- 1 Vgl. Stendhal in einem Artikel des National vom 1. April 1842: „Le rouge signifie que, venu plus tô (...)
1Julien Sorel, einem jungen Mann proletarischer Herkunft, gelingt in Stendhals Klassiker des französischen Realismus Le Rouge et le Noir ein im Prinzip unmöglicher sozialer Aufstieg in der konservativen Restaurationsgesellschaft von 1830: Als Sohn eines kleinen Gewerbetreibenden in der Provinz schafft er es bis zur Erhebung in den Adelsstand in Paris, bis ein Brief einer ehemaligen Geliebten seine soziale Existenz zerstört. Verborgen bleibt dabei vor der konservativen Gesellschaft Juliens glühende Verehrung für Napoleon, der sich als Feldherr aus kleinen Verhältnissen an die Spitze der Gesellschaft gekämpft hat. Da eine solche heldenhafte Existenz unter den gegebenen sozialen Normen nicht zu realisieren ist, beschließt Julien, in der verhassten Rolle des Priesters Karriere zu machen, ohne jedoch das napoleonische Ideal aufzugeben. Juliens Aussage „[J]e sais choisir l'uniforme de mon siècle.“ (Stendhal, 1997: 329) charakterisiert dabei die grundlegende hypocrisie sowohl der Hauptfigur als auch die der Restaurationsgesellschaft. Der Antagonismus zwischen dem Revolutionsideal und der Restaurationsrealität wird im Titel des Romans widergespiegelt: Le Rouge als Ausdruck des militärischen Ruhms und der Leidenschaft unter Napoleon, Le Noir als Symbol des Status Quo der Gesellschaft nach 1815, ihrer Vorherrschaft des Priestertums und der Langeweile (Lidsky/Klein-Lataud, 1996: 11).1
- 2 Vgl. Girard: „L'hypocrisie qui triomphe dans l'univers du Noir s'en prend donc à tout ce qu'il y a (...)
2Juliens Versuch, das Napoleon-Ideal als Priester zu realisieren, ist in der literaturwissenschaftlichen Rezeption immer wieder mit Rückgriff auf den Rollenbegriff untersucht worden. Rollen werden als „attitudes existentielles du vécu stendhalien“ (Ringger, 1982: 19) aufgefasst, als Mittel zur „Analyse der Theatralität der Gesellschaft“ (Roloff, 2000: 139) oder als „spectacle du personnage“ (Spandri, 2003: 77). Aber obwohl der Konflikt zwischen Napoleon, dem revolutionären Helden, und dem Priester, dem Stabilisator der Ständegesellschaft, als Basis für Juliens Handeln klar definiert werden kann, ist die Unmöglichkeit, seine Person kohärent zu umreißen, immer wieder hervorgehoben worden. So schrieb Mérimée in einem Brief an Stendhal: „Pourquoi avez-vous choisi un caractère qui a l'air si impossible... Je m'imaginais avoir compris Julien et il n'y a pas une seule de ses actions qui n'ait contredit le caractère que je lui supposais.“ (zitiert nach Prendergast, 1986: 120) Interessanterweise bezeichnet Mérimée Julien nicht als unmöglichen Charakter, sondern als einen Charakter, der unmöglich erscheint. Daher soll hier nicht die offensichtliche Differenz zwischen Napoleon- und Priester-Rolle untersucht werden, sondern ihr dialektisches Ineinandergreifen2 im Handeln, das Juliens Charakter unmöglich bzw. nicht „feststellbar“ (vgl. Gebauer, 1994: 43) erscheinen lässt. Auch Roloff weist auf den Spielraum zwischen den Rollendifferenzen hin: „Mit einer allzu scharfen Abgrenzung von sozialem Rollenverhalten und einem davon abgehobenen ästhetisch-distanzierten Rollenspiel scheint es nicht möglich, den wichtigen Bereich zu erfassen, der zwischen beiden Polen liegt und die Vermittlung herstellt.“ (Roloff, 2000: 141)
3Nicht in der abstrakten und durchaus plausiblen Konzeption, das Ideal der Napoleon-Rolle im Rahmen der der sozial anerkannten Priester-Rolle zu realisieren, sondern erst im konkreten Handeln wird deutlich, dass Julien, der „homme malheureux en guerre avec toute la société“ (Stendhal, 1997: 331), mit der Napoleon- und der Priester-Rolle zwei prinzipiell inkompatible Ziele verfolgt. Die Dialektik aus Napoleon- und Priester-Rolle ist Ausdruck seines Konflikts, ein Ideal nicht aufgeben zu können, um dessen Unrealisierbarkeit er weiß. Dieser Konflikt ist insofern ein innerer Konflikt, als er auf der Darstellungsebene, vor den Zuschauern der Restaurationsgesellschaft, nicht sichtbar werden darf und soll.
4Juliens Rollenvorbilder „Napoleon“ und „Priester“ sind unterschiedlich motiviert: Die Priester-Rolle stellt eine pragmatische soziale Notwendigkeit, die Napoleon-Rolle den Versuch einer Emanzipation von den Normen der Gesellschaft dar. Auch in der Rollentheorie wird der Begriff der Rolle als Beschreibungsform menschlichen Verhaltens und als soziale Kategorie unterschiedlichst definiert. Vor allem das Verhältnis zwischen Mensch und Rolle, die Interpretation der Rolle als individuelle Möglichkeit oder als sozialer Zwang stehen sich hierbei gegenüber.
5Die bekanntesten emanzipatorischen Rollenkonzeptionen sind dabei die kunstphilosophische Position Simmels, der den Schauspieler als die Person anführt, die ein geistiges Ideal zu materialisieren vermag (vgl. Simmel, 1987: 75), und die anthropologisch-philosophische Position Plessners, der die „exzentrische Positionalität“, die Doppelung aus Mensch und Rolle, als Grundlage für seine Selbstbestimmtheit begreift: „Als seine Möglichkeit gibt er [der Mensch] sich erst sein Wesen kraft der Verdopplung in einer Rollenfigur, mit der er sich zu identifizieren versucht.“ (Plessner, 1960: 115)
6Wird der Rollenbegriff nicht anthropologisch, sondern soziologisch interpretiert, ist er zumeist stark restriktiv konnotiert. Dahrendorf, der die von Linton und Parsons im US-amerikanischen Raum initiierte Debatte um Rollen als soziale Kategorie in den deutschsprachigen Diskurs einführte, definiert Rollen als „quasi-objektive, vom Einzelnen prinzipiell unabhängige Komplexe von Verhaltensvorschriften“ (Dahrendorf, 2006: 39), als „Zwang, der auf den Einzelnen ausgeübt wird“ (Dahrendorf, 2006: 40). Der Literaturwissenschaftler Jauß aber kritisiert scharf die Verabsolutierung der Restriktivität, die Dahrendorf und die sich auf ihn beziehenden Theoretiker dem Rollenbegriff zuschreiben. Die Prämisse der Restriktivität sieht er in der unreflektierten Übernahme der theistischen Implikationen der theatrum-mundi-Metapher begründet (vgl. Jauß, 1979: 600). Der „Spielraum der Interpretation“ (Jauß, 1979: 603) des Rollenverhaltens werde dabei vernachlässigt.
7Mit der Figur des Julien Sorel wird in Le Rouge et le Noir das restriktive Element des Rollenverhaltens ebenso thematisiert wie ihr emanzipatorisches Potential und der Interpretationsspielraum der Rolle. Daher soll, ausgehend von der Rollendefinition des Soziologen Goffman, zwischen sozialer Priester-Rolle und fiktiver Napoleon-Rolle differenziert werden, wobei die erste sich stärker am Dahrendorfschen, die zweite am Plessnerschen Entwurf orientiert.
8Goffman hat sich mit schwächeren Prämissen als Dahrendorf mit dem Rollenbegriff auseinandergesetzt, aber stärker am konkreten Handeln ausgerichtet als Plessner und Simmel. Der amerikanische Soziologe definiert die Rolle als „Handlungsmuster“, das zwar normativ, aber nicht zwingend restriktiv geprägt ist:
9„Eine 'Darstellung' (performance) kann als die Gesamttätigkeit eines bestimmten Teilnehmers an einer bestimmten Situation definiert werden, die dazu dient, die anderen Teilnehmer in irgendeiner Weise zu beeinflussen. [...] Das vorbestimmte Handlungsmuster, das sich während einer Darstellung entfaltet und auch bei anderer Gelegenheit vorgeführt werden kann, können wir 'Rolle' (part) nennen.“ (Goffman, 2011: 18)
- 3 So führt Goffman beispielsweise Begriffe wie „Ensembleverschwörung“, „Vorder- und Hinterbühne“ oder (...)
- 4 „L'ironie romantique, telle que nous l'avons définie, est une disposition philosophique, selon laqu (...)
10In diese Definition kann sowohl Plessners als auch Dahrendorfs Position integriert werden, sie kommt aber ohne deren einseitige Vorannahmen aus. Bei Goffman sind Rollen grundsätzlich „eigenständige Sinnsysteme“ (Willems, 1997: 194), auch sozial aufoktroyierte Rollen können subversiv inszeniert werden.3 Dennoch ist die Gegenüberstellung von Plessner und Dahrendorf in Bezug auf Le Rouge et le Noir nicht uninteressant. Juliens Napoleon-Rolle entspricht insofern Plessners Position, als sie Ausdruck seines Versuchs ist, sich eine Existenz außerhalb seiner stark eingeschränkten Möglichkeiten in der Restaurationsgesellschaft zu schaffen. Die Priester-Rolle hingegen entspricht eher dem Rollenbegriffs Dahrendorfs, sie wird Julien von den Normen der Restaurationsgesellschaft aufgezwungen. Mit seiner Napoleon-als-Priester-Verknüpfung, die Bourgeois literaturhistorisch als ironie romantique einordnet,4 setzt Julien die beiden konträren Rollenkonzeptionen in einen dialektischen Zusammenhang, wobei vor seinen Zuschauern, der Restaurationsgesellschaft, nur die Darstellung des Priesters sichtbar werden darf und soll.
11Die Priester-Rolle soll hier als „soziale Rolle“ bezeichnet werden. Ihre Funktion ist die „symbolische Repräsentanz der institutionalen Ordnung in ihrer integrierten Totalität“ (Berger und Luckmann, 1974: 81). Der Begriff der sozialen Rolle wird in der Rollentheorie ausgiebig thematisiert, sie beschreibt die Handlungsmuster, die von einer Person innerhalb der gegenwärtigen sozialen Normen dargestellt werden dürfen und sollen.
12Die Napoleon-Rolle kann durch die Rollentheorie nicht befriedigend kategorisiert werden. Simmel und Plessner stellen zwar theoretische Überlegungen über den Rollenbegriff an, setzen sich aber nicht mit Problemen im konkreten Rollenverhalten innerhalb der Normen der Gesellschaft auseinander. Die Rolle klammert bei Plessner z.B. „den unfruchtbaren Gegensatz zwischen dem Einzelnen und seinem sozialen Wirkfeld“ (Plessner, 1960: 106) aus, von der Gesellschaft nicht akzeptierte Rollen bzw. das Unbehagen in der Rolle werden nicht thematisiert.
13Daher soll hier der Begriff der „fiktiven Rolle“ eingeführt werden. Roloff und Duvignaud, die sich an der Schnittstelle von Literatur und Soziologie befinden, sprechen z.B. von imaginären Rollen (vgl. Roloff, 2000:141; Duvignaud, 1965: 45), um Idealrollen außerhalb der sozialen Normen zu beschreiben. Allerdings drückt das Adjektiv „imaginär“ nicht ausreichend stark Juliens Impuls aus, die Napoleon-Rolle tatsächlich in der Restaurationsgesellschaft zu realisieren. Das Konzept des Fiktiven, verstanden im Sinne des Literaturwissenschaftlers Iser als „Übergangsgestalt“ zwischen Imaginärem und Realem (vgl. Iser, 1990: 49), scheint in Bezug auf die Napoleon-Rolle passender. Iser knüpft dabei dezidiert an Plessners Arbeiten an und fragt, was „das den Rollen Vorausliegende” (Iser, 1990: 13) ist. Sein Konzept des Fiktiven ist daher besonders geeignet, die Plessnersche Position und konkretes Rollenverhalten in Kontext zueinander zu setzen. Angeregt von Isers Arbeiten ist das Fiktive, definiert als „Erdachtes, Erfundenes, Vorgestelltes, mit dem dennoch im Sinne eines 'Als ob' operiert wird“ (Barsch, 2009: 201), ein zentraler Begriff der Literatur- und Kulturtheorie geworden. Als fiktive Rolle wird im Folgenden ein historisches oder literarisches Handlungsmuster definiert, das nicht Teil der gegenwärtigen sozialen Normen ist, aber trotzdem innerhalb dieser Normen realisiert werden soll.
14Soziale und fiktive Rollen haben dabei durchaus strukturelle Gemeinsamkeiten: Auch die fiktive Rolle ist in gewisser Hinsicht sozial, als historische soziale Rolle bzw. als literarische Rolle im soziokulturellen Gedächtnis. Die soziale Rolle ist insofern auch fiktiv, als das Handlungsmuster von Rollen grundsätzlich historisch kontingent ist (vgl. Pavis, 1988: 42), sodass individuelle Intentionen auch in der sozialen Rolle sichtbar werden: so interpretieren etwa die Kirchenmänner wie der Abbé Chélan bzw. der Abbé Pirard und Julien Sorel die Priester-Rolle sehr unterschiedlich.
15Ein weiterer wichtiger Punkt ist der antizipatorische Charakter beider Rollen. Julien ist zu keinem Zeitpunkt tatsächlich Napoleon oder Priester. Beide Rollen beschreiben ein „être au sens de vouloir-être“ (Spandri, 2003: 87), das im Rahmen von konkreten Rollenvariationen realisiert werden soll: Die Priester-Rolle als Hauslehrer-Rolle in Verrières, als Seminaristen-Rolle in Besançon und als Sekretär-Rolle in Paris; die Napoleon-Rolle als Don-Juan-Rolle (vgl. Warning, 1984: 441) in der Verführung Madame de Rênals in Verrières, dem Versuch einer Verführung der Kellnerin Amanda Binet in Besançon und der Verführung Mathilde de La Moles in Paris. Die Differenzierung zwischen Rahmenrolle und konkreter Rolle verweist auf einen weiteren Punkt, der die Handlungsmuster der Napoleon- und der Priester-Rolle strukturell eint: Beide Rollen sind nach literarischen Mustern ausgerichtet, die Priester-Rolle nach der Bibel und de Maistres Du Pape, die Julien auswendig gelernt hat, die Napoleon-Rolle nach dem Mémorial de Sainte-Hélène, einer Sammlung von Memoiren Napoleons, Rousseaus Confessions und dessen Liebes-Briefroman La Nouvelle Héloïse.
16Diese Literarizität offenbart sich in den Diskrepanzen zwischen Rahmenrolle und konkreter Rolle, die in den Realisierungsversuchen der konkreten Rollen auftreten. So zum Beispiel, als Julien im Seminar von Besançon vor dem Abbé Chélan aus Du Pape zitiert und nicht bemerkt, dass die dort vertretenen Positionen den Ansichten des Jansenisten Chélan widersprechen, oder als er sich vor seiner ersten Liebesnacht mit Madame de Rênal und Mathilde de La Mole mit napoleonischen Parolen Mut zuspricht, deren martialischer Impetus in eklatantem Widerspruch zur Unbeholfenheit des tatsächlichen Liebesaktes steht. Nicht nur die fiktiven und die sozialen Rollen, auch die jeweilige Rahmenrolle und konkrete Rolle stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander und befördern so die Dialektik aus Napoleon- und Priester-Rolle.
- 5 Berger und Luckmann erweitern dabei, wie der auf ihre Arbeiten verweisende Rapp, Durkheims Konzept (...)
17Barthes hat prägnant zusammenfasst, dass der Begriff der Rolle und der Darstellung nicht ohne den des Zuschauers gedacht werden kann: „[L]a condition de l'acteur, c'est d'être prostitué.“ (Barthes, 1964: 43). Nüchterner hat Bentley den Prozess der Darstellung beschrieben, dessen Definition in der Rollentheorie am häufigsten aufgegriffen wird: „A impersonates B while C looks on.“ (Bentley, 1965: 150). Die Personifizierung des Akteurs A als Darsteller einer Rolle B durch die Zuschauer C hat die „volle Identifikation des A mit seiner R[olle] im Handeln“ (Rapp, 1973: 130) zur Folge. Da soziale Rollen die Gesellschaftsordnung repräsentieren (vgl. Berger und Luckmann, 1974: 79),5 repräsentiert Julien als Darsteller der Priester-Rolle automatisch die Gesellschaftsordnung, die „Uniform seines Jahrhunderts“ ist die der Ständegesellschaft.
18Hier wird die unüberwindbare Diskrepanz zwischen Darstellungs- und Handlungsebene deutlich. Denn Julien handelt, als sei er ein Priester, der eigentlich Napoleon ist. Sein Erfolg als Akteur, um die oben angeführte Formel Bentleys aufzugreifen, kann jedoch nur darin bestehen, vor seinen Zuschauern (der Restaurationsgesellschaft) ausschließlich in seiner Rolle als Priester personifiziert zu werden. Als Napoleon hingegen darf er nicht personifiziert werden, da diese Rolle im Rahmen der sozialen Normen nicht dargestellt werden darf. Die Dialektik aus Priester und Napoleon als Grundlage seines Handelns darf vor den Zuschauern nicht sichtbar werden. Juliens innerer Konflikt findet sich in dieser angestrebten, aber unmöglichen Kongruenz zwischen Handlung und Darstellung wieder: Die Dialektik aus Napoleon- und Priester-Rolle kann sich ausschließlich auf dem Als-ob der Handlungsebene abspielen. Vor seinen Zuschauern stellt er so eine andere Rolle dar als vor sich selber: Die durchaus paradoxe Koexistenz des Öffentlichen mit dem Geheimen vor den Zuschauern ist eine eigentümliche Möglichkeit des Rollenspiels (vgl. Duvignaud, 1970: 16). Die antagonistische Reziprozität der beiden Rollen offenbart sich also auf der Handlungsebene: In den Kampf gegen die Restaurationsgesellschaft kann Julien nicht als Napoleon, sondern nur in der „Uniform seines Jahrhunderts“ ziehen, wird so aber als Träger der Priester-Rolle Teil der Gesellschaft, die er hasst. Interessanterweise scheint auf der Handlungsebene gerade durch die Dialektik der beiden Rollen sein Vorhaben immer wieder zur Möglichkeit zu werden.
19Die Dialektik zwischen Priester und Napoleon äußert sich auf der Handlungsebene im Versuch, durch das Je sais choisir l'uniforme de mon siècle die sozialen Normen und ihre Rollenvorgaben aufrechtzuerhalten und gleichzeitig zu brechen. Dies widerspricht der zentralen Implikation der Rolle, ausschließlich als die Person angenommen zu werden, die vor der Gesellschaft dargestellt wird (vgl. Goffman, 2011: 16). Indem Julien die sozialen Rollen zur Erfüllung seiner fiktiven Rolle instrumentalisiert, möchte er in seiner Darstellung des Priesters zugleich auch als Napoleon angenommen werden, ohne jedoch dass die Gesellschaft dies bemerkt. Diese Spaltung zwischen Rollen-Schein und Rollen-Sein verstärkt sein Gefühl der Unzugehörigkeit (vgl. Attuel, 1985: 132ff.), beschert ihm aber auch außergewöhnliche soziale Erfolge. Die Dialektik aus Napoleon und Priester offenbart sich dabei sowohl in seinen sprachlichen als auch körperlichen Handlungen.
20Die sprachlichen Zeichen der Restaurationsgesellschaft als „symboles de la généralité surimposée aux individus“ (Crouzet, 1981: 83) sind in Le Rouge et le Noir grundsätzlich darauf ausgelegt, die konservative Gesellschaft nicht zu verändern: „On parle pour ne rien dire, on affiche des sentiments sans les éprouver.“ (Simons, 1980: 318). Als Beispiel hierfür seien Juliens bei zahlreichen Gelegenheiten angeführten lateinischen Rezitationen aus der Bibel angeführt, die in jeder beliebigen Situation allein dazu dienen, seinen Status zu stabilisieren. Besonders gut umschrieben wird die inhaltsleere Sprache der Restaurationsgesellschaft bei einer Verhandlung mit dem Subpräfekten Maugiron, als Julien dessen Angebot einer Hauslehrer-Stelle ausschlägt, ohne sich offen gegen den sozial höhergestellten Subpräfekten auszusprechen: „C'était le tour de Julien, qui, depuis une heure et demie, attendait la parole avec ennui. Sa réponse fut parfaite, et surtout longue comme un mandement; elle laissait tout entendre, et cependant ne disait rien nettement.“ (Stendhal: 1997, 140)
21An dieser Uneindeutigkeit setzt Juliens Rollendialektik auf der sprachlichen Handlungsebene an. Sie macht es möglich, als Priester und Napoleon zugleich zu sprechen, und dabei den sozialen Aufstieg zu realisieren. Der „petit air hypocrite“ (Stendhal, 1997: 28), mit dem Juliens Rede eingeführt wird, ist Grundlage seines sozialen Aufstiegs: Gesellschaftliche Anerkennung in der sozialen Rolle bekommt er oft dort, wo er sich am Handlungsmuster der fiktiven Rolle orientiert, und vice versa. Wenn Julien innerhalb der sprachlichen Regeln einer Verhandlung mit Monsieur de Rênal eine Gehaltserhöhung erhält, indem er ein forsches Vokabular verwendet, das im Handlungsmuster der Hauslehrer-Rolle eigentlich nicht angelegt ist, gelingt ihm der soziale Aufstieg gerade im Rahmen des Spannungsfeldes aus napoleonischer Rede und Anpassung an die sprachlichen Regeln der sozialen Rolle. Julien spricht in „hybriden Konstruktionen“:
„Wir nennen diejenige Äußerung eine hybride Konstruktion, die ihren grammatischen (syntaktischen) und kompositorischen Merkmalen nach zu einem einzigen Sprecher gehört, in der sich in Wirklichkeit aber zwei Äußerungen, zwei Redeweisen, zwei Stile, zwei 'Sprachen', zwei Horizonte von Sinn und Wertung vermischen.“ (Bakhtin, 1982: 195)
22In Juliens Rede überlagert sich der Horizont der Revolutions- mit dem der Restaurationsgesellschaft. Dies bleibt vor den Zuschauern der Restaurationsgesellschaft nur verborgen, weil deren „codes linguistiques“ (Simons, 1980: 267), die die sozialen Normen sprachlich fixieren, keine außersprachliche Referenz haben: Die Verbindung zwischen sprachlichem Zeichen und realer Welt wird in der Sprache der Restaurationsgesellschaft gekappt, um die bestehenden Verhältnisse aufrechtzuerhalten: „Le signe se substitue à la chose qu'il est censé évoquer, telle la parole à l'action.“ (Simons, 1980: 318) Die Dialektik aus Revolutions- und Restaurationsrealität, auf die Juliens hybride Rede sich bezieht, und die subversive Intention seiner sprachlichen Handlungen werden gerade deshalb nicht entlarvt, weil die sprachlichen Regeln der Restaurationsgesellschaft prinzipiell darauf ausgelegt sind, zu reden, ohne dabei zu handeln und die Realität zu verändern. Allerdings muss auch darauf hingewiesen werden, dass auf der Darstellungsebene, auf die die Handlungsebene letztlich ausgerichtet ist, die hybride Rede Juliens immer nur als Priester-Rede (bzw. Hauslehrer-Rede etc.) sichtbar wird. Und auch wenn er sozial aufsteigt und situative Siege über die Restaurationsgesellschaft erringen kann, bleibt seine Position immer die des subalternen Hauslehrers, Seminaristen oder Sekretärs, dessen Status von seinem jeweiligen Herrn abhängig ist – bis zu seinem sehr kurzen Sieg, den seine Erhebung in den Adelsstand darstellt.
23Auf körperlicher Handlungsebene wird Juliens Rollendialektik in zwei diametral entgegengesetzten Situationen sichtbar: bei Juliens Affären, die einen massiven Bruch mit den sozialen Normen darstellen und Juliens Existenz in der Restaurationsgesellschaft zerstören können, und in den zur Aufrechterhaltung der sozialen Normen aufgeführten Ritualen:
„Rituale sind szenische Aufführung von Gemeinschaft, von Selbst- und Weltverständnissen und Werten, die im Ritual hervorgebracht und zugleich ausgedrückt werden. [...] Entsprechend stellen Rituale nicht einfach ein Mittel der sozialen Kontrolle dar, sondern sie verkörpern soziale Machtverhältnisse.“ (Kolesch, 2004: 290)
24Ein solches in Le Rouge et le Noir beschriebenes Ritual ist die Parade und der anschließende Gottesdienst in Verrières, die zu Ehren des Königs abgehalten werden. Julien darf dort als Ehrengardist den Anzug eines Oberst tragen. Im militärischen Aufzug ist sein Körper sowohl als Symbol für das napoleonische Ideal als auch, in seiner Funktion als Ehrengardist, als Symbol für die bestehenden Machtverhältnisse sichtbar. Diese Doppelbödigkeit ist im Ritual durchaus angelegt: Gennep und Turner haben als ein zentrales Merkmal des Rituals die „Liminalität“ als „einen Bereich der Ambiguität, eine Art sozialen Zwischenstadiums“ (Turner, 1989: 35) bezeichnet. Das Ritual als Form des Rollenspiels innerhalb der Normen der Gesellschaft ist somit „zugleich Grenzüberschreitung und Grenzziehung” (Fischer-Lichte, 2005: 18). Hier kann auf der körperlichen Handlungsebene von einer hybriden Konstruktion gesprochen werden, die auf der Darstellungsebene ebenfalls nicht sichtbar wird: Vor den Zuschauern der Parade stellt er nur den Ehrengardisten dar. Auch die militärische Uniform wird ihm nur im Rahmen des Rituals der Parade zugestanden, die die Macht des Königs festigen soll:„[L]es paysans étaient ivres de bonheur et de piété. Une telle journée défait l'ouvrage de cent numéros des journaux jacobins.“ (Stendhal, 1997: 113) Als Julien bei dem der Parade folgenden Gottesdienst wieder in die Priester-Uniform, also Soutane und Chorhemd, schlüpfen muss, wird er scharf gerügt, als unter der Soutane noch seine Sporen zu sehen sind. Die Möglichkeit zur körperlichen Hybridität ist zeitlich wie räumlich begrenzt, trotz ihres subversiven Potenzials ist das Ritual letztlich darauf ausgerichtet, die sozialen Normen zu stabilisieren.
25Bei der körperlichen Darstellung in seinen Liebesaffären stellt sich die Frage, warum Julien angesichts seiner klar fixierten Aufstiegsfantasie diese Affären überhaupt eingeht: Madame de Rênal ist verheiratet, Amanda Binet hat einen liederlichen Ruf und Mathilde de La Mole ist adelig; als Verstoß gegen die sozialen Normen können alle seine Affären den Aufstieg existenziell gefährden. Natürlich sind sie für ihn eine Möglichkeit, aus der verhassten Priester-Rolle auszubrechen und, vor den Zuschauern der Restaurationsgesellschaft versteckt, die Napoleon-Rolle als Don Juan-Rolle darzustellen. Der Liebesakt ist dabei für ihn anfänglich immer ein militärischer devoir, „acts of courage, dutifully performed but accompanied by no thrill of pleasure“ (Giraud, 1957: 72). Dies steht in einer interessanten Diskrepanz dazu, dass Juliens erste Napoleon-Fantasie nicht militärisch, sondern amourös konnotiert ist: „Pourquoi ne serait-il pas aimé d'une d'elles [des jolies femmes de Paris], comme Bonaparte, pauvre encore, avait été aimé de la brillante Mme de Beauharnais ?“ (Stendhal, 1997: 32)
26Hier wird sichtbar, dass die Napoleon-Rolle auch auf soziale Anerkennung, in Form der Liebe der adeligen Frauen, ausgelegt ist, und nicht nur auf heroischen Widerstand gegen die Ungerechtigkeit der Gesellschaft. Die Napoleon-Rolle als Grundlage für Juliens Rollendialektik ist, sobald sie aus ihrer eigentlichen historischen Situiertheit in die Restaurationsgesellschaft versetzt wird, in ihrer antagonistischen Motivation aus Revolution und Bestätigung der Verhältnisse selbst hybrid. Dies wird auch im Verlauf seiner Liebesaffären offensichtlich: Als Pseudo-Familienvater bei den Rênals – als Hauslehrer der Kinder und als Liebhaber von Madame de Rênal – fühlt er sich ab einem gewissen Zeitpunkt sehr wohl: „Ses enfants, elle, Julien, tous étaient parfaitement heureux.“ (Stendhal, 1997: 157) Anerkennung als realer (werdender) Familienvater bekommt er später in Paris, als Monsieur de La Mole Julien nach der Schwängerung seiner Tochter Mathilde zum adeligen Gutsbesitzer ernennt. Mit der sexuellen Beziehung zu Mathilde de La Mole hat der soziale Aufstieg durch körperliches Handeln in der fiktiven Rolle seinen Höhepunkt erreicht, bis ein Brief von Madame de Rênal, in dem sie ihre Affäre mit Julien gesteht, diese soziale Existenz wieder zerstört.
27Sowohl auf der sprachlichen als auch der körperlichen Handlungsebene wird deutlich, wie komplex das Spannungsfeld zwischen den prinzipiell unvereinbaren Rollen „Napoleon“ und „Priester“ ist, und dass trotz ihrer Unmöglichkeit auf der Darstellungsebene die Rollenpluralität durch das dialektische Ineinandergreifen auf der Handlungsebene immer wieder zur Möglichkeit zu werden scheint.
28Vor Gericht stellt Julien die Napoleon-Rolle dabei das erste und einzige Mal entgegen den Rollenvorgaben der Restaurationsgesellschaft offen dar: „[V]ous voyez en moi un paysan qui s'est révolté contre la bassesse de sa fortune.“ (Stendhal, 1997: 482) Diese Darstellung der Napoleon-Rolle wird von Teilen der Zuschauer begeistert angenommen: Die Frauen weinen vor Rührung auf den Rängen, alle rechnen mit einem Freispruch. Julien scheint als Napoleon anerkannt, aber die Richter als absolute Instanz der sozialen Normen nehmen seine Darstellung nicht an und verurteilen ihn zu Tode – trotzdem wird er nach seiner Hinrichtung von seiner Geliebten Mathilde de La Mole zum Helden stilisiert. Die Personifizierung als Rolle, an der sich der Erfolg seiner Darstellung festmacht, kann bei der einmaligen Übertragung von der Handlungs- auf die Darstellungsebene nicht eindeutig situiert werden: Auf allen Ebenen bleibt Julien ein „caractère qui a l'air si impossible“.
- 6 Das entspricht, wie schon durch Bourgeois' Begriff der ironie romantique angedeutet, der Aufhebung (...)
29Juliens innerer Konflikt – die Dialektik aus Napoleon- und Priester-Rolle als Ausdruck des Versuchs, ein unmögliches Ideal zu realisieren – skizziert bereits die postromantische These, nach der soziale Norm und individuelle Utopie im konkreten Handeln nicht voneinander getrennt werden können.6 Entsprechend ist es auch wenig sinnvoll, die Untersuchung von Juliens Rollen auf das soziologisch-restriktive Verständnis im Sinne Dahrendorfs bzw. das anthropologisch-emanzipatorische im Sinne Plessners zu beschränken. Die Unterscheidung zwischen sozialer und dem hier aus der Literaturwissenschaft abgeleiteten Begriff der fiktiven Rolle zeigt sowohl strukturelle Gemeinsamkeiten als auch antagonistische Differenzen zwischen sozialer und fiktiver Rolle auf, ohne die Juliens innerer Konflikt nicht denkbar wäre. Der Impuls, den dieser Artikel am sicherlich sehr scharf konturierten Beispiel Julien Sorels zu geben hofft, gilt der Frage, ob soziale und fiktive Rollen in Literaturwissenschaft und Rollentheorie nicht stärker im Kontext zueinander untersucht werden sollten.