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Perspectives

Orientdarstellung und Grenzräume bei Isabelle Eberhardt

Irene Stütz

Résumés

Cet article s'intéresse à la représentation de l'orient et aux espaces frontalières dans les textes de l'écrivaine voyageuse Isabelle Eberhardt. Trois de ses nouvelles seront analysées afin de comprendre les éléments et topiques récurrents que l'auteure utilise pour représenter et caractériser l'espace oriental dans ses textes. Ensuite, l'analyse de textes se focalisera sur les mécanismes de la construction et la recherche des espaces frontalières et transitoires dans les nouvelles.

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Texte intégral

Isabelle Eberhardt - Eine Nomadin in Algerien

  • 1 Eberhardt, Isabelle und Victor Barrucand (1906): Dans l'ombre chaude de l'Islam, Paris. / Deutsch (...)
  • 2 Eberhardt, Isabelle und Victor Barrucand (1920): Pages d'Islam, Paris. / Deutsche Übersetzung von (...)
  • 3 Eberhardt, Isabelle und Victor Barrucand (1923): Mes Journaliers, Paris. / Deutsche Übersetzung 1 (...)

1Die 1877 in Genf geborene Schriftstellerin Isabelle Eberhardt stammt aus einer russischen, aristokratischen Familie, sie wurde liberal und atheistisch erzogen, lernte neben ihren beiden Erstsprachen Russisch und Französisch die Fremdsprachen Deutsch, Latein, Arabisch, Italienisch und Englisch (Kobak, 1989: 26) und interessierte sich seit ihrer Kindheit für die Kultur und Religion arabischsprachiger Länder. In ihrem kurzen Leben veröffentlichte sie oft unter Pseudonymen Artikel in Zeitschriften, Reisereportagen und Kurzgeschichten, in denen sie die Eindrücke ihrer Reisen im Maghreb verarbeitet. Sie lebte mehrere Jahre lang in Algerien, verkleidete sich als Mann unter dem Namen Mahmoud Saadi, um sich freier bewegen zu können und konvertierte zum Islam. Erst nach ihrem Tod im Jahr 1904, den sie bei einer Überschwemmung mitten in der Wüste in Aïn Sefra fand, veröffentlichten verschiedene Verleger, allen voran Victor Barrucand, Textsammlungen wie zum Beispiel Dans l'Ombre chaude de l'Islam (1906)1, Pages d'Islam (1920)2 und Mes Journaliers (1923)3.

  • 4 Ausgehend von englisch- und französischsprachigen Autoren wie Nerval, Hugo und Flaubert breitete (...)

2Eberhardt schreibt sich mit ihren Texten in die literarische Tradition des Orientalismus4 ein und tritt damit in die Fußstapfen ihres Vorbilds Pierre Loti (1850–1923). Ihre Texte zeugen von einer unentwegten Suche nach Abenteuern und Alteritätserfahrungen, die von einem westlichen Blickwinkel auf den idealisierten Orient geprägt ist. Eberhardt entdeckt Nordafrika reisend und unternimmt regelmäßige Ausritte in die Wüste, für sie ein Ort der Inspiration und des absolut Anderen, das sie magnetisch anzieht. In ihrer Monographie Frauen und Orientalismus unterstreicht Natascha Ueckmann (2001) Eberhardts vielfältige Grenzüberschreitungen und drückt ihre Faszination für den Orient folgendermaßen aus: „Eberhardt aber reist, um sich der Fremde gänzlich auszuliefern, um unter Arabern als einer der ihren zu leben“ (Ueckmann 2001: 196). Die starke Identifikation mit den Kolonialisierten spiegelt sich auch in den Texten wider, etwa darin, dass die Protagonist*innen vieler Kurzgeschichten marginalisierte Existenzen sind, die in ihrer Entwurzelung gleichzeitig absolute Freiheit genießen: Landstreicher, Legionäre, Prostituierte und Heimatlose. Eberhardts Perspektive beinhaltet somit oft eine kritische Dimension, die koloniale Praktiken in Frage stellt und anprangert.

3In diesem Artikel wird untersucht, wie Eberhardt in ihren Texten den orientalischen Raum, auf dessen Definition in der Folge noch genauer eingegangen wird, darstellt, welche Mechanismen dabei eine Rolle spielen und wo Grenzen in Form von Schwellen- und Übergangsräumen sichtbar werden. Der behandelte Textkorpus besteht aus den drei Kurzgeschichten La Zaouïa, Nostalgies und M‘Tourni, die in Écrits sur le sable II (1990) von Marie-Odile Delacour und Jean-René Huleu veröffentlicht wurden und in denen europäische Protagonist*innen Algerien kennen und lieben lernen.

Begriffsklärung

4Bevor mit der Textanalyse begonnen wird, ist es wichtig, auf das Konzept des ‚Orients‘ einzugehen und seine kritische Tragweite zu berücksichtigen. Auf die Problematik des Begriffs und seine von Europäer*innen diskursiv konstruierte geographische, kulturelle und moralische Dimension weist Edward Said in seinem Werk Orientalism (1978) hin. Er hält es für legitim und hilfreich, von einem literarischen Genre des Orientalismus zu sprechen, wie es z.B. Hugo, Nerval und Flaubert geprägt haben, besteht aber darauf, dass es sich beim so genannten Orient um einen in den Texten erschaffenen Mythos handelt, der über Jahrzehnte in Texten kreiert, tradiert und politisch instrumentalisiert wurde (Said, 2003: 53).

5Dieser Artikel interessiert sich für die Darstellung des Orients in Isabelle Eberhardts Texten und analysiert ausgewählte Textpassagen vor dem Hintergrund von Saids Theorie der Orientkonstruktion. Der Hauptakzent wird auf die räumliche Komponente gelegt, indem der Frage nachgegangen wird, welche Elemente und Mechanismen im Text den orientalischen Raum kennzeichnen. Im Anschluss wird untersucht, welche Rolle einige konkrete, wiederkehrende Räume spielen und inwiefern sie als Grenz- und Übergangsräume gelesen werden können. Eberhardt greift für ihre Orientkonstruktion einerseits auf etablierte orientalistische Topoi im Sinn einer oft stereotypen Darstellung Algeriens zurück, andererseits verhandelt sie vielfach Grenzfragen, was ihre eigene intensive Auseinandersetzung als frankophone Europäerin mit Algerien, dem Arabischen und dem Islam widerspiegelt.

6Geographische Grenzüberschreitungen vollziehen sich in Isabelle Eberhardts Texten von einem modernen Europa in einen imaginierten Orient, doch auch die Grenze an sich, der Akt der Grenzüberschreitung und liminale Orte finden textlich Ausdruck. Ob Hafen, Pforte oder schattiger Torbogen, die Figuren von Eberhardts Kurzgeschichten suchen Grenz- und Übergangsräume auf, um eine innerliche oder äußerliche Transformation zu durchlaufen. Dabei verschränken sich unterschiedliche Komponenten des Raumes, der topographisch, kulturell und sozial erfahren wird. In Anlehnung an den Ethnologen Victor Turner kann in diesem Zusammenhang von Schwellenräumen gesprochen werden. Turner verwendet den Begriff der ,Liminalität‘ und bezieht sich dabei auf Arnold Van Gennep, der Übergangsriten in verschiedenen Kulturen erforschte und auf eine dreigeteilte Prozessstruktur hinweist, die von der Trennung von einer sozialen Gruppe über die Transformation zur Wiedereingliederung in eine andere soziale Gruppe führt und deren mittlere Stufe als Limen, also als Schwelle bezeichnet wird. Turner interessiert sich insbesondere für diese Schwelle, die sich zeitlich über einen längeren Zeitraum erstrecken kann und deren Klassifizierung Fragen aufwirft, da sie weder das eine noch das andere ist, weder hier noch dort (Turner, 1977: 36f). Bei Eberhardt hängt die geographische Grenzüberschreitung eng mit sozialen und kulturellen Faktoren zusammen, sie lassen die Protagonist*innen emotional reagieren und stoßen einen persönlichen Transformationsprozess an.

Die Darstellung des orientalischen Raumes

Im urbanen Umfeld: Gebäude

7Die Kurzgeschichte La Zaouïa erzählt von einem normalen Tag im Leben der Protagonistin, die als Mann verkleidet an den Gebeten in einer muslimischen Gemeinschaft teilnimmt. Sie benutzt die Verkleidung, um sich frei in Algier bewegen zu können und geht ihren alltäglichen Aktivitäten nach, die aus erkundenden Spaziergängen durch die Stadt, tiefgründigen Gesprächen mit Freunden und den Gebeten des Islam bestehen. Ein wiederkehrender Ort, der den orientalischen Raum in Eberhardts Texten kennzeichnet, ist das religiöse Zentrum der Muslime, also die Moschee und ihr Minarett – oder hier die Zaouïa, eine religiöse Einrichtung, Bildungsstätte und der Hauptsitz einer Bruderschaft. Es handelt sich sowohl um einen heiligen Ort als auch um ein imposantes Gebäude, das bereits aus großer Entfernung visuell wahrnehmbar ist, wie es insbesondere beim Minarettturm der Fall ist. Im Schatten einer Moschee oder einer Zaouïa ist die Hauptfigur nicht nur vor Hitze und Sonne geschützt, sondern auch in emotionaler und spiritueller Sicherheit, wie die folgenden Textstellen zeigen:

  • 5 „im antiken Schatten dieser heiligen Moschee des Islam verspürte ich unsagbare Gefühle, als ich d (...)

„à l'ombre antique de cette mosquée sainte de l'islam, des émotions ineffables au son de la voix haute et forte de l'imam psalmodiant ces vieilles paroles de la foi musulmane en cette belle langue arabe, sonore et virile, musicale et puissante [...]“5 (Eberhardt, 1990: 89)

  • 6 „Es waren Stunden der Glückseligkeit, die ich dort verbrachte, Stunden der inneren Versenkung und (...)

„Ce furent des heures bienheureuses, des heures de contemplation et de paix, de renouveau de tout mon être, d'extase et d'ivresse que celles que je passais assise [...], sur cette marche de pierre à l'ombre fraîche de cette belle zaouïa tranquille.“6 (Eberhardt, 1990: 91)

8Diese zwei Passagen sind geprägt von den außergewöhnlichen, ekstatischen Emotionen der Protagonistin angesichts dieser Zaouïa, die im Imaginären der Protagonistin als versinnbildlichter Orient idealisiert wird. Sie erfährt die Alterität einerseits durch das hautnahe Eintauchen in eine von orientalischen Elementen geprägten Umgebung, und andererseits durch die ihr nahegehende spirituelle Erfahrung. Der orientalische Raum weist hier neben der topographisch und materiell konkretisierten Dimension des Gebäudes auch kulturelle, soziale und emotionale Bedeutungsschichten auf. Die Protagonistin täuscht ihre Umwelt mit der Verkleidung als arabischer Mann, die es ihr erlaubt, als europäische Frau unerkannt in eine derartige Umgebung einzudringen und das Gebet mitzuerleben. Diese Erfahrung erweckt in ihr Gefühle der Euphorie und Berauschtheit, der Glückseligkeit und der spirituellen Erfüllung. Die Subjektivität und die Idealisierung des Orients werden unter anderem anhand der Attribute deutlich, die angewendet werden, um die arabische Sprache zu beschreiben. Diese sei „schön“, „klangvoll“, „musikalisch“, „männlich“ und „kraftvoll“ bzw. „mächtig“. Weiter wird mit den Begriffen „antik“ und „alt“ die Historizität des Islam und der Moschee unterstrichen. Mit ihrem Gebet nimmt die Protagonistin ehrfürchtig an einer alten islamischen Tradition teil, die für sie aufgrund der langen Geschichte an Autorität und Wahrheit gewinnt. In den Textpassagen liest man außerdem von den starken Gefühlen, die die Protagonistin außerhalb dieses heiligen Gebäudes, in seinem Schatten sitzend, empfindet. Ekstase und Berauschtheit angesichts der Orient-Erfahrung sind laut Ueckmann auch bei anderen Orientalismus-Autor*innen nicht unübliche Charakterisierungen. Der Orient als Rauschmittel wirkt auf die Figuren der Texte wie ein Sog, dem sie sich nicht entziehen können (Ueckmann 2001: 197).

  • 7 „Nun, auf dem Kai von Marseille, im Schatten der großen Kathedrale, die nicht den geringsten Hoff (...)

9Im Vergleich dazu ist auch eine europäische Kathedrale ein heiliger Ort, er evoziert jedoch nicht dieselben Emotionen und schafft es nicht, die Hauptfigur der Kurzgeschichte Nostalgies innerlich zu erfüllen. Dem Titel gemäß handelt diese von der Nostalgie, dem Fernweh und der Sehnsucht nach vergangenen Zeiten und Orten. Dabei wird beschrieben, wie der Mensch die Vergangenheit idealisiert und welchen zusätzlichen Charme Orte erhalten, die man wissentlich verlassen muss. Der Protagonist sitzt am Hafen von Marseille, träumt und schwelgt in seinen Erinnerungen an Algerien. „Maintenant, sur le quai de Marseille, à l'ombre de la grande cathédrale qui ne jetait en lui aucune douceur d'espérance, l'aurore aussi n'était belle que d'un autre jour.“7 (Eberhardt, 1990: 201)

  • 8 „Erinnerungen an den Boden Afrikas“

10Die Kathedrale von Marseille zeugt von einer Epoche der Expansion und des wirtschaftlichen Aufschwungs in Frankreich. Sie ist ein Symbol des Kolonialismus, denn sie wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gebaut, als auch die französische Kolonisierung Algeriens erfolgte. Das imposante Bauwerk im neobyzantinischen Stil weist sowohl Glockentürme als auch Kuppeln auf und kombiniert somit okzidentale und orientalische Elemente. Dennoch empfindet der Protagonist der Kurzgeschichte nicht den geringsten Hoffnungsschimmer, als er im Schatten dieser Kathedrale sitzt. Das heilige Gebäude des Christentums hat im Gegensatz zum religiösen Zentrum des Islams in La Zaouïa keine tröstende Wirkung auf die spirituelle Verfasstheit des Protagonisten. Seine okzidentalen Elemente werden überbetont, negativ konnotiert und abgelehnt. Die Morgendämmerung lässt den Protagonisten an einen anderen Tag denken, an dem dieses spezifische Lichtverhältnis ihm schön erschien. Indirekt wird hier wieder auf die idealisierte Erinnerung verwiesen, etwa auf einen vergleichbaren Sinneseindruck in Algerien. Der Protagonist verliert sich in seinen Vorstellungen und ist unfähig, die Gegenwart zu leben und ihre Schönheit wahrzunehmen. Er flüchtet in eine imaginierte Parallelwelt des idealisierten Orients, in seine „souvenirs de la terre d'Afrique“8 (Eberhardt, 1990: 200).

  • 9 Said, Edward W. (1978): Orientalism, London, p. 40.

11In der Kurzgeschichte M‘Tourni wird Algerien mit ähnlichen Mechanismen im Sinne Saids als Orient konstruiert. Die Andersheit der Indigenen wird zu Beginn der Erzählung kontrastiv zur Herkunftskultur dargestellt und latent abgewertet. Sie werden als urtümlich, langsam, melancholisch und einfach beschrieben. Said erklärt dieses Phänomen der Herabsetzung als Ausdruck einer ungleichen Beziehung zwischen orientaler und europäischer Gesellschaft, in der die europäische Seite stets eine Form von Stärke, Dominanz und Überlegenheit einnimmt9. Auch die Umgebung wird mit stereotypen Elementen charakterisiert. Wie in Nostalgies und La Zaouïa spielen dabei Gebäude eine wichtige Rolle.

12M‘Tourni erzählt die Geschichte einer erfolgreichen Assimilation. Der Protagonist Roberto Fraugi wächst in einer armen Familie im Piemont auf. Er lernt das harte Handwerk des Maurers und beschließt als junger Mann, nach Afrika aufzubrechen, um dort selbstständig Geld zu verdienen. Erst fühlt er sich entwurzelt und fremd und eines Tages nimmt er nach einigem Zögern einen vorteilhaften Job im Hinterland, in den Ausläufern der Sahara, an. Nach und nach passt er sich seiner neuen Umgebung an, empfindet sie immer positiver und letztendlich bleibt er in Algerien, konvertiert zum Islam und heiratet eine Indigene.

  • 10 „Sie durchquerten den tief eingebetteten Oued. Der dämmernde Morgen brachte die Umgebung zum Schi (...)

13Wegen seines Berufs interessiert sich Fraugi sehr für Bauwerke und nimmt seine neue Umgebung durch die Gebäude in einem Saharadorf wahr: „Ils franchirent l'oued, dans son lit profond. Le jour naissant irisait les vieilles maisons en toub, les koubba sahariennes, aux formes étranges.“10 (Eberhardt, 1990: 343)

14Die Integration arabischer Begriffe wie ,oeud‘ für Tal, ,toub‘ für getrockneten Ton und ,koubba‘ für Kapelle unterstreicht die Andersartigkeit der Gebäude in der Sahara hinsichtlich ihrer Architektur und Baumaterialien sowie die Unmöglichkeit, diese neue Umgebung in der Muttersprache zu begreifen. Die Tatsache, dass diese Begriffe nicht französisiert werden, obwohl es im Französischen dafür durchaus Ausdrücke gäbe, bestätigt auch den bereits begonnenen Assimilationsprozess des Protagonisten.

Im ruralen Umfeld: Natur und Vegetation

15Neben dem Überbetonen und der übertrieben positiven Konnotation orientalischer Elemente ist auch der Vergleich oder die Gegenüberstellung von konträren Elementen ein wiederkehrender Mechanismus, der in Eberhardts Texten zur Konstruktion des Orients beiträgt. Jean-Marc Moura befasst sich in seinem Text ,L'imagologie littéraire‘ (1992) mit der Darstellung des Fremden bzw. der Fremde in der Literatur und weist darauf hin, dass das Fremde die Grenze einer Gesellschaft markiert und durch Abgrenzung definiert wird, wodurch sie sich essenziell vom Eigenen unterscheidet. Die oft stereotypen Bilder des Fremden gehen über das Literarische hinaus und münden in eine anthropologische und historische Dimension (Moura, 1992: 271).

  • 11 „dunkle Wälder, in denen anmutig Farne an den Ufern der Bäche wachsen“
  • 12 „Umrisse von jungen Palmen“
  • 13 „Ein paar verkümmerte Feigenbäume wuchsen im Hintergrund rund um einen warmen Brunnen, dessen Bra (...)

16Der Protagonist von M‘Tourni sieht sich bei seiner Ankunft mit einer neuen Architektur, aber auch mit einer spezifischen Vegetation konfrontiert, die im Kontrast zur bekannten Umgebung des Heimatlandes steht. Vor allem die Vegetation und die Wasserqualität stellen zwei wichtige trennende Elemente dar, die das eine Land vom anderen unterscheiden. Im Heimatland Italien wachsen „les bois obscures où poussent les fougères gracieuses au bord des torrents“11 (Eberhardt, 1990: 342), in der Wahlheimat Algerien „[d]es silhouettes de jeunes palmiers“12 (Eberhardt, 1990: 343), und „[q]uelques figuiers rabougris poussaient dans le bas-fond, autour d'une fontaine tiède dont l'eau saumâtre s'écoulait dans la séguia où s'amassaient le sel rougeâtre et le salpêtre blanc en amas capricieux“13 (Eberhardt, 1990: 344).

17Die Berge von Piemont verfügen über Quellen mit klarem und frischem Wasser, das in Fülle in der Natur vorkommt und sie mit ausreichend Feuchtigkeit versorgt, während der afrikanische Boden von Wasserknappheit geprägt ist, was die Konstruktion von Bewässerungssystemen, sogenannten ,Séguia‘ erfordert, die lauwarmes und trübes Wasser führen.

18In der Kurzgeschichte Nostalgies wird die Darstellung durch Abgrenzung an einigen Stellen besonders deutlich. Der orientalische Raum unterscheidet sich hier wesentlich vom Okzident. Durch die Hervorhebung der Kälte und Trostlosigkeit des gegenwärtigen Zustands in Frankreich werden die warmen und tröstlichen Erinnerungen an Algerien für den Protagonisten noch beeindruckender.

  • 14 „eines traurigen Abends schlug der Regen wütend gegen die Scheiben seiner Fenster“
  • 15 „die friedliche Sonne erhob sich über der toten Tiefebene. Welch herrlicher und strahlender Fried (...)
  • 16 „Ein eisiger Windstoß schüttelte die Rahmen und Scheiben seiner Fenster in Marseille.“
  • 17 „Vor seinen bezauberten Augen zog ein einzigartiges, unvergessliches Schauspiel vorbei, eine Visi (...)
  • 18 „Die kalte und dunkle Nacht war auf diese Stadt herabgekommen, in der er sich immer mehr allein u (...)
  • 19 „Am nächsten Tag brach er fiebrig auf, brennend darauf, zu sehen und zu fühlen und eine andere Re (...)

Le présent (Marseille)

Le souvenir (Algerien)

„[...] par un soir triste, la pluie battait furieusement les vitres de sa fenêtre“14 (Eberhardt, 1990: 202)

„[...] le soleil paisible se levait au-dessus de la plaine morte [...] Quelle paix radieuse et souriante!“15 (Eberhardt, 1990: 202)

„Une rafale glacée vint secouer le châssis et les vitres de sa fenêtre de Marseille.“16 (Eberhardt, 1990: 204)

„Devant ses yeux émerveillés, il vit passer alors un spectacle unique, inoubliable, une vision du vieil Orient fabuleux.“17 (Eberhardt, 1990: 202)

„La nuit froide et obscure était descendue sur cette ville, où il se sentait plus seul et plus étranger.“18 (Eberhardt, 1990: 204)

„Le lendemain, il partait enfiévré, ardent de voir et de sentir, pour une autre région de cette Afrique qui l'attirait invinciblement [...]“19 (Eberhardt, 1990: 205)

19Das Fenster trennt Außen und Innen; den winterlichen Sturm in Marseille von der wärmenden Erinnerung Algeriens, die im Innenraum konstruiert wird. Der Protagonist verbindet seinen Gegenwartszustand, einen einsamen Abend im winterlich kalten Marseille, mit negativen Gefühlen der Fremdheit, Einsamkeit, Traurigkeit und Isoliertheit. Im Gegensatz dazu konstruiert er sich in seiner Erinnerung eine orientalische Utopie mit einer friedlichen und trostspendenden Sonne, zu der er flüchtet. Er wählt die Fiktion, in der er Zuflucht findet, weil ihm die Realität unerträglich erscheint. Vor seinem inneren Auge ziehen die Bilder geradezu filmbildartig vorbei, eine literarische Inszenierung, die an die sich im späten 19. Jahrhundert entwickelnde Kinematographie erinnert, wie Sabine Boomers feststellt: „Ähnlich einer filmischen Vorführung, die wesentlich mit Dunkelheit und körperlicher Ruhigstellung verknüpft ist, entsteht hier eine unmittelbare Beziehung zwischen der Beobachterin und den ,laufenden Bildern‘, die erst in ihrer Verinnerlichung ,stimmig‘ werden.“ (Boomers, 2000: 18)

20Auch wenn er sich nicht physisch von seinem Standort wegbewegen kann, reist der Ich-Erzähler mental, um Trost und Frieden in einem Anderswo zu finden. „Über die Konstruktion einer unzugänglichen, selbstmächtigen Natur soll der eigenen Haltlosigkeit und Instabilität des Selbst Einhalt geboten werden. [...] Der Versuch, das Fremde zu bewahren impliziert im Umkehrschluss die Rettung des Eigenen.“ (Boomers, 2000: 20) Seine Erinnerung idealisiert ein stereotypes Bild des orientalischen Raumes, der warm, hell, friedlich und attraktiv ist. Dieses Beispiel zeigt die starke Subjektivität, die den Erzähler emotional an das orientalische Land bindet.

21Unter anderen Umständen könnte die Mittelmeer-Metropole Marseille mit ihrem wichtigen Hafen, den Schiffen von und nach Afrika, und all ihren charakteristischen, mediterranen Elementen als ein Ort der Verbindung angesehen werden. Doch in dieser Kurzgeschichte wird Marseille ganz klar als eine europäische, westliche Stadt definiert, die sich vom orientalischen Raum abgrenzt, nach dem sich der Protagonist sehnt. Die winterliche Atmosphäre in Marseille wird als kalt, feucht und ungastlich beschrieben und steht in schroffem Gegensatz zur süßen Erinnerung.

Schwellen-, Grenz- und Übergangsräume

22Die angesichts des orientalischen Raumes angestoßenen Transformationsprozesse der Figuren nehmen insbesondere an Schwellen-, Grenz- und Übergangsräumen Form an, was in der Folge anhand der spezifischen Orte des Hafens und des Eingangstors gezeigt wird. Bei der Klassifizierung dieser räumlichen Sonderplätze wird auf die Konzepte Foucaults (Heterotopie) und Turners (Schwellenraum) zurückgegriffen.

Der Hafen als Heterotopie und Grenzraum

23Auch wenn Marseille als Stadt in Nostalgies nicht als Übergangsraum fungiert, gibt es doch spezifische Orte in Marseille, die über sich selbst hinausweisen und auf charakteristische Weise ein Anderswo evozieren. Michel Foucault etabliert den Begriff der ,Heterotopie‘, um von diesen Gegenräumen zu sprechen, die das Imaginäre beherbergen. Es handelt sich dabei um konkretisierte und lokalisierte Utopien, Orte, an denen sich verschiedene, oft widersprüchliche Räume und Bedeutungen überlagern und die oft auch heterochron sind, also die Zeit entweder anhalten, eternisieren oder aufheben (Foucault, 1966).

24Nicht zufällig sitzt der Protagonist von Nostalgies in Marseille am Quai de la Joliette, der charakteristischen Küstenstraße, die direkt am Hafen liegt, wo die Schiffe von und nach Algerien an- und ablegen, um in seinen Erinnerungen zu schwelgen. Der Hafen grenzt ans Meer, er lässt bereits das Land am anderen Ende erahnen und beherbergt internationale Elemente, deswegen hat er für den Protagonisten eine besondere Bedeutung. Sein Aufenthalt am Hafen birgt die ideale Umgebung, um für einen Augenblick dem Alltag zu entfliehen und zu träumen. Verschiedenste kleine Sinnesreize wecken die Erinnerungen an das Sehnsuchtsland Algerien: die arabische Sprache, die am Hafen an allen Ecken und Enden hörbar ist, eine orientalische Musik, das Ertönen eines Horns oder spezifische Gerüche.

  • 20 „Während seiner fernen und aufeinanderfolgenden Exile genügten seiner auserwählten Seele ein arab (...)

„Ainsi, en son âme élue, lors de ses lointains et successifs exils, il lui suffisait d’une parole aux consonances arabes, d’une musique d’Orient, même d’une simple sonnerie de clairon derrière le mur d’une caserne quelconque, d’un parfum, pour évoquer, avec une netteté voluptueuse, si intense qu’elle touchait à la douleur, tout un monde de souvenirs de la terre d’Afrique [...]“20 (Eberhardt, 1990: 200)

25Die Erinnerung an Algerien wird auf synästhetische Weise geweckt, indem sich in ihr verschiedene Sinneseindrücke, in diesem Fall akustische und olfaktorische, überlagern. Reges Leben herrscht am Hafen von Marseille, „choses chaotiques“ (Eberhardt, 1990: 201), wie es im Text heißt. Es kommt zu einer Vermischung von europäischen und afrikanischen Elementen, denn vermehrt ist neben der französischen auch die arabische Sprache zu hören, Leute aus verschiedenen Ländern kommen an und fahren ab, der Hafen ist ein Begegnungsort mehrerer Welten. Es handelt sich um einen Grenzraum, einen Ort des Aufeinandertreffens und des Übergangs, des Ankommens und Abreisens.

Das Eingangstor der Zaouïa als Schwellenraum

26Victor Turner befasst sich mit Übergangsritualen verschiedener Gesellschaften und definiert die Schwelle als den Übergangszustand von einem Status zum anderen (Turner, 1977: 37). Der Schwellenraum weist Parallelen zu Foucaults Heterotopie auf, allerdings charakterisiert sich der Schwellenraum durch einen Davor- und einen Danach-Zustand und seine unmittelbare Nähe zu einer Grenze. Der Schwellenraum ist Teil einer Grenzüberschreitung, er muss durchschritten werden, um fassbar zu werden, wohingegen eine Heterotopie von einer Richtung kommend betreten und in dieselbe Richtung wieder verlassen werden kann. In der Perspektive einer Reise kann der Hafen von Marseille ebenso als Schwellenraum gelesen werden, da er somit das Dazwischen markiert, aber für in Marseille Wohnende bildet er eine Heterotopie, die von einer Seite zugänglich ist. Der Schwellenraum steht für eine konkrete Grenzüberschreitung und Transformation des Individuums, während die Heterotopie ein momentanes Heraustreten aus dem Alltag ermöglicht und zum Träumen anregt.

  • 21 „Jeden Morgen zur Stunde des Sonnenaufgangs, kam ich und setze mich unter den Portalvorbau der za (...)

27Die Schwelle findet in Eberhardts Texten oft einen ganz konkreten, räumlichen Ausdruck, zum Beispiel in Form eines Eingangstors, wie im ersten Satz von La Zaouïa: „Tous les matins, à l'heure où le soleil se levait, je venais m'assoir sous le porche de la zaouïa Sidi Abd er Rahman, à Alger“21 (Eberhardt, 1990: 89). Der Portalvorbau bildet den ersten Schwellenraum, in den sich die Protagonistin begibt, noch bevor sie den Gebetsraum betritt. Hier wartet sie im dämmernden Morgen auf die aufgehende Sonne, der Ort ist also ein Übergangsort zwischen Nacht und Tag, aber auch zwischen profaner und sakraler Welt, der Eingangsbereich in einen heiligen Raum. Erst nach dem Überschreiten dieser Schwelle gelangt die Protagonistin in den Innenraum der Zaouïa. Dass es sich bei der Schwelle der Zaouïa um eine Pufferzone zwischen zwei gegensätzlichen Welten handelt, wird in den folgenden Zitaten deutlich, die andeuten, woher die Protagonistin kommt, um zu beten:

  • 22 „[...] ich hatte meine Nacht damit verbracht, mich unvorsichtig in den gefährlichen Vierteln heru (...)
  • 23 „[...] ich verbrachte meine Nächte mit extrem riskanten Ausflügen oder an schlechten Orten, an de (...)

„[...] j'avais passé ma nuit [...] à rôder imprudemment dans des quartiers dangereux [...]“22 (Eberhardt, 1990: 90), „[...] je passais mes nuits en courses extraordinairement risquées ou dans les mauvais lieux où je contemplais des scènes invraisemblables dont plusieurs finirent dans le sang répandu en abondance. Je connaissais un nombre infini d'individus tarés et louches, de filles et de repris de justice qui étaient pour moi autant de sujets d'observation et d'analyse psychologique. J'avais aussi plusieurs amis sûrs qui m'avaient initiée aux mystères de l'Alger voluptueuse et criminelle“23 (Eberhardt, 1990: 90).

28Die Protagonistin erkundet nachts die dunkle Seite von Algier und begibt sich dabei selbst in Gefahr, indem sie durch gefährliche Stadtviertel streunt und Zeugin von blutigen Auseinandersetzungen wird. Sie gibt vor, die beteiligten Personen zu beobachten und einer psychologischen Analyse zu unterziehen, was als Vorwand dient, um sich den Randexistenzen zu nähern, von denen sie sich magisch angezogen fühlt. Die Wortwahl zeigt, welchen Reiz dieses zwielichtige Milieu auf die Protagonistin ausübt. Die Tatsache, dass Freunde sie in „Mysterien eingeführt“ (Eberhardt, 1990: 90) hatten, machen sie zu einer Auserwählten, die eine Schwelle überschritten hat und Zugang zu einem exklusiven Wissen und Erleben hat, ein Privileg, das nicht allen zuteil wird. Die Nebeneinandernennung der Begriffe „sinnlich“ und „kriminell“ suggerieren die Attraktivität des Verbotenen. Obwohl ihr bewusst ist, dass ihr Verhalten unvorsichtig und riskant ist, gibt sie dem inneren Drang nach, um ihren Durst nach Abenteuern und Grenzerfahrungen zu stillen.

29Morgens begibt sie sich zur Zaouïa, um sich von ihren wilden Nächten zu erholen, um innerlich zur Ruhe zu kommen und um sich spirituell zu reinigen. Die Zaouïa ist ein Ort der Transformation und der Reinigung, ein Ort zwischen zwei Extremen, den die Protagonistin aufsucht, um einen Umbruch zwischen ihren gefährlichen Abenteuern bei Nacht und ihren Plänen bei Tag zu markieren.

  • 24 „Ich ging raus und setzte mich vor das Tor, als alle weggegangen waren.“

30Turner stellt fest, dass bei dem rituellen Prozess ein Subjekt aus seiner gewohnten Umgebung herausgenommen, transformiert und wieder in die Gesellschaft eingesetzt wird (Turner, 1977: 37). Die Protagonistin begibt sich in die Zaouïa und kommt verwandelt und gereinigt wieder heraus. Es handelt sich um eine Art der Wiedergeburt, was im Text mit „renouveau de tout mon être“ (Eberhardt, 1990: 91) ausgedrückt wird. Nach Ende des Gebets, als die Protagonistin die Zaouïa wieder verlässt, wählt sie erneut den Eingangsbereich, um dort auf ihren Freund zu warten. „Moi, je sortais, et je m'asseyais sur le pas de la porte, quand tout le monde était parti“24 (Eberhardt, 1990: 90).

Stufenweise Assimilation

31Im Text M'Tourni ist es schwierig, Übergangsräume auszumachen. Der Protagonist befindet sich auf einem stufenweisen Übergang zur Assimilation. János Riesz (2007) benennt das Phänomen der ,acculturation à rebours‘ als eine umgekehrte Dynamik der Anpassung in einem kolonialen Kontext, in dem sich normalerweise indigene Kulturen der okzidentalischen Zivilisation unterwerfen. Er untersucht umgekehrte Beispiele in der Literatur, in denen Europäer*innen eine indigene Kultur annehmen und ihre Ursprungskultur ablegen und ablehnen (Riesz, 2007). In diese Logik kann der Text ,M'Tourni‘ eingeschrieben werden, dessen Protagonist Fraugi nach und nach die kulturellen Grenzen überschreitet.

  • 25 „Die Männer in Burnous mit ihren langsamen Bewegungen und mit ihrer unverständlichen Sprache erwe (...)

32Sein erster Schritt ist die Reise in die Kolonie, von der Fraugi sich Geld verspricht, mit dem er so bald wie möglich in sein Heimatland Italien zurückreisen will, um sich dort ein bescheidenes Haus zu bauen. Er bezwingt also zuerst die geographische Grenze zwischen Europa und Afrika, indem er Italien hinter sich lässt und einen neuen Lebensabschnitt in Algerien beginnt. Er bricht nicht alleine auf, sondern mit einigen Kameraden, und sie lassen sich zu Beginn in den großen Städten in Küstennähe nieder, in denen die europäischen Einflüsse stark sind. Ein Kontakt mit den Einheimischen ist beinahe nicht vorhanden und Fraugi nimmt ihnen gegenüber eine misstrauische, fast feindliche Haltung ein. Die Beziehung ist von Unverständlichkeit und Abneigung geprägt. „Les hommes en burnous, aux allures lentes, au langage incompréhensible, lui inspiraient de l'éloigenement, de la méfiance, et il les coudoya dans les rues, sans les connaître“25 (Eberhardt, 1990: 342)

33Nach einigen Jahren wird Fraugi eine Arbeit in einem Saharadorf angeboten und er akzeptiert diese aus Interesse an dem Geld. Für den Protagonisten beginnt ein neues Abenteuer, denn er begibt sich nun allein an einen neuen Ort und wechselt von einer urbanen in eine rurale Umgebung. Damit taucht er zum ersten Mal tiefer in die neue Kultur ein und beginnt seinen Assimilationsprozess. Nach einer langen Anreise voller intensiver landschaftlicher Eindrücke erreichen sie das Saharadorf. Dort ist es ruhig und friedlich und Fraugis Mitarbeiter arbeiten langsam und singen dabei melancholische Melodien. Der Assimilationsprozess nimmt seinen Lauf, als Fraugi beginnt, sich in der neuen Umgebung wohl zu fühlen, Sympathie für seine Mitmenschen zu empfinden und sich zu öffnen. Er wird gut behandelt, nach und nach versteht er die Sprache, beginnt mit seinen Mitmenschen zu sprechen und die Abende mit ihnen zu verbringen. Bald interessiert er sich auch für die neue Religion, stellt Fragen und denkt nach.

  • 26 „Nach und nach, im Laufe der süßen Monotonie der Dinge, hörte er auf, sich eine Rückkehr in sein (...)

„Peu à peu, dans la monotonie douce des choses, il cessa de désirer le retour au pays, il s'accoutumait à cette vie lente, sans soucis et sans hâte, et, depuis qu'il commençait à comprendre l'arabe, il trouvait les indigènes sociables et simples, et il se plaisait parmi eux“26 (Eberhardt, 1990: 344)

34Dieselbe Langsamkeit der Indigenen, die Fraugi bei seiner Ankunft Misstrauen eingeflößt hat, beginnt nun, ihm zu gefallen. Sie wird nun als „süße Monotonie“, als „Leben ohne Sorgen und ohne Hast“ umgedeutet und plötzlich positiv konnotiert.

35Eine wichtige Geste seitens des Protagonisten ist die Verlängerung seines Aufenthalts, als die Bauarbeiten, für die er gekommen war, beendet waren. Fraugi setzt sich nun aktiv für seine Zukunft ein, lässt sich in einem Haus im Dorf nieder, das er zuerst mietet und dann kauft.

36Der nächste Schritt der Assimilation besteht im Ablegen seiner europäischen Kleidung, die durch die starke Abnutzung kaputt gegangen war. Sein Freund kleidet ihn in arabische Kleidung, was ihm erst wie eine Verkleidung erscheint, woran er sich aber schließlich gewöhnt.

37Einige Zeit später fordert ihn sein Freund auf, zum Islam zu konvertieren und Fraugi willigt ein, da er sich innerlich bereits ohnehin zugehörig fühlt. Roberto Fraugi nimmt einen neuen Namen an und wird zu Mohammed Kasdallah. Er heiratet die Schwester seines Freundes und wird zu einem geschätzten und frommen Dorfmitglied.

38Ohne manifeste Übergangs- und Schwellenräume vollzieht Fraugi seine kulturelle Grenzüberschreitung sukzessive, indem er seine Sprache, seinen Kleidungs- und Lebensstil und seine Religion nach und nach an die neue Umgebung anpasst. Der Assimilationsprozess erfolgt beinahe automatisch und es wirkt so, als würde Fraugi den Weg des geringsten Widerstands wählen oder wehrlos in einen Sog geraten. In den meisten Fällen begnügt sich Fraugi damit, ja zu sagen, mitzuschwimmen und das, was ihm angeboten wird, zu akzeptieren. Nur in wenigen Fällen wird er selbst aktiv, um eine Entscheidung zu treffen und auch dann führt er einen Ratschlag oder eine Idee eines anderen aus. Obwohl sich Fraugis Leben fremdbestimmt gestaltet, scheint er mit dem Ergebnis zufrieden. Sein langjähriger Traum vom eigenen Haus und einem bescheidenen Leben hat sich für ihn unerwarteterweise auf einem anderen Kontinent realisiert.

39Anhand der angeführten Textbeispiele wurde dargelegt, auf welche Weise Eberhardt in ihren Texten einen idealisierten Orient konstruiert und welche Elemente bzw. Orte dabei eine konstitutive Rolle spielen. Weiter wurde gezeigt, wie die räumliche Grenzüberschreitung in diesen konstruierten Orient und die damit einhergehenden Alteritätserfahrungen die literarischen Figuren zu inneren Transformationen anregen, die in weitere Grenzüberschreitungen münden, zum Beispiel die kulturelle Assimilation und die religiöse Konversion.

40In einer urbanen Umgebung werden typische, orientalisch markierte Gebäude evoziert und in einer ruralen Umgebung wird die Vegetation mit ihren spezifischen, mediterranen Pflanzen beschrieben. Es handelt sich dabei um Elemente, die oft kontrastiv dem Okzident gegenübergestellt werden. Die Charakterisierung des orientalischen Raums und seiner Grenzen funktioniert durch Kontraste und Ausschluss: Der orientalische Raum ist das, was der okzidentalische Raum nicht ist. Die Darstellung des Orients im Text ist ohne die Dimension des Okzidents undenkbar. Jean-Marc Moura macht darauf aufmerksam, dass die Darstellung des fremden Landes die Grenzen der Herkunftsgesellschaft aufzeigt, indem sie darauf verweist, was fundamental eigen und fremd ist (Moura, 1992). Wenn man sich vor Augen führt, an welches Publikum Eberhardt sich wendet, nämlich ein europäisches, an Orientreisen interessiertes Publikum, so enttäuscht die Autorin keine Erwartungen: Sie liefert ein typisches Bild des idealisierten und exotischen Orients voller Farben. Eberhardt schreibt sich somit in die literarische Tradition Orientalismus ein, wie ihn Flaubert, Nerval oder Loti geprägt haben.

41Dennoch bergen Eberhardts Texte auch Momente der Überraschung, die mit den Erwartungen der Leser*innenschaft brechen. Beim Lesen der Erzählungen fällt auf, dass in ihnen viele liminale Orte vorkommen, die einerseits einen Endpunkt symbolisieren und andererseits die Frage nach dem Danach oder dem Dahinter aufwerfen. Somit birgt die Grenze stets das Potential der Überschreitung im Sinne eines Ausbrechens aus Konventionen. Diese Überschreitung kann an einen symbolisch geladenen Ort gekoppelt sein, der im Sinne von Foucaults Heterotopie über sich selbst hinausweist und so die Protagonist*innen zum Heraustreten aus dem Alltag einlädt und zum Träumen anregt. Die Texte inszenieren dynamische und wandelbare Figuren, die in unkonventionellen Reisen an verschieden geartete Grenzen stoßen und diese oft übertreten. Ob Hafen, Pforte oder schattiger Torbogen, die Figuren suchen Schwellen-, Grenz- und Übergangsräume auf, um eine innerliche oder äußerliche Transformation zu durchlaufen. Das Stadium der Liminalität, von dem Turner spricht, vollzieht sich in den Texten an vielen Stellen räumlich konkretisiert. Die bewegte und bewegende Suche nach Sinn und Identität der Hauptfiguren wird durch interkulturelle Begegnungen greifbar und öffnet neue, oft kritische Sichtweisen auf die koloniale Ordnung. Außerdem tragen die vielseitig inszenierten Grenzüberschreitungen zur (subtilen) Infragestellung von hegemonialen Konventionen, die Rollenbilder und patriarchale Gesellschaftsmodelle betreffen, bei. Dabei geht Isabelle Eberhardt über die topographische Komponente der Grenze hinaus und kombiniert sprachliche, kulturelle und geschlechtliche Grenzüberschreitungen in ihren Texten, die zu einer vertiefenden Auseinandersetzung mit verschieden gearteten Transgressionen anregen.

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Bibliographie

Boomers, Sabine (2000): „Cette dure vie du désert ...“ Isabelle Eberhardts Selbstverbannung in die Sahara, in: Historische Anthropologie, 12.1, S. 4-34.

Eberhardt, Isabelle (1990): Œuvres complètes II. Écrits sur le sable. Nouvelles et roman. Édition établie, annotée et présentée par Marie-Odile Delacour et Jean-René Huleu, Paris.

Foucault, Michel (2013): Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge. Berlin.

Kobak, Annette (1989): Isabelle. The life of Isabelle Eberhardt, New York.

Moura, Jean-Marc (1992): L'imagologie littéraire, essai de mise au point historique et critique, in: Revue de Littérature Comparée, 66.3, S. 271–287.

Riesz, János (2007): L’acculturation « à rebours ». Un thème littéraire dans la longue durée » [online], letzter Zugriff am 14.05.2021.URL: https://0-www-cairn--int-info.catalogue.libraries.london.ac.uk/de-la-litterature-coloniale-a-la-litterature--9782845868953-page-87.htm

Said, Edward W. (1978): Orientalism, London.

Turner, Victor (1977): Variations on a theme of liminality, in: Sally F. Moore und Barbara Myerhoff (Hgg.), Secular ritual, Assen/Amsterdam, S. 36–52.

Ueckmann, Natascha (2001): Frauen und Orientalismus. Reisetexte französischsprachiger Autorinnen des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart und Weimar.

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Notes

1 Eberhardt, Isabelle und Victor Barrucand (1906): Dans l'ombre chaude de l'Islam, Paris. / Deutsche Übersetzung von Grete Osterwald (1983): Sandmeere 1 - Tagwerke, Im heißen Schatten des Islam, Reinbek bei Hamburg.

2 Eberhardt, Isabelle und Victor Barrucand (1920): Pages d'Islam, Paris. / Deutsche Übersetzung von Grete Osterwald (1983): Sandmeere 2 - Notizen von unterwegs, Vergessenssucher, Islamische Blätter, Reinbek bei Hamburg.

3 Eberhardt, Isabelle und Victor Barrucand (1923): Mes Journaliers, Paris. / Deutsche Übersetzung 1 von Grete Osterwald (1983): Sandmeere 1 - Tagwerke, Im heißen Schatten des Islam, Reinbek bei Hamburg. / Deutsche Übersetzung 2 von Julia Schoch (2018): Nomadin war ich schon als Kind: Meine algerischen Tagebücher, Wiesbaden.

4 Ausgehend von englisch- und französischsprachigen Autoren wie Nerval, Hugo und Flaubert breitete sich im Laufe des 19. Jahrhunderts die literarische Strömung des Orientalismus in Europa aus. Die Autoren suchten nach Inspiration und Exotik, die sie in den Kolonien im Nahen Osten bzw. in arabischsprachigen Ländern, dem so genannten Orient, fanden und verarbeiteten ihre Eindrücke literarisch.

5 „im antiken Schatten dieser heiligen Moschee des Islam verspürte ich unsagbare Gefühle, als ich die feste und starke Stimme des Imams hörte, der diese alten Parolen des muslimischen Glaubens psalmodierte, in dieser schönen arabischen Sprache, klangvoll und männlich, musikalisch und kraftvoll [...]“ (diese und alle folgenden Übersetzungen ins Deutsche von der Autorin)

6 „Es waren Stunden der Glückseligkeit, die ich dort verbrachte, Stunden der inneren Versenkung und des Friedens, der Erneuerung meines ganzen Seins, der Ekstase und Berauschtheit, auf dieser steinernen Stufe sitzend, im frischen Schatten dieser schönen, ruhigen Zaouïa.“

7 „Nun, auf dem Kai von Marseille, im Schatten der großen Kathedrale, die nicht den geringsten Hoffnungsschimmer in ihm weckte, war auch die Morgendämmerung nur von einem anderen Tag schön.“

8 „Erinnerungen an den Boden Afrikas“

9 Said, Edward W. (1978): Orientalism, London, p. 40.

10 „Sie durchquerten den tief eingebetteten Oued. Der dämmernde Morgen brachte die Umgebung zum Schillern: die alten Häuser aus Toub und die Koubba der Sahara mit ihren bizarren Formen.“

11 „dunkle Wälder, in denen anmutig Farne an den Ufern der Bäche wachsen“

12 „Umrisse von jungen Palmen“

13 „Ein paar verkümmerte Feigenbäume wuchsen im Hintergrund rund um einen warmen Brunnen, dessen Brackwasser in die Seguia floss, wo sich rötliches Salz und weißer Salpeter in launischen Fluten versammelten.“

14 „eines traurigen Abends schlug der Regen wütend gegen die Scheiben seiner Fenster“

15 „die friedliche Sonne erhob sich über der toten Tiefebene. Welch herrlicher und strahlender Frieden!“

16 „Ein eisiger Windstoß schüttelte die Rahmen und Scheiben seiner Fenster in Marseille.“

17 „Vor seinen bezauberten Augen zog ein einzigartiges, unvergessliches Schauspiel vorbei, eine Vision des fabelhaften alten Orients.“

18 „Die kalte und dunkle Nacht war auf diese Stadt herabgekommen, in der er sich immer mehr allein und fremd fühlte.“

19 „Am nächsten Tag brach er fiebrig auf, brennend darauf, zu sehen und zu fühlen und eine andere Region dieses Afrikas zu entdecken, das ihn unwiderstehlich anzog.“

20 „Während seiner fernen und aufeinanderfolgenden Exile genügten seiner auserwählten Seele ein arabisch klingendes Wort, orientalische Musik, sogar ein einfaches Signalhorn, das hinter der Mauer irgendeiner Kaserne ertönte, oder ein Geruch, um mit einer üppigen Klarheit, so intensiv, dass sie an Schmerzen grenzte, eine ganze Welt voller Erinnerungen an das Land Afrika hervorzurufen. [...]“

21 „Jeden Morgen zur Stunde des Sonnenaufgangs, kam ich und setze mich unter den Portalvorbau der zaouïa Sidi Abd er Rahman, in Algier.“

22 „[...] ich hatte meine Nacht damit verbracht, mich unvorsichtig in den gefährlichen Vierteln herumzutreiben“

23 „[...] ich verbrachte meine Nächte mit extrem riskanten Ausflügen oder an schlechten Orten, an denen ich Zeugin von den unwahrscheinlichsten Szenen wurde, von denen viele in einem reichlichen Blutvergießen endeten. Ich kannte eine unendliche Zahl an Zwielichtigen und Verrückten, Dirnen und Straffällige, die für mich Objekte der Beobachtung sowie der psychologischen Analyse waren. Ich hatte auch einige verlässliche Freunde, die mich in die Mysterien des sinnlichen und kriminellen Algiers eingeführt hatten.“

24 „Ich ging raus und setzte mich vor das Tor, als alle weggegangen waren.“

25 „Die Männer in Burnous mit ihren langsamen Bewegungen und mit ihrer unverständlichen Sprache erweckten in ihm Befremdung und Misstrauen, und er stieß in den Straßen auf sie, ohne sie zu kennen.“

26 „Nach und nach, im Laufe der süßen Monotonie der Dinge, hörte er auf, sich eine Rückkehr in sein Heimatland zu wünschen, er gewöhnte sich an dieses langsame Leben ohne Sorgen und ohne Hast und seit er begonnen hatte, Arabisch zu verstehen, fand er die Indigenen gesellig und einfach und es gefiel ihm unter ihnen zu sein.“

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Pour citer cet article

Référence électronique

Irene Stütz, « Orientdarstellung und Grenzräume bei Isabelle Eberhardt »Trajectoires [En ligne], 15 | 2022, mis en ligne le 20 juin 2022, consulté le 17 janvier 2025. URL : http://0-journals-openedition-org.catalogue.libraries.london.ac.uk/trajectoires/8196 ; DOI : https://0-doi-org.catalogue.libraries.london.ac.uk/10.4000/trajectoires.8196

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Auteur

Irene Stütz

Doktorandin in Romanistik, Universität Wien

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Droits d’auteur

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