.a. Verweise auf Hölderlin und vor allem auf Eichendorff in seinen Text einfließen lässt, stellt Wolff Bezüge zu Hermann Hesse, Walter Benjamin sowie zur DDR-Literatur her. An einer Stelle des Textes findet man folgenden konkreten Bezug zu Hesse: „Zufälle gebe es nicht, las Bene im Demian, und Angst habe man nur, wenn man mit sich selbst nicht einig sei“ (ebd.: 156). Fragt man sich, warum Bene hier ausgerechnet Hesse liest, so kann man die Vermutung anstellen, dass es bei Bene um eine Sinnsuche geht, ähnlich wie bei der Generation von Demian in der damaligen Kriegssituation von 1919, in der die desorientieren jungen Menschen nach „einer neuen Sinngebung für ihr Leben“ (Esselborn-Krumbiegel, 1991: 52) und nach „Entfaltung und Selbstverwirklichung“ (Heselhaus, 2003: 37) suchten. Diese Problematik der Sinnsuche, der Identitätsfindung sowie die Kritik an Machtstrukturen lassen sich bei Wolff, Stanišić aber auch in vielen Romanen der Gegenwartsliteratur dokumentieren.
23Die Analyse von Stanišićs Herkunft und Wolffs Die Unschärfe der Welt hat aufgezeigt, dass die beiden Texte eine Konfiguration von Mehrfachzugehörigkeiten darlegen, die sich auf kulturellen Verschiebungen und Übergängen basieren. Demzufolge wird das Erzählen von Exil- und Migrationserfahrungen mit Verstreuungen, Ent-Ortungen und Grenzexistenzen operationalisiert. Ähnlich wie bei Stanišić, der für eine Ent-Fetichisierung von Herkunft plädiert und somit den Blick auf die problematische Konstruktion des Anderen (Othering) richtet wird der plurikulturelle und multidimensionelle transilvanische Raum bei Wolff als ein Paradebeispiel einer Überlappung von Kulturen und Herkünften dargestellt.