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Echos
Entre littérature et sociologie, entre vie et écriture

Certeau on the Run

Überlegungen zum soziologischen Schreiben
Daniel Ellwanger

Résumés

Cet article examine l’étude ethnographique On the Run d’Alice Goffman, en explorant des usages littéraires et narratifs de l’écriture qui semblent habituellement étrangers aux textes sociologiques. Ce faisant l’article interroge les tensions qui résultent de ces emplois. En s’appuyant sur les réflexions de Michel de Certeau dans les Arts de faire, l’article argumente qu’il est possible de décrire les ruses quotidiennes et les pratiques fugitives que le regard de la théorie sociologique a l’habitude d’invisibiliser. Ainsi l’article interroge le potentiel des procédures narratives et littéraires pour l’écriture sociologique et leur crédibilité ethnographique.

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Texte intégral

„What does the ethnographer do?” – [s]he writes”
(Geertz 1973: 19).

  • 1 Der Ausdruck wissenschaftlich wird an dieser Stelle weder normativ noch affirmativ gebraucht, sonde (...)

1Dieser explorative Beitrag beginnt mit zwei Beobachtungen soziologischen Schreibens, die eine fachhistorischer, die andere zeitdiagnostischer Natur. Fachhistorisch lässt sich beobachten, dass die Soziologie nur spärlich ihre eigene Entstehungsgeschichte sowie ihre Entstehungsbedingungen in Bezug auf die Literatur hin befragt hat. Die maßgebliche Studie zu diesem Thema von Wolf Lepenies Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft (Lepenies 1988) berichtet mit den Mitteln einer Intellektuellensoziologie von den konflikthaften Auseinandersetzungen der Soziologie mit der Literatur um den Status als legitime Orientierungswissenschaft der modernen Gesellschaft. War im Laufe des 19. Jahrhunderts noch gar nicht genau abzusehen, wie sich literarische und soziologische Beschreibungen der modernen Gesellschaft unterscheiden, stellen sich die Weichen für eine Soziologie als Wissenschaft mit der Konsolidierung und Rezeption der Soziologie als akademischem und wissenschaftlichem Fach im beginnenden 20. Jahrhundert. ‚Legitimes‘ soziologisches Denken, Forschen und Schreiben wird damit immer zuerst am Anspruch der Wissenschaftlichkeit1 gemessen. Dass diese Auseinandersetzung der wissenschaftlichen Soziologie mit der Literatur ein Fort- und Nachleben hat, lässt sich gut an folgender Äußerung Ralf Dahrendorfs erkennen, die dem Vorwort zur Taschenbuchausgabe von Erving Goffmans Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag aus den späten 1960er-Jahren entnommen ist. In Bezug auf den Stil der Texte Erving Goffmans ebenso wie Georg Simmels diagnostiziert Dahrendorf: „Für die Soziologie sind diese bedeutenden Autoren immer ein wenig ärgerlich. Sie gehen so unprätentiös an die Grundlagen der Disziplin, daß man daran zu zweifeln beginnen könnte, ob diese Disziplin denn nun den literarischen oder den exakten Wissenschaften zuzuordnen ist“ (Dahrendorf 1983: IX). Dieses „Ärgernis“ und die Unsicherheit der Verortung – literarisch vs. exakt, erzählen vs. beschreiben – taucht in jüngster Zeit, hierin liegt die zeitdiagnostische Beobachtung, in einer Variante wieder im soziologischen Diskurs auf: in der Soziologie gewinnt die Auseinandersetzung mit akademischen Schreibformen Bedeutung, so der Soziologe Andreas Reckwitz in einem Gespräch mit dem Soziopolis-Redakteur Martin Bauer (Reckwitz, Bauer 2021). Reckwitz führt dies darauf zurück, dass die qualitative Sozialforschung in den letzten Jahren einen neuen Stellenwert genieße, woraufhin sich eine Reflexion über das Schreiben von Wissenschaft insbesondere im Bereich der Ethnografie bemerkbar mache (vgl. ebd.).

  • 2 Wobei hier auch gleich hinzugefügt werden muss, dass ein solches Forschungsvorgehen, das auf die Üb (...)
  • 3 Wie mit dem Label ‚Theorie‘ gearbeitet wird, soll im weiteren Verlauf noch Gegenstand der Diskussio (...)

2Der Artikel nimmt diese Hinweise auf und widmet sich exemplarisch einer jüngeren ethnografischen Arbeit. Im Jahr 2014 erschien die viel diskutierte ethnografische Monografie von Alice Goffman mit dem Titel On the Run auf dem US-amerikanischen Buchmarkt. Für die deutsche Übersetzung übernahmen die Übersetzer:innen den Titel der englischen Vorlage, gaben der Übersetzung des Buches jedoch einen anderen Untertitel, nämlich: Die Kriminalisierung der Armen in Amerika. So sehr dieser für die deutsche Fassung gewählte Untertitel auch auf das zentrale Thema der Studie verweist, entgeht ihm hierdurch auch etwas, das die englische Version ankündigt: Fugitive Life in an American City. Dieser Untertitel verweist auf die Dimension des flüchtigen Lebens, des Alltags auf der Flucht und das heißt auch: auf prekäre (Un-)Sichtbarkeit. Hiermit ist bereits ein Aspekt benannt, der in diesem Beitrag eine Rolle spielen soll. Um die Orte, die Alltagspraktiken und die Ausmaße von Überwachung und Kriminalisierung ihrer Feldinformant:innen anschaulich zu machen, begibt sich Alice Goffman über einen mehrjährigen Zeitraum in ein Wohnviertel in Philadelphia. Sie legt in ihrer Untersuchung eine „ethnografische Immersionsperformanz“ (Niermann 2020) vor, die darauf abzielt, die fieldsite detailliert zu erkunden und in dieser Lebenswelt aufzugehen. Aus diesem ethnografischen Forschungsvorgehen geht ein soziologischer Text hervor, dessen Schreibformen und Narrative anhand von Überlegungen Michel de Certeaus zur Heterogenität und Flüchtigkeit von Alltagspraktiken reflektiert werden sollen2. Mein Beitrag wählt beide Autor:innen aus, da sie sich in dem Bemühen überschneiden, flüchtige Alltagspraktiken sichtbar und beschreibbar zu machen. Die These, die mit Certeau formuliert wird, lautet, dass Soziologie durch theoretisierende3 Zugriffe flüchtige Handlungsweisen (manières de faire) und Finten des Alltags aus dem Blick verliert. Dagegen erlaubt womöglich eine narrative Beschreibung solcher Handlungsweisen einen anderen Umgang mit ihnen. Wie dies in einen Bezug zu soziologisch-ethnografischen Schreibformen gesetzt werden kann, die über die etablierten reziproken Ausschlüsse von Soziologie und Literatur hinausgehen, das möchten die weiteren Abschnitte diskutieren.

Die blinden Flecken der Theorie

3Wenn der vorliegende Text vorschlägt, mithilfe von Überlegungen Michel de Certeaus im ethnografischen Schreiben Goffmans ein Bemühen um die Erzählung von Alltagspraktiken und Fluchttaktiken erkennbar werden zu lassen, so geht es hierbei nicht darum, durch Certeaus Begriffe den Text Goffmans zu theoretisieren. Dieses Vorgehen wird schon dadurch erschwert, dass Certeau selbst keine ‚systematische Theorie‘ liefert, die sich einfach anwenden ließe. Certeaus Buch L’invention du quotidien I. Arts de faire (1990), auf das im Folgenden Bezug genommen wird, ist ein Text, der sich kritisch mit den Begriffsinstrumenten und Erkenntnisweisen der Soziologie auseinandersetzt. Dieser Auseinandersetzungen wohnt eine Diskussion soziologischer Theorie und theoretischem Wissen inne, die wiederum selbst keine stabilen theoretischen Begriffe liefert, die sich einfach an ihrem Gegenstand überprüfen ließen.

  • 4 „Es geht hier nicht darum, ein gleichermaßen flüchtiges wie fundamentales Thema darzustellen, sonde (...)

4Michel de Certeau formuliert in L’invention du quotidien I. Arts de faire eine epistemologische Kritik soziologischer Theoriekonzepte, die irreflexiv einen eigenen Objektivierungsbereich beschreiben und diese von ihnen selbst konstituierten Objekte mit ontologischen Eigenschaften ausstatten. Die Beschreibung sozialer Realität wird dadurch bloße Enthüllungsarbeit einer sozialen Wahrheit. Die Kritik Certeaus problematisiert den Anspruch auf eine objektive Wahrheit sozialer Tatschen, der typisch für solche Modi objektivierender Erkenntnis ist. Certeau verfolgt jedoch nicht die Absicht, an die Stelle des objektivierenden theoretischen Modus schlicht ein anderes theoretisches Paradigma zu setzen. Als kritische Analyse soziologischer Praxis geht seine Diskussion über den Bereich der Erkenntnismodi und der Theoriebildung hinaus, denn die Hegemonie der kritisierten theoretischen Verfahren – sogar die Idee der Theorie selbst – ruht nicht nur auf ihren analytischen und objektivierenden Verfahren, sondern vor allem auf der Tatsache, dass sie eine unhintergehbare Rolle in dem gespielt haben, was die moderne Gesellschaft als politisch, sozial und kulturell legitim definiert. Jede theoretische und analytische Arbeit fällt auch mit Operationen normativer Durchsetzung zusammen, die ihre Legitimität aus einer bestimmten, institutionell protegierten und verbreiteten Vorstellung von der Gesellschaft bezieht. Jedes Wissen ist damit Teil eines Machtnetzes, das es möglich und wirksam macht. Certeau geht es nun allerdings nicht so sehr darum, diese Kreuzungen und Verquickungen von Macht und Wissen darzulegen, sondern darum, sich darüber klar zu werden, was sich dieser Art des theoretischen Denkens über das Soziale entzieht und wie die Ausschlüsse problematisiert werden können. „Plus que de traiter un sujet aussi fuyant et fondamental, il s’agit de le rendre traitable“ (Certeau 1990, XXXV)4. So führt Certeaus Fragestellung an die Grenzen soziologischer Formen von Theorie, insofern dieser Bereich flüchtiger sozialer Praktiken Fragen aufwirft, die die Möglichkeit des Theoretischen selbst betreffen. Die soziologische Theorie konfrontiert Certeau mit dem, worüber sie einen Deckmantel werfen musste, um sich als Theorie und Wahrheitsregime konstituieren zu können (vgl. hierzu Geldof 2007: 116f.).

  • 5 Certeaus L‘Invention du quotidien I enthält darüber hinaus eine kritische Lektüre Michel Foucaults (...)
  • 6 „So gibt es eine eigenartige Kombination eines ‚ich weiß nur zu gut‘ (dieses listige und überschrei (...)

5Certeau erschließt sich diese Position unter anderem in kritischer Auseinandersetzung mit Pierre Bourdieus Begriff des Habitus5. In Bourdieus Texten erkennt Certeau eine Ambivalenz: einerseits würdigt er den Ethnologen Bourdieu und seinen genauen Blick für die Praktiken des Alltags; andererseits entgeht Certeau nicht, dass für die Genese und Aktualisierung der Praktiken eine zentrale Theoriefigur gibt, den Habitus, der die Praktiken auf eine Struktur zurückführt und damit die Praxis mit einer sozio-ökonomischen Totalität übereinstimmen lässt. „Etrange combinaison d’un ‚je sais bien‘ (cette prolifération rusée et transgressive) et d’un ‘mais quand même’ (il doit y avoir un sens totalisant)“ (Certeau 1990: 94)6. Eine totalisierende Operation, die in Certeaus Augen problematisch ist, da die Praktiken ihren Stellenwert und ihre Bedeutung nur erlangen, indem sie auf ein Ganzes bezogen werden können, das sie selbst nicht sind.

6Die Frage, die L’invention du quotidien I durchzieht, lässt sich wie folgt zusammenfassen: Wie kann man ‚gewöhnliche‘, ‚alltägliche‘, ‚flüchtige‘ Handlungsweisen beobachten und beschreiben, ohne sie auf den Ausdruck einer (Sozial-)Struktur zu reduzieren? Mithilfe welcher Schreibweisen kann soziologische Forschung den pluralen, offenen und radikal heterogenen Charakter dessen, was als ‚Alltägliches‘ bezeichnet wird, sichtbar machen?

  • 7 „Der Ethnograph ‚schreibt‘ den sozialen Diskurs ‚nieder‘, er hält ihn fest. Indem er das tut, macht (...)

7Hier wird in Anschluss an Certeau das Problem deutlich, dass jede wissenschaftliche Beschreibung auch eine Einschreibung ist; sie verdrängt den Gegenstand, den sie zu bewahren versucht. Gerade für das ethnografische Schreiben ist diese Beschreibung allerdings eine zentrale Operation: „The ethnographer ‚inscribes‘ social discourse; he writes it down. In so doing, he turns it from a passing event, which exists only in its own moment of occurence, into an account, which exists in its inscriptions and can be reconsulted“ (Geertz 1973: 19)7. Michel de Certeau und Alice Goffman treffen sich nun darin, in ihrem Schreiben die Theorie an ihre Grenzen treiben, wobei sie auf Durchlässigkeiten und Schlupflöcher stoßen. Dabei könnte die implizite Fragestellung der Texte wie folgt lauten: Welche Schreibformen haben mehr ‚Erfolg‘ als andere mit der Beschreibung und Repräsentation des listigen Alltagslebens, der Alteritäten und Handlungsweisen, indem sie nicht einfach nur die Machtverhältnisse umkehren, sondern ein anderes Schreiben erproben, dessen Texte auf eine eigene Art findig sein müssten, dass ihnen die Abwesenheiten nicht entgehen? Ethnografisch-soziologisches Schreiben selbst kann so zu einer Kunst im Sinne einer Kunstfertigkeit werden. Certeaus Projekt wird hierbei durch eine Sensibilität für Stile und Künste (Kunst im Sinne von artes als eine Kunstfertigkeit, eine Handlungs- und Herstellungsweise) des Denkens und Handelns, Stile der Theorie und Künste der Praxis geleitet (vgl. dazu Füssel 2018: 16).

8Damit ist ein Motiv angedeutet, das die kritische Auseinandersetzung Certeaus um eine positive Ebene erweitert. Neigen die theoretischen Erkenntnismodi dazu, die Alltagspraktiken und Handlungsweisen zu homogenisieren, finden sich ihre Spuren außerhalb der Theorie in der Literatur wieder:

  • 8 „Hier finden [die Handlungsweisen] einen neuen Darstellungsraum, den der Fiktion, der mit alltäglic (...)

„[Les manières de faire] y trouvent un nouvel espace de représentation, celui de la fiction, peuplé par des virtuosités dont la science ne sait que faire et qui deviennent […] les signatures des micro-histoires de tout le monde. La littérature se mue en répertoire de ces pratiques dépourvues de copyright technologique. […] Autrement dit, des histoires fournissent aux pratiques quotidiennes l’écrin d’une narrativité“ (ebd.: 109 f.; Herv. i. O.)8.

9Literatur und Fiktion als Reservoir der Narrationen und Handlungsweisen, die den wissenschaftlichen Schreibformen nur mehr fremd gegenüberstehen. Certeau bleibt allerdings nicht dabei stehen, sich Literatur in diesem Sinne als Gegendiskurs zur wissenschaftlichen Theorie zu erschließen; durch seine Schreibweise eignet er sich literarische und narrative Verfahren: „In L’invention du quotidien I hängen die Chancen einer Soziologie des Alltäglichen von dem Maße ab, in dem die theoretische Schrift eine gewisse literarische Feinmaschigkeit und Aussagekraft entwickeln kann“ (Geldof 2007: 134). Die Schreibweisen werden also zu einem ausschlaggebenden Kriterium (vgl. ebd: 119). Für Certeaus soziologische Auseinandersetzung mit Praktiken und Handlungsweisen ist entscheidend, ‚wie‘ von den Praktiken und Handlungsweisen ‚erzählt‘ werden kann.

  • 9 „De Certeau stellt fest, dass die Fiktionen der literarischen Sprache wissenschaftlich für unbrauch (...)

10„De Certeau notes that the fictions of literary language were scientifically condemned (and esthetically appreciated) for lacking ‚univocity‘, the purportedly unambiguous accounting of natural science and professional history“ (Clifford 1986: 5)9. Das Problem der Darstellung und die Reflexion über Darstellungsformen, wie sie in Certeaus Text zu finden ist, sind lesbar als eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit Darstellungs- und Schreibformen in der Soziologie. Es geht in Certeaus Buch über die Alltagspraktiken und die Handlungsweisen also nicht nur darum, einen neuen Gegenstand und Untersuchungsergebnisse zusammenzutragen, sondern ebenso um eine implizite Kritik an Theoriestilen und Erkenntnismodi, die eine solche Perspektive nicht zulassen und hiermit die Forschungsgegenstände, die alltäglichen Handlungsweisen, die Aneignungen und Listen, die Certeau bearbeitet, gar nicht erst in den Blick bekommen. Damit ist nicht gesagt, dass es nicht schon soziologische Mikroperspektiven auf Alltagspraktiken gibt. Der Alltag sowie die „kleinen“ Handlungsweisen sind durchaus in vielen soziologischen Forschungsarbeiten Thema; dem totalisierenden theoretischen Blick entgeht allerdings, das alltägliche Handeln in seiner Praxisdimension, die Vielstimmigkeit des Alltags und die Widerständigkeit von Handlungsweisen darzustellen.

  • 10 Dass dies auch eine strategische und durchaus auch polemische Form der Theorieaneignung und-verarbe (...)

11Wie kann dann eine soziologisch-ethnografische Schreibform aussehen, die die Überlegungen des vorigen Abschnitts einholen kann? Dabei kann es logischerweise nicht darum gehen, in Certeaus Diskurs einfach ein Set von methodischen Vorgaben für ethnografische Arbeit und soziologisches Schreiben auszumachen, die dann ein wie auch immer adäquateres und vorhersehbares Ergebnis produzieren sollen. Soziale Praktiken im Vollzug zu begreifen hat Konsequenzen für deren textuelle Darstellung, die sich von der Kunst der Praxis anleiten lässt und so auch selbst als eine Kunstfertigkeit des Schreibens verfährt10. Dieses Schreiben erprobt dafür narrative Mittel, die dem totalisierenden Blick entgegenarbeiten, der die flüchtigen Alltagspraktiken als einen überschüssigen Rest außen vorlässt. Im Folgenden möchte mein Beitrag einige Merkmale von Goffmans Text sowie seiner Rezeption versammeln, die in diese Richtung deuten.

Ethnografie des Alltags – eine Soziologie des Flüchtigen?

12Alice Goffmans ethnografische Studie basiert auf einer mehrjährigen Forschung in einem Viertel in Philadelphia, Pennsylvania, das sie auf den fiktiven Namen 6th Street tauft, um die Identifikation ihrer Feldinformant:innen und deren Wohnorte zu verhindern. In dieser Umgebung lebt Goffman über sechs Jahre hinweg und begleitet das Leben der dort wohnenden Schwarzen Community. Für viele Bewohner:innen des Viertels ist der Alltag geprägt von immer wiederkehrenden Konfrontationen mit der Polizei und den Behörden; Verhaftungen, empfindliche Bewährungsauflagen, Hausdurchsuchungen und Verfolgungsjagden stehen an der Tagesordnung und bilden damit die zentralen Themen ihrer Untersuchung. Goffman beschreibt die sozialen Mechanismen, die die afro-amerikanische Unterschicht in einem in einem System polizeilicher Kontrollen und Überwachung gefangen hält. Die Polizeipräsenz verringert nicht das kriminelle Verhalten, sondern sie vergrößert es.

  • 11 „Die Kombination aus eingeschränkten Rechten und der Drohung mit extremen Sanktionen führt zu einer (...)

„The combination of restricted rights and threatened extreme sanction criminalizes everyday life as people work to circumvent their restrictions and avoid the authorities. We frequently see curfews as well as identity checks and searches being established, and the practices of evasion, hiding and secrecy becoming techniques for daily living“ (Goffman 2014: 203f.)11.

13Die Kriminalisierung der Schwarzen Community hält die Menschen in einer illegalen Untergrundwirtschaft gefangen. Fast zwangsläufig kommt es immer wieder zu Konfrontationen mit der Polizei, die oft Inhaftierungen nach sich ziehen.

  • 12 „Die hohe Kunst der Flucht“ (Goffman 2015: 45).
  • 13 „Zu den ersten Dingen, die solch ein Mensch entwickelt, gehört eine gesteigerte Aufmerksamkeit für (...)

14Eines der Schlüsselkapitel ihres ethnografischen Textes trägt den Titel „The Art of Running(Goffman 2014: 23)12 und bietet erzählerische Beschreibungen der Fluchttaktiken und Finten der Bewohner:innen der 6th Street, die der Repression und den Kontrollen der Polizei ausgesetzt sind. Diese Taktiken und Manöver, sich dem polizeilichen Zugriff zu entziehen, führt die Autorin in der Kapitelüberschrift als eine Kunst ein, die sich vor allem die jungen Männer in der 6th Street mithilfe ihrer Peergroup aneignen. Goffmans ethnografischer Blick interessiert sich dabei für die Perspektive der Überwachten, um von ihren alltäglichen Erfahrungen und Fluchttaktiken zu berichten: „One of the first things such a man develops is a heightened awareness of police officers […]. When they [die Bewohner der 6th Street; D.E.] sensed the police were near, they did what other young men in the neighborhod did: they ran and hid” (Goffman 2014: 23)13.

  • 14 Die verschiedenen Etappen, Sprecher:innen und beteiligten Disziplinen in dieser Debatte können hier (...)
  • 15 „erzählerische Tugenden und Freuden“, Übers. D.E.

15Einige Diskussion gab es um die Rolle Goffmans als Ethnografin in dem von ihr untersuchten Feld, ethische Aspekte ethnografischer Feldforschung sowie die Glaubwürdigkeit ihrer Ergebnisse, die sie in „On the Run“ präsentiert14. Kaum ein Beitrag in dieser Debatte beleuchtete aber das ethnografische Schreiben Goffmans. Manche Rezensent:innen bemerkten zwar so etwas wie literarische Qualitäten von Goffmans Text, beispielsweise John van Maanen und Mark de Rond, die unter der Überschrift „On the Run as Literature“ die „narrative virtues and pleasures“ (van Maanen, de Rond 2017: 397 und 398)15 des Textes benennen:

  • 16 „Als Erzählung fußt On the Run nicht auf der Logik der Überprüfung, sondern der Erkundung […]. Über (...)

„As a tale, On the Run rests on the logic of discovery, not verification […]. Twists and turns are everywhere – Alice’s own turn at dipping and dodging. The larger dark, repressive, more or less institutional picture is certainly spelled out but not dwelt on, and her theorizing is blessedly spare” (ebd.: 397f.)16.

  • 17 „Theorie- und Politikstrebern wird das nicht gefallen, es kennzeichnet die Arbeit jedoch als litera (...)

16Damit scheint auch schon ausgemacht, bei wem das Buch Anerkennung finden wird und bei wem nicht: „Theory and policy wonks may not like this much, but it certainly marks the work as literary” (ebd: 399)17. Dass das Literarische und die Narrativität, die den Text durchziehen, über die gute Lesbarkeit der Studie hinaus einen Effekt hat, erkennen die beiden Rezensenten allerdings nicht. Interessant ist für die hier verhandelte Thematik zudem, dass die Rezensenten eine Differenzierung von Literatur einerseits, „On the Run as Literature“ (ebd.: 397), und Wissenschaft andererseits, „On the Run as Science“ (ebd.: 399), aufrechterhalten. Goffmans Schreiben operiert in einem verminten Zwischenfeld und bewegt sich hin und her zwischen science und literature.

  • 18 „Microphysique du pouvoir“, Übers. D.E.

17Meine Lektüre von On the Run schlägt vor, eine Beziehung zwischen der ‚Kunst der Flucht‘ und Michel de Certeaus Projekt einer ‚Kunst des Handelns‘ und den dort versammelten Überlegungen zu den Finten, Taktiken, Handlungsweisen (manières de faire) herzustellen, denen Certeau bescheinigt, dass sie in den bisherigen soziologischen Beschreibungen von Alltagspraktiken unsichtbar und stumm geblieben sind. Die Darstellungsweise ihres Buches folgt weitestgehend einer narrativen Logik, statt das Forschungsmaterial logisch zu ordnen und durch theoretische Metasprache zu abstrahieren. Hierin soll jedoch nicht einfach ein Mangel identifiziert werden, sondern eine taktische Unterwanderung (das heißt nicht Ablehnung) soziologischer Analyse zugunsten eines erzählenden Schreibens, das sich stets an den Rändern der soziologisch-theoretischen Zugriffs bewegt. Abschließend möchte mein Beitrag auf Textstellen hinweisen, die dem eingangs zitierten ‚ärgerlichen‘ Zwischenraum von literarischer und exakter Wissenschaft eine produktive Dimension verleihen könnten; um etwas darstellbar zu machen, das im soziologischen Schreiben bisweilen unsichtbar bleibt und dem sich vielleicht nur auf eine ‚un-theoretische‘, kunstfertige und erzählende Weise genähert werden kann, nämlich den flüchtigen und widerständigen Alltagspraktiken und ihren Zugzwängen, die eine ganz eigene Kunstfertigkeit auszeichnet, um die Schlupflöcher in der „Mikrophysik der Macht“18 (Foucault 1976) zu finden.

Kunst des Handelns – Kunst der Flucht

  • 19 „Verschwindend kleine Bewegungen und vielgestaltige Aktivitäten“ (Certeau 1988: 354).
  • 20 „Sie muss wachsam die Lücken nutzen, die sich in besonderen Situationen der Überwachung durch die M (...)

18Die Flucht ist eine kunstfertige Taktik, die richtige Gelegenheit zu nutzen, sich davon zu machen, zumindest eine Zeitlang unauffindbar zu sein. Goffman zeigt in ihrem Text die heterogenen, spontanen und vielgestaltigen Alltagspraktiken als erfolgreiche Taktiken, die Überwachung aushebeln und sich ihr entziehen, die allerdings auch scheitern können. Fluchttaktiken als „mouvement infinitésimaux, activités multiformes“ (Certeau 1990: 294)19 stellt sie in ihrer Ambivalenz dar, deren Absicht fehlschlagen kann, wenn sie zum falschen Zeitpunkt eingesetzt werden. „Il lui faut utiliser, vigilante, les failles que les conjonctures particulières ouvrent dans la surveillance du pouvoir propriétaire. […] Elle est ruse. En somme, c’est un art du faible“ (Certeau 1990: 61)20. Goffmans Text stellt nicht einfach nur eine zusätzliche Form der Repräsentation her, sondern die ethnografische Erzählung arbeitet selbst an einem neuen Raum der Darstellung: eine ‚art de faire‘ (Fluchttaktiken und Handlungsweisen) findet ihren Ausdruck in einer ‚art de dire‘ (narrativ-ethnografische Darstellung). Das erste Kapitel beginnt mit der Beschreibung einer konkreten Alltagsszene, die umgehend das Thema der Flucht vor der Polizei einführt:

  • 21 „An ruhigen Nachmittagen vertrieb sich Chuck manchmal die Zeit damit, dass er seinem zwölfjährigen (...)

„On quiet afternoons, Chuck would sometimes pass the time by teaching his twelve-year-old brother, Tim, how to run from the police. They’d sit side by side on the iron back-porch steps of their two story-home, facing the shared concrete alley that connects the small fenced-in backyards of their block to those of the houses on the next“ (Goffman 2014: 9)21.

19Dem folgt ein direkt in den Text montierter Dialog zwischen den Brüdern Chuck und Tim, in dem der ältere Bruder versucht, dem jüngeren klarzumachen, er solle sich nicht bei seinem Onkel verstecken, wenn er die Sirenen der Polizeiwagen hört, die Behörden kennten die Adresse bereits und dort könne er zu leicht aufgefunden werden; stattdessen soll er kontraintuitiv handeln und sich bei einer entfernt Bekannten verstecken (vgl.: ebd.).

  • 22 „Um einen sozialwissenschaftlichen Text beurteilen zu können, ist es hilfreich, zu erfahren, wie de (...)
  • 23 „Chronistin der Gruppe“ (Goffman 2015: 120).

20Der Dialog wird anschließend jedoch nicht aus dem Alltagskontext seiner Äußerung in den Kontext soziologischer Analyse transferiert, sondern vielmehr als Miniatur alltäglicher Praxis in die Darstellung einbezogen. Darin liegt ein wiederkehrendes Vorgehen des Textes, die Stimmen der 6th Street für sich sprechen zu lassen. Wenn Goffman ihr Buch gleichzeitig als sozialwissenschaftlichen Text bezeichnet, ist das nicht nur eine banale Information für die Leser:innen: „To evaluate any work of social science, it helps to learn how the researcher found out what he or she claims to know“ (Goffman 2014: 211; Herv. D.E.)22. Ihr Text führt jedoch auch den Kern ethnografischer Forschung immer wieder vor: etwas berichten zu können, weil man dabei gewesen ist und das durch die Präsenz der Forscherin im Feld verbürgt wird. Erzählungen aber arbeiten einer Überprüfbarkeit entgegen. On the Run oszilliert immer wieder zwischen wissenschaftlichem Wahrheitsregime und literarisierter Erzählung von Alltagspraktiken. Goffman ist gleichzeitig Autorin eines sozialwissenschaftlichen Textes und „the group’s chronicler“ (ebd: 85)23, die das Geschehen aus nächster Nähe verfolgt, dabei auch immer wieder eine Ich-Erzählerin zurückgreift:

  • 24 „Als die Tür eingeschlagen wurde, war ich auf der Stelle hellwach. Ich rutschte in die Ecke der Cou (...)

„The door busting open brought me fully awake. I Pushed myself into the couch to get away from it, thinking it might hit me on the way down if it broke all the way off its hinges. Two officers came through the door, both of them white, in SWAT gear, with guns strapped to the sides of their legs. The first officer in pointed a gun at me and asked who was in the house; he continued to point the gun toward me as he went up the stairs. I wondered if Mike and Chuck were in the house somewhere, and hoped they were gone (Goffman 2014: 61)24.

21Goffman verfolgt keine Katalogisierung oder Inventarisierung des Alltagslebens der Bewohner:innen der 6th Street aus einem enthobenen Standpunkt heraus. Ihr Text enthält verschiedene narrative Taktiken, Schilderungen rapider Übergänge von Alltagssituationen in den Ausnahmezustand polizeilicher Übergriffe.

22Mein Beitrag möchte kein einseitiges Plädoyer für Narration statt Theorie, Literatur statt Soziologie formulieren. Aus diesem Grund wurde auch der Versuch unternommen, die Texte Alice Goffmans und Michel de Certeaus weder eindeutig auf der Seite ‚der‘ Theorie oder ‚der‘ Literatur zu verorten. Eher ginge es darum, die Zwischenräume, von denen Dahrendorf noch geschrieben hat, dass sie als ärgerlich erscheinen könnten, weil sie eine konkrete Zuordnung zur Soziologie oder zur Literatur unterwandern, positiv zu wenden. Vielleicht machen narrative und literarische Schreibformen in der Soziologie dem Fach neue Reflexionsangebote. Beispielsweise auch darüber, wie viel Fiktion soziologischen Quellen selbst bereits innewohnt und wie sie genutzt werden kann, ohne naive Authentifizierung zu betreiben. Es geht es also darum, für die Soziologie als auch für die Literatur dem vermeintlichen Ärgernis eine Produktivität abzugewinnen.

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Bibliographie

Certeau, Michel de (1988): Kunst des Handelns. Berlin

Certeau, Michel de (1990): L’invention du quotidien I. Arts de faire. Paris.

Clifford, James (1986): Introduction. Partial Truths. In: Ders., George E. Marcus (Hg.), Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography. Berkely u.a., S. 1–26.

Dahrendorf, Ralf (1983): Vorwort. In: Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München, S. VII–X.

Foucault, Michel (1976): Mikrophysik der Macht. Michel Foucault über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin. Berlin.

Foucault, Michel (1975): Surveiller et punir. Paris.

Füssel, Marian (2018): Zur Aktualität von Michel de Certeau. Einführung in sein Werk. Wiesbaden.

Geertz, Clifford (1973): Thick Description: Toward an Interpretive Theory of Culture. In: Ders.: The Interpretation of Cultures: Selected Essays. New York, S. 3–30.

Geertz, Clifford (1987): Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur. In: Ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a. M., S. 7–43.

Geldof, Koenraad (2007): Ökonomie, Exzess, Grenze. Michel de Certeaus Genealogie der Moderne. In: Marian Füssel (Hg.), Michel de Certeau. Geschichte – Kultur – Religion. Konstanz, S. 91–151.

Goffman, Alice (2014): On the Run. Fugitive Life in an American City. Chicago und London.

Goffman, Alice (2015): On the Run. Die Kriminalisierung der Armen in Amerika. München.

Lepenies, Wolf (1988): Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft. Hamburg.

Neyfakh, Leon (2015): The Ethics of Ethnography [online], letzter Zugriff am 5.12.2021. URL: https://slate.com/news-and-politics/2015/06/alice-goffmans-on-the-run-is-the-sociologist-to-blame-for-the-inconsistencies-in-her-book.html

Niermann, Debora (2020): Die Chicago School ist tot, lang lebe die Chicago School!" Warum die transatlantische Ethnografierezeption einer Aktualisierung bedarf, in: Forum Qualitative Sozialforschung 21, 3 (keine Seitenangaben) [online], letzter Zugriff am 5.12.2021. URL: https://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/3474/4654

Reckwitz, Andreas; Martin Bauer (2021): Wenn Schreiben Forschung wird. Andreas Reckwitz im Gespräch mit Martin Bauer [online], letzter Zugriff am 5.12.2021. URL: https://www.soziopolis.de/wenn-schreiben-forschung-wird.html

Schaub, Mirjam (2002): Die Lust am Wildern in fremden Theoriegefilden. Zu de Certeaus Taktik im Umgang mit Foucault und Bourdieu [online], letzter Zugriff am 10.07.2021. URL: https://www.burg-halle.de/hochschule/information/personen/p/mirjam-schaub/

van Maanen, John; Mark de Rond (2017): The Making of a Classic Ethnography. Notes on Alice Goffman’s On the Run, in: Academy of Management Review, 42.2, S. 396–406.

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Notes

1 Der Ausdruck wissenschaftlich wird an dieser Stelle weder normativ noch affirmativ gebraucht, sondern als Hinweis auf feldspezifische intellektuelle Distinktionsweisen und Anforderungen.

2 Wobei hier auch gleich hinzugefügt werden muss, dass ein solches Forschungsvorgehen, das auf die Überwindung von Distanz und auf der Überwindung eines Standpunktes ‚von außen‘ fußt, nicht vollends von den produzierten Beschreibungen getrennt werden kann. Wie dies unter einer forschungsethischen Perspektive zusammenhängt, diskutiert beispielweise der Journalist Leon Neyfakh in seinem Artikel „The Ethics of Ethnography“ (2015). Dies betrifft ebenso die Frage, wie viele „Ungenauigkeiten“ ein ethnografischer Text enthalten darf, kann oder auch muss (um beispielsweise Feldinformant:innen vor einer Identifikation zu schützen), welches Maß an Verfremdung geboten ist, welche Daten für die Erzählung ausgewählt und welche weggelassen werden. Literaturwissenschaftlich reformuliert geht es dabei also auch um die Fiktionalität ethnografischer Quellen sowie die Fiktionalität soziologisch-ethnografischer Texte selbst.

3 Wie mit dem Label ‚Theorie‘ gearbeitet wird, soll im weiteren Verlauf noch Gegenstand der Diskussion werden, vor allem im Abschnitt „Die blinden Flecken der Theorie“.

4 „Es geht hier nicht darum, ein gleichermaßen flüchtiges wie fundamentales Thema darzustellen, sondern darum, es überhaupt erst einmal darstellbar zu machen“ (Certeau 1988: 11).

5 Certeaus L‘Invention du quotidien I enthält darüber hinaus eine kritische Lektüre Michel Foucaults Surveiller et punir (1975) und der darin ausgearbeiteten Genealogie der Disziplinarmacht (vgl. Certeau 1990: 75ff.). Aus Platzgründen konzentriere ich mich hier punktuell auf die Kritik an Bourdieu.

6 „So gibt es eine eigenartige Kombination eines ‚ich weiß nur zu gut‘ (dieses listige und überschreitende Vorantasten) und eines ‚aber trotzdem‘ (es muß einen aufs Ganze bezogenen Sinn geben)“ (Certeau 1988: 127).

7 „Der Ethnograph ‚schreibt‘ den sozialen Diskurs ‚nieder‘, er hält ihn fest. Indem er das tut, macht er aus einem flüchtigen Ereignis, das nur im Moment seines Stattfindens existiert, einen Bericht, der in der Niederschrift des Geschehenen existiert und wieder herangezogen werden kann“ (Geertz 1987: 28).

8 „Hier finden [die Handlungsweisen] einen neuen Darstellungsraum, den der Fiktion, der mit alltäglichen Virtuositäten bevölkert ist, mit denen die Wissenschaft nichts anfangen kann und die […] zur Signatur der Mikro-Geschichten von allen und jedem werden. Die Literatur wird zum Repertoire aller Praktiken ohne technologisches Copyright. […] Anders gesagt, ‚Geschichten‘ statten die Alltagspraktiken mit dem Schmuck einer Narrativität aus“ (Certeau, 1988: 145, Herv. i. O.).

9 „De Certeau stellt fest, dass die Fiktionen der literarischen Sprache wissenschaftlich für unbrauchbar erklärt (und ästhetisch gewürdigt) wurden, da ihnen die ‚Eindeutigkeit‘ fehle, die vornehmlich eindeutige Rechenschaft der Naturwissenschaft und der Fachgeschichte“, Übers. D.E.

10 Dass dies auch eine strategische und durchaus auch polemische Form der Theorieaneignung und-verarbeitung miteinschließt, darauf verweist Mirjam Schaub (2002).

11 „Die Kombination aus eingeschränkten Rechten und der Drohung mit extremen Sanktionen führt zu einer Kriminalisierung des alltäglichen Lebens, wenn die Menschen Anstrengungen unternehmen, ihre Einschränkungen zu umgehen und die Behörden zu vermeiden. Wir sehen häufig, wie Ausgangssperren etabliert, Überprüfungen der Identität und Durchsuchungen durchgeführt werden und wie gleichzeitig Strategien ihrer Umgehung, des Versteckens und des Geheimhaltens zu Techniken des täglichen Lebens werden“ (Goffman 2015: 271).

12 „Die hohe Kunst der Flucht“ (Goffman 2015: 45).

13 „Zu den ersten Dingen, die solch ein Mensch entwickelt, gehört eine gesteigerte Aufmerksamkeit für Polizisten […]. Sobald sie [die Bewohner der 6th Street] Polizei witterten, taten sie, was alle anderen jungen Männer in ihrem Viertel machten: Sie nahmen die Beine in die Hand und versteckten sich“ (Goffman 2015: 45).

14 Die verschiedenen Etappen, Sprecher:innen und beteiligten Disziplinen in dieser Debatte können hier nicht en détail wiedergegeben werden, siehe hierzu die anschauliche Rekonstruktion in Niermann (2020).

15 „erzählerische Tugenden und Freuden“, Übers. D.E.

16 „Als Erzählung fußt On the Run nicht auf der Logik der Überprüfung, sondern der Erkundung […]. Überall lauern plötzliche Wendungen – sowie Alices Eintauchen und Ausweichen. Ein größeres Gesamtbild repressiver Institutionen ist sicherlich vorhanden, jedoch nicht ausladend und Theoretisierungen sind glücklicherweise rar“, Übers. D.E.

17 „Theorie- und Politikstrebern wird das nicht gefallen, es kennzeichnet die Arbeit jedoch als literarisch“, Übers. D.E.

18 „Microphysique du pouvoir“, Übers. D.E.

19 „Verschwindend kleine Bewegungen und vielgestaltige Aktivitäten“ (Certeau 1988: 354).

20 „Sie muss wachsam die Lücken nutzen, die sich in besonderen Situationen der Überwachung durch die Macht der Eigentümer auftun. […] Sie ist die List selber. Insgesamt gesehen ist sie eine Kunst des Schwachen“ (Certeau 1988: 89).

21 „An ruhigen Nachmittagen vertrieb sich Chuck manchmal die Zeit damit, dass er seinem zwölfjährigen Bruder beibrachte, wie man vor der Polizei wegläuft. Sie saßen nebeneinander auf den Eisenstufen der rückwärtigen Veranda ihres zweistöckigen Hauses. Direkt vor ihnen verlief der betonierte Weg, der die kleinen umzäunten Gärten ihres Blocks mit denen des nächsten verband“ (Goffman 2015: 29).

22 „Um einen sozialwissenschaftlichen Text beurteilen zu können, ist es hilfreich, zu erfahren, wie der Forscher oder die Forscherin zu seinem oder ihrem Wissen gekommen ist“ (Goffman 2015: 279; Herv. D.E.).

23 „Chronistin der Gruppe“ (Goffman 2015: 120).

24 „Als die Tür eingeschlagen wurde, war ich auf der Stelle hellwach. Ich rutschte in die Ecke der Couch, weil ich dachte, die Tür könnte auf mich fallen, wenn sie aus den Angeln gerissen wurde. Zwei Polizisten stampften ins Zimmer, beide weiß und in Kampfmontur. Der erste richtete seine Waffe auf mich und fragte, wer im Haus sei; dann ging er die Treppe hinauf, hielt dabei aber die Pistole auf mich gerichtet. Ich fragte mich, ob sich Mike und Chuck irgendwo im Haus aufhielten, und hoffte, dass sie schon weg waren“ (Goffman 2015: 90f.).

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Pour citer cet article

Référence électronique

Daniel Ellwanger, « Certeau on the Run »Trajectoires [En ligne], 15 | 2022, mis en ligne le 20 juin 2022, consulté le 22 janvier 2025. URL : http://0-journals-openedition-org.catalogue.libraries.london.ac.uk/trajectoires/7407 ; DOI : https://0-doi-org.catalogue.libraries.london.ac.uk/10.4000/trajectoires.7407

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Auteur

Daniel Ellwanger

Doktorand am Religionswissenschaftlichen Institut, Universität Leipzig

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Droits d’auteur

CC-BY-NC-SA-4.0

Le texte seul est utilisable sous licence CC BY-NC-SA 4.0. Les autres éléments (illustrations, fichiers annexes importés) sont « Tous droits réservés », sauf mention contraire.

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