Navigation – Sitemap

HauptseiteNuméros4PostkolonialDie Debatte um das „Postkoloniale...

Postkolonial

Die Debatte um das „Postkoloniale“ in Frankreich

Wissenszirkulation und Soziale Dramen
Andrea Meza Torres

Zusammenfassungen

In Frankreich kündigt die „Postkolonial“-Debatte ein soziales Drama um die Zukunft der Nation an. Die Diskussion zeigt Spannungen zwischen Politik und Wissenschaft auf und bietet wichtige Perspektiven in Bezug auf die inneren Grenzen Frankreichs und Europas. In diesem Artikel werde ich eine Auswahl der in Frankreich erschienenen Literatur über das „Postkoloniale“ aus verschiedenen Blickwinkeln auswerten. Es werden folgende Fragen aufgeworfen: Wie können – vermittels dieser Diskussion – unterschiedliche Wissensfelder in Dialog gebracht werden? Wie können differenzierte Zugänge zu gesellschaftliche Spannungen gewonnen werden und neue Stimmen auftauchen? Die Auswirkungen einer globalen Zirkulation postkolonialer Diskurse auf etablierte Wissensfelder sowie die unterschiedlichen lokalen Reaktionen darauf zeigen die Aufhebung bereits etablierter Grenzen und die Emergenz unbekannter Risiken für nationale Narrative. Das Ziel ist, dieses Spannungsfeld als eine positive Chance zu begreifen. Aus diesem Grund werde ich zunächst auf die Komplexität der Kontextualisierung postkolonialer Diskurse eingehen. Anschließend werde ich die sozialen Spannungen und Prozesse gesellschaftlicher Fragmentierung in Frankreich aus dieser Außenperspektive aufwerten.

Seitenanfang

Volltext

  • 1 In diesem Sinne erinnert diese Debatte an die Avantgarde-Bewegungen (Surrealismus, Futurismus, Dada (...)

1In Frankreich markiert die Diskussion um das „Postkoloniale“ den Beginn eines langen sozialen Dramas (Turner, 1974), dessen Wurzeln in der Vergangenheit liegen. Die Debatten, die sich heute an dem Thema entzünden, stellen die Fortsetzung älterer Konflikte dar, die immer wieder aufkommen und seit Ende der 1990er Jahre neue Konturen angenommen haben. Aus einer globalen Perspektive werden neue Debatten sichtbar, welche den Rahmen des „Nationalen“ sprengen und neue Risikosituationen ankündigen. Die Diskussion um das Postkoloniale – vor allem ihre angelsächsische Variante – befindet sich einerseits im Spannungsfeld neuer Formen medialer Wissenszirkulation und prägt andererseits die Diskurse in den Themenbereichen Migration und Repräsentationen von Alterität im heutigen Europa.1

  • 2 Vgl. die antikolonialen Diskurse der Surrealisten im Jahr 1931 (Murphy, 2007: 20-23).
  • 3 In öffentlichen Debatten tauchen verschiedene und konträre Diskurse auf, welche um Repräsentationen (...)

2Postkoloniale Diskurse stellen die Fundamente der Nation und der Republik in Frage2 und provozieren, indem sie soziale Bewegungen mit partikulären Identitäten unterstützen, eine starke Reaktion von Seiten vehementer Verteidiger der französischen Nation und des Universalismus. So hat die Debatte um das Postkoloniale einen Tornado ausgelöst. Alte Tabus werden angetastet sowie anscheinend beendete Diskussionen – wie z. B. über Dekolonisierungsprozesse und die Départementalisation – brechen erneut aus und werden in öffentlichen, global vernetzten Agoras verortet.3

  • 4 Victor Turner prägte den Begriff „social drama“ 1974 in Dramas, Fields and Metaphors, angelehnt an (...)
  • 5 Im Sinne von Fischer-Lichtes Ästhetik des Performativen (2004). Dieser Ansatz aus den Theaterwissen (...)
  • 6 Nach Fischer-Lichtes Argumentationen multipliziert jede Reaktion die Verlaufsmöglichkeiten einer Si (...)

3In diesem Artikel möchte ich die Debatte um das Postkoloniale aus der Perspektive eines sozialen Dramas4 betrachten. Denn die Auswirkungen einer globalen Zirkulation „postkolonialer Diskurse“ auf etablierte Wissensfelder und die lokal unterschiedlichen Reaktionen darauf multiplizieren die Möglichkeiten an Positionierungen im Verlauf der Debatte um die „Nation“. Hier zeigt sich somit ein Spannungsfeld, in dem sich etablierte Grenzen zwischen unterschiedlichen Gruppen und Akteuren zunehmend öffnen und unterschiedliche Bedeutungsrahmen miteinander kollidieren.5 In Frankreich will man schließlich die Narrative der französischen Nation bewahren. Andererseits bedienen sich sozial benachteiligte Gruppen dieser postkolonialen Diskurse, um Forderungen nach gesellschaftlicher Teilhabe zu artikulieren. Dabei geht es um die Ankündigung und den Beginn eines performativen sozialen Dramas, in dem etablierte Narrative neuen und unbekannten Risiken ausgesetzt werden.6 Es handelt sich um eine Debatte, die sich auf einer weiten Skala zwischen dem Bruch mit der französischen Republik (als einer dem Kolonialismus treuen Gesellschaftsform) einerseits und der Bejahung und Kontinuität dieser nationalen Narrative (die Rettung des Universalismus und der „mission civilisatrice“) andererseits erstreckt.

  • 7 Wie z. B. in den Argumentationen von Pouchepadass (2007: 203-207).

4An der Debatte beteiligen sich auf der einen Seite soziale, postkoloniale und migrantische Bewegungen (wie die „Indigènes de la République“) sowie Vereinigungen, die sich beispielsweise für ein Gesetz über die Anerkennung der Sklaverei als ein Verbrechen gegen die Menschheit einsetzen. Auf der anderen Seite beteiligen sich Gruppen, welche auf der positiven Präsenz Frankreichs im Mittelmeer und in Algerien bestehen. Auch die Museumslandschaft zeugt von dieser weiten Spanne: Sie reicht von der Cité nationale de l’histoire de l’immigration (Aufwertung der Präsenz der Migranten in Frankreich, 2007) bis hin zum Musée d’histoire de France, einem von Sarkozy im Jahr 2009 angekündigten Nationalmuseum (Thiesse, 2010 : 104). Im akademischen Feld haben sich, angeregt durch Publikationen wie La fracture coloniale (Blanchard, Bancel und Lemaire, 2006), kontroverse Debatten entzündet, die mit großer Heftigkeit geführt werden. So werden einige Ansätze dieser Debatten z. T. völlig ignoriert bzw. ihre Wissenschaftlichkeit in Frage gestellt – etwa auch angelsächsisch geprägte postkoloniale Narrative.7

5Sämtliche Positionierungen drücken verschiedene politische Ansichten über die Zukunft der modernen Nation aus und bringen subjektive wie kollektive Vorstellungen von Kontinuität und Diskontinuität auf den Tisch, welche wichtig für eine Neugestaltung der Gesellschaftsordnung sind. Dieses Spannungsfeld verkörpert eine Gesellschaft im Umbruch und erinnert an vergangene Zeitpunkte, zu denen bereits über Kontinuitäten und Brüche debattiert wurde.

  • 8 Alle kreisen um Ereignisse des Jahres 2005.
  • 9 Siehe auch: « Penser la crise des banlieues », Annales. Économies. Societés. Civilisations, 61.4, 2 (...)
  • 10 Während der französischen EU-Ratspräsidentschaft.

6Die Literatur, die seit 2005 in Frankreich zum Postkolonialen erschienen ist, macht die Debatte hauptsächlich an sechs Beispielen fest.8 Das erste stammt aus dem Bereich der sozialen Bewegungen. Konkret handelt es sich um das Manifest von Les indigènes de la République (Robine, 2006 : 118-148). Das zweite Beispiel kommt aus dem Bereich der Gesetzgebung. Nach Artikel 4 des Gesetzes vom 23. Februar 2005 sollte die französische Präsenz im Mittelmeer, vor allem in Algerien, positiv dargestellt werden – insbesondere in Schulen und im Geschichtsunterricht. Dieser Artikel wurde aufgrund von Protesten verschiedener Seiten – wie z. B. von Seiten der Regierung Algeriens, der Übersee-Départements und von HistorikerInnen – schließlich zurückgezogen (Blanchard u. a., 2006 : 18-19). Das dritte Ereignis bilden die Unruhen in den Pariser Banlieues, an denen hauptsächlich Jugendliche mit so genanntem „Migrationshintergrund“ beteiligt waren (Giblin, 2006 : 77-95).9 Das vierte Beispiel bezieht sich auf die Publikation von La fracture coloniale und die darauf folgenden akademischen Debatten um die Emergenz einer postkolonialen Denkrichtung in Frankreich. Diese Debatten sind auch mit den Themen der Dekolonisierungsbewegungen in den 1960er Jahren und den Unabhängigkeitsbewegungen in Lateinamerika im 19. und 20. Jahrhundert verknüpft – denn vieles, was heutzutage als „neu“ präsentiert wird, wurde bereits in anderen geopolitischen Kontexten diskutiert und durchgeführt (Balandier, 2007 : 17-24 ; Mangeon, 2006 : 63-64). Die Debatte kreist um die Frage, warum das Postkoloniale heutzutage wichtig sei (Lacoste, 2007 : 5-27 ; Smouts, 2007 : 25-66). Das fünfte Beispiel ist die Gedächtnislandschaft, die sich zunehmend als ein Kriegsfeld gestaltet: ein Denkmal für französische Soldaten in Algerien, die Einführung eines offiziellen Tages zur Erinnerung an die Verbrechen der Sklaverei, die Aufwertung von Beiträgen der Immigranten in Frankreich – all diese Erinnerungsorte sind Teil der nationalen Gedächtnisgeographie (Blanchard u. a., 2006 : 18). Sie widersprechen einander und zeigen die Fragmentierung des kollektiven Gedächtnisses. Sechstens berührt die Debatte um das Postkoloniale den Bereich der Migration und der europäischen Migrationspolitik, die im Jahr 2008 eine feste Form10 angenommen hat. Hier werden soziale Transformationen sichtbar, durch die die „inneren“ Grenzen Frankreichs im Rahmen des Europäisierungsprozesses neu thematisiert werden (Fassin, 2010).

  • 11 Siehe auch: Eric Fassin (1993).

7Die Wurzeln der Debatte um das Postkoloniale in Frankreich sind räumlich und zeitlich weit zerstreut. Hier seien nur einige Knotenpunkte erwähnt. Der erste ist die besondere Geschichte des transatlantischen Wissenstransfers zwischen Frankreich und den USA. In French Theory (2003) beschreibt Cusset einen spezifischen transnationalen Prozess, der mit der Rezeption französischer Intellektueller in den USA – Baudrillard, Deleuze, Derrida, Foucault, Lyotard, u.a. – und deren Wirken an US-amerikanischen Universitäten begann. Hier wurde Wissen aus dem Frankreich der 1960er und 1970er Jahre in die USA der 1980er und 1990er Jahre transferiert (Cusset, 2003 : XIV). Der Einfluss dieser Intellektuellen habe zu dem geführt, was seit den 1990er Jahren als „Turns“ – linguistic, iconic, performative, postmodern turns – in den Geisteswissenschaften bekannt ist. Darüber hinaus sei die Präsenz dieser Intellektuellen für neue Bezüge zwischen Kunst und Geschichte sowie für die Herausbildung der amerikanischen Postcolonial, Gender und Queer Studies ausschlaggebend gewesen. Nach der Argumentation Cussets waren die USA ein fruchtbarer Boden für die Reinterpretation und Deterritorialisierung dieser Theorien, was sich in der Entstehung der French Studies zeige.11

  • 12 Diese These basiert erstens auf Studienerfahrungen in verschiedenen universitären Einrichtungen, zw (...)
  • 13 Über dieses Problem schreiben Maxime Cervulle und Nick Rees-Roberts (2010: 48-50).

8Diese epistemologische Wende hat aber nicht nur die USA geprägt, sondern ist im globalen Raum zirkuliert und hat andere akademische Landschaften ebenfalls beeinflusst. Heutzutage wird sie in Europa je nach universitärem Umfeld und Wissenstradition als ein „Zurückkommen“ akzeptiert oder abgelehnt. In Frankreich werden die neu-interpretierten Ideen französischer Philosophen meist als ein verdächtiges – weil dekontextualisiertes imperialistisches – Wissen kritisiert, das den Universalismus in Frage stelle, die Histoire avec un grand H leugne und neue Narrative über die Kolonialgeschichte produziere, in denen europäische Länder wie Frankreich die Hauptrollen spielen.12 Auch indem postkoloniale Narrative eine Emanzipation von Subjektivitäten und Gruppenidentitäten fördern, die sich aus der Überschneidung der historischen Kategorien von „Rasse“, „Klasse“ und „Gender“ definieren, werden sie als eine Bedrohung für Gesellschaften gesehen, die sich historisch nach den Prinzipien des „Universellen“ organisiert haben.13

9Diese spezifische Geschichte von Wissenstransfer könnte das irreführende Bild vermitteln, dass postkoloniale Theorie ausschließlich aus der Kombination von französischen Theorien und dem US-amerikanischen Imperialismus stammt, was eine (nord)west-zentrische Perspektive zum Ausdruck bringt. Deshalb scheint es mir wichtig, diese reduktive Haltung zu hinterfragen, um die Spezifität neuer Wissensproduktionen zu betonen. Im Folgenden werde ich mich, statt auf Wissenstransfer, auf einen Prozess von Wissenszirkulation beziehen.

10In Provincializing Europe (2000) verleiht Chakrabarty der Tatsache Nachdruck, dass universelle Prinzipien in verschiedenen Teilen der Welt unterschiedliche Formen angenommen haben und dass „nicht-westliche“ Akteure die politischen und demokratischen Prinzipien des Universellen anderes artikuliert haben. „Postcolonial thought“ hätte sich z. B. in Bangladesch oder Indien eigenständig entwickelt und verkörpere mehr als einen Dialog mit den westlichen Zentren. Diese Wissensproduktion zeige eigene Konturen und erweise sich nicht als Feind des Universellen. Chakrabartys Beobachtung ist deshalb wichtig, weil er das postkoloniale Denken jenseits Europas und des Westens verortet.

  • 14 Hier verstehe ich Diskurse als „epistemologische Performanzen“ (im Sinne Spivaks 2010), welche Na (...)

11Wenn man aber andere postkoloniale Ansätze betrachtet wie z. B. den von Bhabha (1994) oder Spivak (1988), stellt man fest, dass diese Mutationen im Diskurs insofern eine Erneuerung sind, als dass sie sich aus den „in-between spaces“ der transnationalen Migrationsräume bilden und somit älteres Wissen in neuen Agoras aktualisieren.14 Meistens aus Indien stammend, üben postkoloniale Autoren Kritik an einer Geschichtsschreibung aus, die in kolonialen Kontexten entstanden ist. Auch problematisieren sie Differenzen von „Klasse“ in Bezug auf die historischen Kategorien „Rasse“ (Gilroy, 1992) und „Gender“ (Spivak, 1988). Texte wie Gilroys‘ „Black Atlantic“ machen Repräsentationen von „Rasse“ an dem historischen Kontext des Sklavenhandels fest und tragen somit zur Geschichtsschreibung anderer Prozesse von erzwungener Migration und derer geopolitischen Räume bei.

12Diese Autoren zitieren jene französischen Intellektuellen, die sich in den 1980er Jahren in den USA etablierten, aber auch Autoren wie Fanon, Césaire und Senghor. Darüber hinaus werfen sie, indem sie Kritik an der Kulturpolitik des Commonwealth üben, automatisch kritische Fragen über ähnliche kulturelle Repräsentationsräume wie die Frankophonie auf. Andererseits setzen postkoloniale Autoren eine Wissenszirkulation fort, die keine lineare Geschichte hat und aus unterschiedlichen Epochen stammt: Unabhängigkeitsbewegungen in Nord- und Südamerika (zwischen 1780 und 1910), Avantgarde-Bewegungen in Europa (zwischen 1900 und 1931), Revolutionen und Dekolonisationsbewegungen in Afrika (1960er Jahre) bis hin zur Départementalisation auf den Antillen (1960, 1990) – sie alle prägen die Emergenz von postkolonialem Wissen. Hier wird sichtbar, dass die Referenzen für die Herausbildung dieses Wissens in einem großen geschichtlichen Umfeld zerstreut sind und deshalb nur aus relationalen und transnationalen Narrativen zu betrachten sind. Aus diesem Grunde muss die Entstehung jedes Diskurses sorgfältig kontextualisiert und die voreilige Kritik vermieden werden, dass das Postkoloniale nur deterritorialisiertes, dekontextualisiertes und US-amerikanisches, imperialistisches Wissen darstelle.

  • 15 Ein Beispiel ist der Werdegang von Achille Mbembe.
  • 16 „Methodologischer Nationalismus“ drückt eine Kritik an Migrationsstudien aus, deren Forschungsdesig (...)

13Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass eine eurozentrische Perspektive die Tatsache verkennt, dass sich postkoloniale Theoretiker aus Indien, Bangladesch, Lateinamerika und Frankreich15 als „Migranten“ erweisen, die u. a. in den USA eine Universitätslaufbahn eingeschlagen haben – ähnlich wie die französischen Intellektuellen der French Theory in der 1970er und 1980er Jahren. Es handelt sich um Intellektuelle aus gebildeten Mittelschichten, die Migrationsprozessen gefolgt sind – oder folgen mussten. Ihre Karrierechancen bewegten sich aus unterschiedlichen Gründen auf US-amerikanischem universitärem Gebiet, und nur auf diese Weise stehen sie mit dem US-amerikanischen Imperialismus in Zusammenhang – ihren Platz haben sie durch die Öffnung des Systems erkämpft. Dies stellt einen wichtigen Unterschied zu den französischen postkolonialen Autoren dar, die sich nicht als Migranten verstehen und aus dem Zentrum, der Métropole, und hauptsächlich aus den Afrikawissenschaften heraus wirken. Der Publikation La fracture coloniale wird zwar Radikalität vorgeworfen (Leménager, 2006 : 85-90), aber sie leidet auch unter einem methodologischen Nationalismus16, indem sie sich ausschließlich Frankreich als „Hexagon“ zum Problemfeld macht (Vergès, 2005 : 74-76). Im Falle der angelsächsischen postkolonialen Debatte geht es um ein komplexes Zusammenkommen von Migrationsprozessen (von Menschen und Wissen), Emanzipationsbewegungen und wirtschaftlichen Bedingungen, dessen Ergebnis die Emergenz „neuer“ Akteure auf US-amerikanischem akademischem Gebiet (und in dessen Reichweite) ist.

  • 17 Im Gegensatz zu den meisten Referenzen in Frankreich, wo diese Autoren oberflächlicher Kritik ausge (...)

14Auch wichtig zu erwähnen ist, dass postkoloniale Readers oder Anthologien unterschiedliche Ausrichtungen haben. Das Postkoloniale ist kein homogenes Feld (Mbembe, 2006), sondern hat viele Färbungen, und es existieren innere Auseinandersetzungen zwischen den zahlreichen geopolitischen und disziplinären Perspektiven. Deshalb sind diese in unterschiedlichen Readers untergebracht. Jeder Herausgeber eines solchen Sammelbandes wählt jeweils ein Datum als Referenz für die Herausbildung postkolonialen Wissens und als Entstehungskontext für die Beiträge im Sammelband. So wird z. B. ausgehend von der „Entdeckung“ Amerikas oder dem Beginn des Sklavenhandels eine geschichtliche Chronologie gestiftet. Im Falle von Lazarus’ The Cambridge Companion to Postcolonial Literary Studies (2004), das ich hier als Beispiel heranziehe, weil es ins Französische übersetzt wurde und häufig als Referenz im französischen Kontext auftaucht, wird eine Chronologie ab dem Jahr 1898, dem Beginn der imperialistischen Macht der USA, hergestellt. Ob Zufall oder nicht, das von Lazarus gewählte Datum und sein kritischer Blick auf das Werk von z. B. Bhabha könnte die Rezeption dieses Werkes in Frankreich begünstigt haben. Lazarus’ Perspektive ist deshalb relevant, weil er Autoren zu Wort kommen lässt, die unterrepräsentiert sind, da sie nicht dem postkolonialen Kanon angehören. Andererseits könnte Lazarus’ Erfolg in Frankreich darauf beruhen, dass sein Band die sensiblen Punkte der französischen Geschichte (wie die Kolonialgeschichte und den Sklavenhandel) weniger stark thematisiert und gleichzeitig zur Konstitution eines Feindbildes – des US-Imperialismus – gelesen wird. Es ist zu bemerken, dass Lazarus’ Sammelband wichtige Debatten in Gang setzt, denn die dort geäußerte Kritik (etwa von Bhabha oder Spivak) ist eine interessante Dezentrierung der dominanten postkolonialen Denkrichtung.17

  • 18 Aus diesem Grund stellen postkoloniale Autoren ihre Kontexte selbst her, eine Repräsentationspraxis (...)

15Die vielfältigen postkolonialen Diskurse können nicht anhand üblicher nationaler (linearer) Geschichtsnarrative kontextualisiert werden18, denn sie stellen einerseits eine Widerholung bereits formulierter Ideen dar, die in unterschiedlichen Temporalitäten verortet sind, andererseits verkörpern sie die Entstehung neuer Akteure, Räume und Wissensformen, die seit der 1990er Jahren eng an neue ökonomische Zusammenhänge geknüpft sind. Die Frage ist: Welche Rolle spielt nun dieses neue Wissen im heutigen Frankreich?

16Soziale Bewegungen wie die Indigènes de la République und der Conseil représentatif des associations noires de France instrumentalisieren Aspekte der postkolonialen Wissensproduktion als ein Werkzeug für den Kampf um soziale Gerechtigkeit. Indem sie die Bereiche „Alltagsleben“, „politische Repräsentation“ und die Geschichtlichkeit der Konstruktionen von Alterität in Europa miteinander verbinden, weisen sie Charakteristika einer Avantgarde „von unten“ auf. Mehr und mehr finden unterschiedliche Gruppen in diesen Diskursen den Weg, partikuläre Forderungen (politische Emanzipation) zu erkämpfen und neue Identitäten zu bilden – wie z. B. die unterschiedlichen Intersektionen von Geschlecht (Männlichkeiten, Homosexualität, Transsexualität) und Erfahrungen von Rassismus. Da diese soziale Emanzipation nationale Repräsentationen kritisiert (und aufgrund ihrer globalen, kosmopolitischen Vernetzung), wird ihr oft der Vorwurf gemacht, sie würde zur sozialen Fragmentierung beitragen.

17Im Gegensatz zu dieser Annahme wird meines Erachtens die gesellschaftliche Fragmentierung anderswo spürbar: Der Artikel 4 des Gesetzes vom 23. Februar 2005 ist das Beispiel eines anachronistischen Gesetzentwurfs. Es zeigt Intoleranz nicht nur gegenüber kritischen Diskussionen, sondern auch gegenüber der Autonomie der Geschichtsschreibung und des Geschichtsunterrichts auf nationaler Ebene. Hier zeichnet sich eine tiefe innere Auseinandersetzung im politischen Bereich der Geschichtsschreibung19 ab.

  • 20 Glissant schreibt aus der Perspektive der äußersten Grenzen Europas und aus der Sicht einer ehemali (...)
  • 21 Dies ist auch der Fall in Lateinamerika, wo Intellektuelle zwar Ansichten mit den Postkolonialen te (...)

18Die Diskussion prägt auch den wissenschaftlichen Bereich, wobei innere (lokale) Konflikte mit äußerer Kritik (Außenperspektiven) kollidieren. Dies wirft noch komplexere Fragen auf, denn in der Auseinandersetzung um die Geschichtsschreibung scheint es keine einfachen Lösungen zu geben. Denn nicht nur die postkoloniale Theorie, sondern auch Denker wie Édouard Glissant (1990)20 üben Kritik an der Histoire avec un grand H und am Universalismus. Diese Denker, die sich an den „Rändern“ positionieren und ein eigenes Wissen entwickeln (und Fachbereiche wie etwa die US-amerikanischen Cultural Studies kritisieren), sind nicht als postkolonial einzustufen.21 All dies zeugt von einer komplexen Debatte mit offenem Ende im Bereich der Geschichtsschreibung.

  • 22 Hiermit beziehe ich mich auf die Reflexion, dass soziale „Entwicklung“ (development / progress) kei (...)
  • 23 Didier Fassins Sammelband (2010) ist ein Beispiel für die Entwicklung solcher wissenschaftlichen Zu (...)

19Die aktuelle Situation verlangt nach einer neuen Verbindung zwischen Politik und Wissenschaft. In Europa sind Debatten, die früher an den so genannten Peripherien – wie z. B. Lateinamerika und Afrika – geführt wurden, innerhalb der regionalen und nationalen Grenzen angesiedelt.22 Migrationsprozesse und ihre Verbindung zu sozialen Bewegungen, Medialität und Wissensproduktion haben zur Ausbildung neuer Gesellschaftsformen beigetragen und Fragen bezüglich der „inneren“ und „äußeren“ Grenzen Europas aufgeworfen (Fassin, 2010 : 5-24). Dafür müssten ständig neue wissenschaftliche Zugänge entwickelt werden, und zwar im Dialog mit verschiedenen Akteuren und Wissensfeldern.23 Die Diskussion um das postkoloniale Wissen (in all ihren Varianten) scheint mir eine Chance zu sein, neue gesellschaftliche Studien zu produzieren und neue Stimmen zu fördern. Sie bietet darüber hinaus Gelegenheit, der Sackgasse des Universalismus zu entkommen und Antworten auf bestimmte Formen des US-amerikanischen, postmodernen und imperialistischen Wissens zu formulieren. Sie könnte zur Entstehung einer reflexiven Kritik der Geschichte des Universalismus beitragen, welche politisches Engagement mit Wissenspraktiken zu verbinden vermag.

20Im Vergleich zu anderen akademischen Landschaften (wie z. B. der angelsächsischen), ist in Frankreich eine neue Generation von Wissensproduzenten, die sich aus multiplen Orten heraus frei artikulieren und neue Räume für Diskussionen und Debatten eröffnen könnten, kaum sichtbar. Es fehlt eine größere Öffentlichkeit für die Verbreitung solcher Stimmen, die sich der Erneuerung und Aktualisierung des Wissens annehmen. Die kontinuierliche Entstehung kritischer Stimmen ist erforderlich, um in der Zukunft neuen gesellschaftlichen Repräsentationen Raum zu verschaffen.

Seitenanfang

Bibliografie

Balandier, Georges (2007): Préface, in: Smouts, Marie-Claude (Hg.): La situation postcoloniale. Paris (Presses de Sciences Po), S. 17-24.

Bhabha, Homi K. (1994): The Location of Culture. New York (Routledge).

Blanchard, Pascal, Nicolas Bancel und Sandrine Lemaire (2006): La fracture coloniale. Paris (La Découverte).

Butler, Judith (2009): Frames of War. When Is Life Grievable? London (Verso).

Cervulle, Maxime und Nick Rees-Roberts (2010): Homo Exoticus. Race, classe et critique queer. Paris (Armand Colin).

Chakrabarty, Dipesh (2000): Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference. New Jersey (Princeton University Press).

Cusset, François (2003): French Theory: Foucault, Derrida, Deleuze & Cie et les mutations de la vie intellectuelle aux États-Unis. Paris (La Découverte).

Diouf, Mamadou (2006): Les études postcoloniales à l’épreuve des traditions intellectuelles et des banlieues françaises, Contretemps. Postcolonialisme et immigration, 16.6, S. 17-30.

Evens, Terry M.S. und Don Handelmann (2005): Preface. Extended-Case Studies – Place, Time, Reflection, Social Analysis, 49.3, S. 185-188.

Fassin, Didier (2010): Les nouvelles frontières de la société française. Paris (La Découverte).

Fassin, Eric (1993): La chaire et le canon. Les intellectuels, la politique et l’Université aux États-Unis, Annales. Économies. Societés. Civilisations. 2.48, S. 265-301.

Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen. Frankfurt/Main (Suhrkamp).

Foucault, Michel (1971): L’ordre du discours. Paris (Gallimard).

Giblin, Béatrice (2006): Fracture sociale ou fracture nationale ? De la gravité des violences urbaines de l’automne 2005, Hérodote. Revue de géographie et de géopolitique, 120.6, S. 77-95.

Gilroy, Paul (1992): The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness. Cambridge (Harvard University Press).

Glissant, Édouard (1990): Poétique de la Relation. Paris (Gallimard).

Kaschuba, Wolfgang (2006): Einführung in die europäische Ethnologie. München (Beck).

Kirshenblatt-Gimblett, Barbara (2000): „The Museum as Catalyst“, Keynote Address, Museums 2000: Confirmation or Challenge. Organized by ICOM Sweden, The Swedish Museum Association and The Swedish Travelling Exhibition Riksutställningar in Vadstena, 29. September 2000.

Lacoste, Yves (2006): La question postcoloniale, Hérodote. Revue de géographie et de géopolitique, 120.6, S. 5-27.

Lazarus, Neil (Hg.) (2004): The Cambridge Companion to Postcolonial Literary Studies. Cambridge (Cambridge University Press).

Leménager, Gregoire (2006): Des études (post)coloniales à la française, Labyrinthe, atelier interdisciplinaire, 2.6, S. 85-90.

Mangeon, Anthony (2006): „Maîtrise et déformation: les lumières difractées“, Labyrinthe, atelier interdisciplinaire, 2.6, S. 63-83.

Mbembe, Achille (2006): „Qu’est-ce que la pensée postcoloniale ? (Entretien), Esprit, 12.6. http://www.esprit.presse.fr/archive/review/article.php?code=13807.

Murphy, Maureen (2007): Un palais pour une cité. Du musée des colonies à la Cité Nationale de l’histoire de l’immigration. Paris (Réunion des musées nationaux).

Pouchepadass, Jaques (2007): Le projet critique des postcolonial studies entre hier et demain, in: Smouts, Marie-Claude (Hg.): La situation postcoloniale. Paris (Presses de Sciences Po), S. 174-218.

Robine, Jérémy (2006): Les ‚indigènes de la République : nation et question postcoloniale, Hérodote. Revue de géographie et de géopolitique, 120.6, S. 118-148.

Römhild, Regina (2007): Alte Träume, neue Praktiken: Migration und Kosmopolitismus an den Grenzen Europas, in : TRANSIT MIGRATION Forschungsgruppe (Hg.): Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas. Bielefeld (transcript), S. 211-222.

Smouts, Marie-Claude (2007): Le postcolonial. Pour quoi faire ?, in: Smouts, Marie-Claude (Hg.): La situation postcoloniale. Paris (Presses de Sciences Po), S. 25-66.

Spivak, Gayatri (1988): Can the Subaltern Speak?, in: Nelson, Carry und Lawrence Grossberg (Hg.). Marxism and the Interpretation of Culture. Urbana (University of Illinois Press).

--- (2010): „Aesthetic Education in the Era of Globalisation”, Vortrag an der Freien Universität Berlin, Center for Area Studies, History and Cultural Studies. 10. Juni 2010, Berlin.

Thiesse, Anne-Marie (2010): L’histoire de France en Musée. Patrimoine collectif et stratégies politiques, Raisons politiques, 37.10, S. 103-117.

Turner, Victor (1974): Social Dramas and Ritual Metaphors, in: Dramas, Fields and Metaphors. Ithaca (Cornell University Press), S. 23-59.

Van Gennep, Arnold (1909): Les rites de passage. Paris (Nourry).

Vergès, Françoise, (2005): Malaise dans la République : mémoires troublées, territoires oubliés, in: Blanchard, Pascal (Hg.): Culture post-coloniale 1961-2006. Traces et mémoires coloniales en France. Paris (Autrement), S. 69-82.

Wimmer, Andreas und Nina Glick Schiller (2003): Methodological Nationalism, the Social Sciences and the Study of Migration, International Migration Review, 37.3, S. 576-610.

Zeitschriften

„Penser la crise des banlieues“, Annales. Économies. Societés. Civilisations, 61.4, 2006.

„Le postcolonial et l’histoire“, Multitudes, 26, Herbst 2006, S. 75-163.

Internetseiten

http://www.pressafrique.com/m215.html (letzter Zugriff : 15.10.2010).

Seitenanfang

Anmerkungen

1 In diesem Sinne erinnert diese Debatte an die Avantgarde-Bewegungen (Surrealismus, Futurismus, Dadaismus) und an die sozialen und geopolitischen Konstellationen der 1960er Jahre. In beiden Fällen wurde über gesellschaftliche und technologische Transformationen, neue Formen von Erinnerung und politischer Emanzipation sowie den Platz des „nicht-Westlichen“ im westlichen Denken reflektiert. Heutzutage zeigen Migrationsbewegungen eine Form des Kosmopolitismus „von unten“ (vgl. Römhild, 2007).

2 Vgl. die antikolonialen Diskurse der Surrealisten im Jahr 1931 (Murphy, 2007: 20-23).

3 In öffentlichen Debatten tauchen verschiedene und konträre Diskurse auf, welche um Repräsentationen des Sozialen konkurrieren. Im Sinne der Diskursdefinition von Kaschuba (2006: 235-237) verstehe ich postkoloniale Diskurse als Argumentationssysteme, welche koloniale Wissensordnungen und gesellschaftliche Wissenssysteme in Frage stellen. Sie tragen zur Veränderung von Denk- und Praxissystemen bei, indem sie die Formen und Regeln öffentlichen Denkens mitprägen. Somit nehmen sie eine wichtige Rolle im neuen Raum der Debatte ein.

4 Victor Turner prägte den Begriff „social drama“ 1974 in Dramas, Fields and Metaphors, angelehnt an Van Genneps Studie der Rites de passage (1909). Turner erforschte Konflikte, Rituale und sozialen Wandel aus der Perspektive der ästhetischen / theatralischen Metapher des Dramas. Da Turner der Phase der Liminalität einen besonderen Nachdruck verlieh, wurden seine Perspektive und die Methoden der Manchester Schule in den letzten Jahren wiederbelebt und in postkolonialen Kontexten angewandt (vgl. Evens and Handelman, 2005: 185). So entstand die Erforschung von „extended case studies“, d. h. von Konfliktsituationen mit offenem Ende. Turners Ansatz wird in den Theaterwissenschaften (Fischer-Lichte, 2004) und in den Performance Studies stark reflektiert (wie z.B. Barbara Kirschenblatt-Gimblet, 2000, im Bereich der Museumsforschung). Obwohl ich mich an die Argumentationen Fischer-Lichtes anlehne, um Bühnendynamiken und Risiken aufzuzeigen, mit denen die Konflikte um das Postkoloniale verbunden sind, beruhen grundsätzliche Gedanken und Reflexionen auf der Lektüre von Turners Werk.

5 Im Sinne von Fischer-Lichtes Ästhetik des Performativen (2004). Dieser Ansatz aus den Theaterwissenschaften verfolgt den Prozess der Auslöschung von etablierten Grenzen am Beispiel der performativen Wende der 1960er Jahre und ihrer Fortsetzung bis in die 1980er und 1990er Jahre. Fischer-Lichte stellt fest, wie partizipative Räume im Theater – wo die Grenzen zwischen Schauspielern und Publikum systematisch aufgehoben wurden – zum Teil zur Herstellung neuer Beziehungen führten, andererseits starke Reaktionen verursachen. Die Autorin reflektiert über diese feedback-Schleife im Theater und in sozialen Räumen und hebt die Bedeutung von Reaktionen hervor, welche das Risiko unsicherer Situationen zu bremsen versuchen, allerdings ihre Unvorhersehbarkeit erhöhen.

6 Nach Fischer-Lichtes Argumentationen multipliziert jede Reaktion die Verlaufsmöglichkeiten einer Situation. Am Beispiel einer Weigerung des Publikums, sich den Befehlen von Schauspieler und Regisseur unterzuordnen, beschreibt die Autorin: „In diesem Sinne lässt sich die Weigerung mit dem sprichwörtlichen Schmetterlingsflügelschlag vergleichen, der einen Prozess in Gang setzt, welcher in seinem weiteren Verlauf einen Tornado verursachen bzw. verhindern wird. […] Was hier durch den Rollenwechsel klar hervortrat, gilt generell für die feedback-Schleife: Weder sind die Reaktionen der Zuschauer vorhersehbar oder komplett kontrollierbar noch auch die Auswirkungen, die sie auf die Akteure und die anderen Zuschauer haben werden. […] Es ist die für Aufführungen konstitutive leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern, die sie unwiderruflich in Gang setzt. Wo Menschen leiblich aufeinandertreffen, reagieren sie aufeinander.“ (Fischer-Lichte, 2004: 67)

7 Wie z. B. in den Argumentationen von Pouchepadass (2007: 203-207).

8 Alle kreisen um Ereignisse des Jahres 2005.

9 Siehe auch: « Penser la crise des banlieues », Annales. Économies. Societés. Civilisations, 61.4, 2006.

10 Während der französischen EU-Ratspräsidentschaft.

11 Siehe auch: Eric Fassin (1993).

12 Diese These basiert erstens auf Studienerfahrungen in verschiedenen universitären Einrichtungen, zweitens auf zahlreichen Gesprächen mit Akademikern aus Frankreich sowie auf meiner Teilnahme an verschiedenen Arbeitsgruppen in Paris. Hier wurde nicht selten ein offener Antiamerikanismus artikuliert, der leider zur Ablehnung von allem, was damit irgendwie „verbunden“ war, führte. Diese Erfahrungen habe ich später mit anderen Akademikern (meistens aus Lateinamerika, Deutschland, der Karibik, Großbritannien, sowie einigen aus Frankreich) verglichen, welche ähnliche Situationen erlebt haben. Sämtliche Gespräche und Erfahrungen sind Teil meiner Feldforschung und werden als ethnographisches Material ausgewertet. Allerdings sind meine Erfahrungen begrenzt, da ich andere Agoras in Frankreich – wie z. B. die anglistische Literaturwissenschaft oder die Littérature générale et comparée – noch nicht kenne, wo diese Themen angeblich diskutiert und adaptiert werden.

13 Über dieses Problem schreiben Maxime Cervulle und Nick Rees-Roberts (2010: 48-50).

14 Hier verstehe ich Diskurse als „epistemologische Performanzen“ (im Sinne Spivaks 2010), welche Narrative und Repräsentationen erzeugen, die Macht, Wissens- und Politikfelder (z. B. Geschichtsschreibung) in Frage stellen und gleichzeitig neue Formen sozialer und politischer Partizipation vorschlagen. Diskurse des „in-between“ sind mit kreativen Prozessen (Kunst, Literatur) sowie emanzipatorischen, politischen Zielen (von „Unsichtbaren“, z. B. Frauen oder Minderheiten) verbunden.

15 Ein Beispiel ist der Werdegang von Achille Mbembe.

16 „Methodologischer Nationalismus“ drückt eine Kritik an Migrationsstudien aus, deren Forschungsdesign das Bild der Nation reproduziert und somit die transnationalen Lebensräume der Migranten außer Acht lässt (Wimmer und Glick Schiller, 2003).

17 Im Gegensatz zu den meisten Referenzen in Frankreich, wo diese Autoren oberflächlicher Kritik ausgeliefert sind. Auch ist die Abwesenheit postkolonialer Stimmen in französischen Publikationen zu bemerken. Eine Ausnahme ist die Zeitschrift Multitudes, die 2006 Übersetzungen von Beiträgen der Autoren Ramón Grosfoguel, Homi K. Bhabha und Santiago Castro-Gómez veröffentlichte.

18 Aus diesem Grund stellen postkoloniale Autoren ihre Kontexte selbst her, eine Repräsentationspraxis, die auch in Arbeiten zu Migration(en) oft zu sehen ist.

19 Das Gesetz und der 4. Artikel werden erläutert unter: http://www.pressafrique.com/m215.html. Dort befindet sich die von Historikern unterschriebene Petition gegen dieses Gesetz.

20 Glissant schreibt aus der Perspektive der äußersten Grenzen Europas und aus der Sicht einer ehemaligen Kolonie (Martinique), die zum Département d’outre mer wurde.

21 Dies ist auch der Fall in Lateinamerika, wo Intellektuelle zwar Ansichten mit den Postkolonialen teilen, sich aber nicht als Vertreter der postkolonialen Theorie oder der Cultural Studies verstehen (z. B. Carlos Monsiváis und Bolívar Echevarría).

22 Hiermit beziehe ich mich auf die Reflexion, dass soziale „Entwicklung“ (development / progress) keine lineare Temporalität darstellt, die nur in bestimmten geographischen Räumen stattfindet. Diese Annahme wurde vor allem durch Migrationsprozesse nach Europa in Frage gestellt – welche zur Sichtbarkeit unterschiedlicher Temporalitäten (Lebensvorstellungen bezüglich Sexualität, Tradition, Religion und Moderne) beigetragen haben. Judith Butler warnt diesbezüglich, dass das Beharren auf fixierten Annahmen von „Entwicklung“ zur sozialen Exklusion führe. Dies macht Butler deutlich am Beispiel Frankreichs (Kopftuchdebatte) und Hollands (Einbürgerungsvertrag; dieser verlangt von den Kandidaten, Homosexualität zu akzeptieren) (Butler, 2009).

23 Didier Fassins Sammelband (2010) ist ein Beispiel für die Entwicklung solcher wissenschaftlichen Zugänge, welche Überlegungen über aktuelle soziale und epistemologische Grenzen zum Ausdruck bringen. Er entstammt einem produktiven transatlantischen Dialog, der die Veränderungen (turns) in den Geisteswissenschaften einbezieht und sie sorgfältig und differenziert auf spezifische Grenzphänomene in Frankreich anwendet.

Seitenanfang

Zitierempfehlung

Online-Version

Andrea Meza Torres, Die Debatte um das „Postkoloniale“ in FrankreichTrajectoires [Online], 4 | 2010, Online erschienen am: 15 Dezember 2010, abgerufen am 04 Dezember 2024. URL: http://0-journals-openedition-org.catalogue.libraries.london.ac.uk/trajectoires/531; DOI: https://0-doi-org.catalogue.libraries.london.ac.uk/10.4000/trajectoires.531

Seitenanfang

Autor

Andrea Meza Torres

Doktorandin, Institut für Europäische Ethnologie, Humboldt Universität zu Berlin, meza77@gmx.de

Seitenanfang

Urheberrechte

CC-BY-NC-SA-4.0

Nur der Text ist unter der Lizenz CC BY-NC-SA 4.0 nutzbar. Alle anderen Elemente (Abbildungen, importierte Anhänge) sind „Alle Rechte vorbehalten“, sofern nicht anders angegeben.

Seitenanfang
Suche in OpenEdition Search

Sie werden weitergeleitet zur OpenEdition Search