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Experten ohne Auftrag.

Interview mit der Autorin Kathrin Röggla zu Ausnahmezustand und Literatur (Juli 2009)
Karin Krauthausen et Kathrin Röggla

Texte intégral

1Kathrin Röggla gehört zu den Autoren der jüngeren Generation, die das Projekt eines Protest-Realismus (vgl. A. Kluge: „Die schärfste Ideologie: daß die Realität sich auf ihren realistischen Charakter beruft“, in ders.: In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod, Vorwerk 8 Verlag, Berlin 1999, S. 127-134), also einer kritischen und engagierten Literatur, fortschreiben. Dafür hat sie ein avanciertes und stark konzeptuelles Erzählen entwickelt, das sie mit einer fast barocken Sprachlust und phantastischen Zuspitzungen verbindet. Die Frage, wie zu erzählen ist, wird bei ihr sowohl literarisch (durch ihre Romane, Erzählungen und Theaterstücke) wie auch theoretisch (durch ihre Essays) aufgerufen und beantwortet. Das folgende Interview geht von dem Thema der Katastrophe bzw. des Ausnahmezustands aus, das häufig in Kathrin Rögglas Texten anzutreffen ist. Von ihren zahlreichen Veröffentlichungen sind neben den Essay-Bänden disaster awareness fair – zum katastrophischen in stadt, land und film (2006) und Gespensterarbeit, Krisenmanagement und Weltmarktfiktion (2009) vor allem ihr Buch zum 11. September 2001 really ground zero. 11. september und folgendes (2001) sowie ihr Roman wir schlafen nicht (2004) und natürlich das neue Buch die alarmbereiten (2010) Gegenstand des Gesprächs. Die Fragen und Antworten konzentrieren sich auf das Verhältnis von Ausnahmezustand und Literatur, auf die offenkundige Bedeutung von Katastrophenerzählungen für die Erklärung gesellschaftlicher Phänomene und auf Krisensubjekte in Kathrin Rögglas neuester Veröffentlichung. Vgl. zu Kathrin Röggla auch: http://www.kathrin-roeggla.de

2Karin Krauthausen: In deinen Publikationen der letzten Jahre nimmt das Katastrophische eine zentrale Rolle ein. Nun ist die wirkliche Katastrophe eigentlich ein Problem für das Erzählen, denn ihr Aktualitätsdruck lässt keine Beobachtungsdistanz, sie setzt gewissermaßen ein existentielles Präsens außerhalb jeder Ordnung. Zugleich ist sie stets ein Imperativ des Erzählens gewesen: Das Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755 war Anlass für Voltaires Candide ou l'optimisme. Worum geht es in Katastrophenerzählungen?

3Kathrin Röggla: Es geht um gesellschaftliche Fragen. Das ist auch noch in Kleists Das Erdbeben in Chili so, das sich ebenso auf das Erdbeben von Lissabon bezieht. In der Novelle treten die moralischen Fragen total ins Zentrum. Die beiden Liebenden, Donna Josephe und Jeronimo, werden zu Schuldigen erklärt. Das geschieht in der Szene nach dem Erdbeben, bei einer Dankmesse der Überlebenden. Katastrophenerzählungen sind immer auch Gesellschaftserzählungen, Problematisierungen von gesellschaftlichen Verhältnissen.

4Karin Krauthausen: Du warst am 11. September 2001 in New York, ein paar Blocks vom World Trade Center entfernt, als dort der Anschlag stattfand. An diesem Tag und in den folgenden Monaten hast du die Ereignisse in den USA beobachtet und hast von dem, was du gesehen und gehört hast, in die tageszeitung regelmäßig berichtet. Diese Reportagen hast du überarbeitet und sie kurz danach als Buch publiziert. Worum ging es dir in really ground zero?

5Kathrin Röggla: Der Anschlag war keine hereinbrechende Naturkatastrophe. Ein Tsunami ist etwas völlig anderes als zwei Flugzeuge, die in das World Trade Center fliegen. Da verwebt sich die Technikkatastrophe der einstürzenden Türme und die Katastrophe der Menschen mit einem politischen Terrorakt. Für mich war der Ausnahmezustand nach dem Anschlag das Interessanteste. In really ground zero kommen die Ereignisse am 11. September zwar vor, aber eigentlich schon in einer Post-Perspektive. In Wirklichkeit kann es ja auch nur eine Post-Perspektive geben, auch wenn in den meisten Medien ein Dabei-Sein behauptet wird. Jedenfalls wollte ich erzählen, wie die amerikanische Gesellschaft, das heißt also die Medien, die Politiker und die Zivilgesellschaft auf die Katastrophe reagieren, wie sie mit dem Ereignis umgehen, weil sich dann darüber in Ausschnitten auch die amerikanische Gesellschaft erzählen lässt. Es ging mir im Grunde darum, wie man diese Katastrophe wieder abarbeitet. Und das macht man über den Ausnahmezustand und über die Militarisierung der Stadt und über den Einsatz unterschiedlicher gesellschaftlicher Kräfte. Zu diesen Kräften gehören die Freiwilligen und die National Guard ebenso wie die kritischen Gegenstimmen und Aktivisten, also alles, was eine Gesellschaft so aufzubieten hat.

6Karin Krauthausen: Du thematisierst in dem Buch auch deine eigene Involviertheit. So schreibst du zu Beginn „jetzt also hab ich ein leben, ein wirkliches“, und zwei Absätze weiter: „später laufe ich meinem wirklichen leben schon etwas hinterher“. Deiner Rolle als Zeugin begegnest du mit kritischer Ironie, Authentizität ist ein „Effekt“, der aus der Nähe zu einem unfassbaren historischen Geschehen entsteht.

7Kathrin Röggla: Es ist merkwürdig, wie man durch das Medieninteresse, das so groß ist – alle Scheinwerfer sind sozusagen auf die Stadt New York gerichtet – plötzlich in diese Situation kommt, sich näher dran zu fühlen. Natürlich erfährt man die Auswirkungen des Geschehens auch an der eigenen Haut, aber dieses Gefühl der Nähe speist sich zu einem nicht unbeträchtlichen Teil aus einem medialen Rückkopplungseffekt. Also durch die Zuschreibung von außen. Man wird wichtig, weil man Zeuge geworden ist, was auch immer diese Zeugenschaft bedeutet. Es wurde später auch immer wieder mal konstruiert, dass mein Schreiben sich durch den 11. September fundamental geändert hätte. Das ist Unsinn. Ich habe schon vorher dokumentarische Strategien angewandt und war dabei, meinen Weg zu finden. Der 11. September war nicht die Stunde Null für mein Schreiben. Er hat vielleicht gewisse Strategien verschärft, eben zum Beispiel, dass ich Interviews verwende.

8Karin Krauthausen: Interviews zu führen ist ein eminent wichtiger Teil deiner literarischen Arbeit. Du stehst damit in einer Tradition der kritischen oder engagierten Literatur, wie sie Alexander Kluge und Hubert Fichte ausgeprägt haben. Für wir schlafen nicht, den Roman, den du vor deinem New-York-Aufenthalt begonnen hattest, hast du schon zahlreiche Interviews auf Messen mit Vertretern aus der Consulting-Branche geführt. Die Interviews sind das Material für deine Literatur, aber nicht allein als dokumentarische Vorstufe. Es gibt ein dialogisches Moment, das auch in deinen Romanen und Erzählungen präsent bleibt.

9Kathrin Röggla: Ein vermeintlicher Objektivismus, den man dem dokumentarischen Arbeiten immer unterstellt, wäre ein völlig falsches Konzept. Zum Beispiel der Gedanke: Da gibt es die objektive Wirklichkeit, und ich kann die eins zu eins abbilden. Ich recherchiere das und kann mich da raushalten. Nein, man steht immer in Beziehung dazu. Das betrifft ja alle Medien. Und das Bewusstsein hierfür zu verschärfen halte ich für eine ganz wichtige literarische Aufgabe. Dieses Verhältnis eben von Beobachter oder Person, die sich interessiert, und dem so genannten Gegenstand oder Gegenüber. Dieses Interesse muss in Frage gestellt werden.

10Karin Krauthausen: Deine Beziehung zu dem gehörten und erfragten Material bleibt im fertigen Buch sichtbar. Aber es dringt auch das Sprechen der einzelnen Interviewpartner in deine Literatur ein, als Idiomatik, Mündlichkeit und in Form von beruflichen Fachsprachen. Du lässt das alles als Wortmaterial zu, lässt dich von diesen Reden und Diskursen gleichsam infizieren, um sie dann aber über ästhetische Strategien zu konterkarieren und zu sortieren.

11Kathrin Röggla: Ja, und dabei soll der natürliche bzw. authentische Eindruck noch vorhanden bleiben, eine Art Hybrid entsteht zwischen sehr Künstlichem und Authentischem, ein kleines Textmonster.

12Karin Krauthausen: Der Effekt deines Vorgehens ist, dass die Spezialtermini, Redeweisen und Erzählungen, mit denen deine Interviewpartner ihr Weltverhältnis und ihre Erfahrungen zu fassen versuchen, brüchig, man könnte auch sagen, unheimlich werden. Etwas tritt in deiner Literatur zwischen die Figuren und ihre Rede. Der Rhythmus ist ja kein leerer Wiederholungs-Automatismus, sondern eine Strukturierung aus Klang und Zeit, die dem Sinn der jeweiligen Figurenrede eine eigene Ordnung entgegensetzt. Im Ergebnis ist das ein fundamental anderer Einsatz von Erzählen, als man ihn in den amerikanischen Medien nach dem 11. September beobachten konnte. Was in den ersten Tagen 24 Stunden lang gezeigt wurde, waren die immergleichen Szenen der Flugzeuge, wie sie in die Türme fliegen.

13Kathrin Röggla: Wie eine Beschwörung des Tatsächlichen. Interessanterweise wurde und wird immer noch geschrieben, es hätte so ein Schweigen geherrscht damals, als hätte es nur diese Bilderschlaufen gegeben und keinen Bildkommentar. In Wirklichkeit wurde die ganze Zeit geredet, es gab keine Stille, von Anfang an. Es haben sich so viele Theoretiker auf diese Bilder bezogen, aber niemand hat über das unendliche Geschwätz zu den Bilderschlaufen im Fernsehen geschrieben, über die Bildunterschriften sozusagen. Dazu gab es von Anfang an jede Menge Überlebensgeschichten, man könnte sagen, einen regelrechten Narrationsüberhang in den Medien, die plötzlich voll von Erzählungen Einzelner waren, wie sie entkommen seien. Das Spiegel-Buch zum Beispiel, all diese Hochglanzausgaben zum 11. September waren voll davon. Es gab auch diese vielen „Obituaries“ für die Toten, die Nachrufe in der New York Times, die alle kleine Lebenserzählungen waren. Und dann natürlich die Heldenerzählungen der Feuerwehrmänner.

14Karin Krauthausen: In zwei Essay-Veröffentlichungen von dir aus den Jahren 2006 und 2009, disaster awareness fair. zum katastrophischen in stadt, land und film und Gespensterarbeit, Krisenmanagement und Weltmarktfiktion, geht es in einem anderen Sinn um Katastrophe: nicht die eintretende Katastrophe, sondern die Katastrophe als omnipräsentes „Genre“, über das natürliche und gesellschaftliche Zusammenhänge „erklärt“ werden oder ihr Verlauf antizipiert wird. Du weist auf die Durchdringung der Wirklichkeit mit diesen Katastrophenerzählungen hin, indem du in disaster awareness fair fragst, wo denn das eigentliche Genre, die Fiktion, hingekommen ist: „ja, wo sind sie hin, die riesenameisen, die killertomaten, der tödliche staub...

15Katrin Röggla: ...die killer-hydra und die spezifischen intergalaktischen missionen“. Ja, wir sind in unserem Alltag umgeben von Katastrophengeschichten, auf unterschiedlichen Ebenen. In den Medien, in der Politik, diese Erzählform wird überall angewandt. Man kann sich ja fragen, wie man Wirklichkeit wahrnimmt, wie politische Verhältnisse erzählt werden, bzw. wie Gesellschaft erzählt wird? Das funktioniert heute eben über diesen Filter Katastrophenerzählung. Man könnte auch von einer „Katastrophengrammatik“ sprechen, die in unserer Gesellschaft entstanden ist, und die man eben auch lernen muss als Autor, weil die sogenannten eigenen literarischen Erzählungen damit konkurrieren bzw. als Reaktion auf diese gesellschaftliche Haupterzählung gesehen werden. Und so kann ein Familienroman z.B. als restaurativ oder als Fluchterzählung vor der ubiquitären Katastrophenerzählung gesehen werden. Sämtliche medialen Erzählungen nehmen diese Katastrophenform an, selbst die Wirtschaftserzählung, in der man ebenfalls die Analogie zu Naturkatastrophen finden kann. Das finde ich ziemlich frappant. Wirtschaftserzählungen sind ja per se etwas, das in neoliberalen Gesellschaften naturalisiert wird, also als eine Art Naturgesetz oder Naturgewalt dargestellt wird. Und heute eben als Naturkatastrophe. Ich finde, damit muss man umgehen. Wobei es nicht so einfach ist, da rauszukommen und wieder anders über die Welt zu sprechen.

16Karin Krauthausen: Du hast dich in deinem Roman wir schlafen nicht mit der Vorherrschaft eines Ökonomiedenkens auseinandergesetzt. In szenischer Verdichtung – das Geschehen findet auf einer Messe statt und entwickelt sich über wenige Stunden – lässt du Situationen aufeinander folgen, in denen die Figuren über sich sprechen. Was du in den Monologen ausstellst, ist die Rationalität eines „Homo oeconomicus“, wie ihn Michel Foucault in seinen Vorlesungen zur Gouvernementalität beschrieben hat, also jeder Mensch als ein „Unternehmer seiner selbst“.

17Kathrin Röggla: Das würde ich ergänzen. Ein bestimmtes Konzept von Ökonomie ist eng verbunden mit katastrophischen Abläufen. Nicht nur, wie Naomi Klein das 2007 in ihrem Buch The shock doctrine. The rise of disaster capitalism gezeigt hat, im Realen. Sie hat für mehrere historische Fälle, von Chile über Asien bis Russland, ausgeführt, inwieweit Krisen und Ausnahmezustände inszeniert oder instrumentalisiert worden sind, um neoliberale Wirtschaftssysteme durchzusetzen, die im Prinzip zu oligarischen Strukturen führten. Es gibt noch einen anderen Zusammenhang, denn auch in den Medien scheint es, wie gesagt, ein enges Nebeneinander von Ökonomieerzählungen und Katastrophenerzählungen zu geben.

18Karin Krauthausen: Es gibt aber auch innerhalb des ökonomischen Diskurses die Forderung, das Handeln und Denken der Unternehmen am Ausnahmezustand zu orientieren. Kathleen Sutcliff ist Professorin an einer amerikanischen Business School und hat in Managing the unexpected eine Unternehmensstrategie eingefordert, die mit dem plötzlich Hereinbrechenden rechnet. Du hast in Gespensterarbeit, Krisenmanagement und Weltmarktfiktion darauf Bezug genommen, dass sie die „high reliability teams“ aus Katastrophenfilmen und Katastrophenbekämpfung als Vorbild für die Unternehmer hinstellt.

19Kathrin Röggla: Es geht bei Sutcliff stark um Zeit- und Wahrnehmungsstrategien, die notwendig sind, um mit dem betriebswirtschaftlich Plötzlichen umzugehen und sich in orientierungslosen Situationen zurechtzufinden oder vielmehr schon vorher mit ihnen zu rechnen. Ich kenne solche Beschreibungen eigentlich nur von medizinischen Notfallteams, mein Bruder ist Notfallmediziner. Als einzelner Mensch eine solche extreme Wahrnehmung nicht aufrechtzuerhalten, dazu muss man im Team arbeiten. Es geht also darum, im Team eine Situation zu erreichen, in der diese Wachheit, diese Alarmiertheit ständig erhalten bleibt. Und das Interessante bei Sutcliff ist, dass es ihr weniger um Militärunternehmen geht, als um ganz normale Unternehmen wie Coca Cola oder irgendein Eisenbahnunternehmen. Für diese analysiert sie, dass eine Fusion schief ging, weil eben keine „high alertness“ eingesetzt wurde. Man hat „business as usual“ gemacht, statt sich in katastrophischer Wahrnehmung zu üben, in ständiger „Über-Wachheit“.

20Karin Krauthausen: Also der Ausnahmezustand als Normalzustand.Was bedeutet es, wenn Ausnahmezustand und Normalzustand sich so überlagern? Was bedeutet es für die Subjekte, ständig „überwach“ zu sein, das heißt permanent ein verhängnisvolles Geschehen zu antizipieren? Verändert sich die Wahrnehmung und wird sie von phantasmatischer Erwartung ununterscheidbar?

21Kathrin Röggla: Es ist wie eine ständige Drohung im Kopf. Diese ständige Drohung hat im Grunde schon Ulrich Beck 1986 beschrieben, in seinem Buch Risikogesellschaft. Und vor zwei Jahren hat er seine Beschreibung aktualisiert zu Weltrisikogesellschaft. Es scheint fast ein Witz, dass er das noch mal so drauf gesetzt hat. Jedenfalls geht es ihm schon in den 1980ern um das Einbauen von Risiken in das normale Leben und um die Unsicherheiten, die dadurch entstanden sind. Ein Beispiel dafür, dass wir alle kennen, ist, dass die Renten nicht mehr sicher sind, und man selber dafür vorsorgen muss. Es ist ja absurd, dass jemand wie Bismarck, der Ende des 19. Jahrhunderts die gesetzliche Krankenversicherung und dann die Altersversicherung eingeführt hat, um die Arbeiter zu befrieden, heute als Linker gelten würde. Überspitzt ausgedrückt: Der Staat versicherte, dass bestimmte Risiken von der ganzen Gesellschaft getragen werden, das waren zentrale gesellschaftliche Verabredungen. Das bröckelt jetzt alles und erzeugt Angst, Druck und eben ein anderes Zeitgefühl. Die Zeithorizonte sind viel kürzer, man lebt in einer flexiblen Welt, die ständig Neuorientierung verlangt. Richard Sennett hat diesen flexiblen Kapitalismus schon 1998 in The corrosion of character analysiert.

22Karin Krauthausen: Könnte man sagen, dass es hier nicht mehr nur um einen Homo oeconomicus geht, wie du ihn in wir schlafen nicht zum Protagonisten gemacht hast, sondern um ein Katastrophensubjekt oder Krisensubjekt? Und die Fragen, die sich anschließen, wären dann: Was ist ein Krisensubjekt? Welches Selbst- und Weltverhältnis hat es? Welche Handlungsoptionen und welche Sprechakte? Das hat dann viel mit deinem neuen Buch die alarmbereiten zu tun, das im März 2010 im S.Fischer Verlag erscheinen wird. Könnte man sagen, dass du in den sieben Episoden dieses Buches ein Krisensubjekt in verschiedenen Konstellationen durchdeklinierst?

23Kathrin Röggla: Es gibt in dem Buch eine Konstante, nämlich dieses Ich, das erzählt wird. Dieses Ich wird auf sehr unterschiedliche Weise angesprochen und entwickelt sich sozusagen, obwohl die Wirkung sehr brüchig ist. Das ist die rote Linie, wobei es mehrere rote Linien gibt. Insofern könnte man von einem Entwicklungsroman sprechen. Aber wenn man unter Roman versteht, dass es eine Handlung, also einen plot gibt, dem man folgen kann, und mehrere psychologische Figuren, dann würde ich das Buch nicht als Roman bezeichnen. Es ist aber auch kein Erzählband mit in sich abgeschlossenen Erzählungen. Mir geht es vor allem um das Angesprochenwerden, dieses Als-Ich-angerufen-Werden, deshalb war der Arbeitstitel für das Buch auch die ansprechbaren. Man konstituiert sich ja durch den Blick der anderen, durch die Ansprache der anderen, das ist die bekannte Theorie von Louis Althusser zur Anrufung, „Interpellation“, die von Judith Butler und Slavoj Zizek wiederaufgenommen wurde. In meinem Text wird das Ich nicht unbedingt positiv angesprochen. Oft ist es eine eher negative Anrufung; das Ich wird dämonisiert, ignoriert, verurteilt, totgeschwiegen. Und das Ganze findet immer in unterschiedlichen medialen Settings statt: Sitzung, Telefongespräch, Unterrichtsstunde, Elternabend, Brief. Die Anrufung wird im Grunde auch manchmal bagatellisiert, wie in dem zweiten Kapitel „die ansprechbare“.

24Karin Krauthausen: Das Kapitel „die ansprechbare“ist für mich das stärkste Kapitel in deinem Buch. Formal ist es ein Telefongespräch, also eine explizit mediale Sprechsituation. Erzählt wird sie aber in einer artifiziellen konjunktivischen erlebten Rede, wie sie für dein literarisches Schreiben typisch ist. Das Ich spricht, aber nie in der direkten Rede. Stattdessen berichtet die Gesprächspartnerin, was in diesem Dialog vom Ich gesagt wird, aber auch ihre Rede ist nicht in der direkten Rede wiedergegeben, sondern als erlebte Rede. Allenfalls könnte man von einem inneren Monolog der Gesprächspartnerin sprechen, in den die Aussagen des Ich im Konjunktiv eingelagert sind. In „die ansprechbare“ wird der freundschaftliche und daher eher intime Dialog zunehmend überlagert von einer aggressiven Spannung. Die Gesprächspartnerin wirft dem Ich eine hysterische Angst vor möglichen Klimakatastrophen vor. Über die Vorwürfe der Freundin, also in ihren Rekapitulationen, wird die Rede des Ich und ihre Antizipation drohender Katastrophen zum eigentlichen Gegenstand des Kapitels. Das Ich ist in diesem Kapitel ganz offenkundig nur eine Rückkopplung, es existiert nur als Angesprochenes. Was die Entwicklung des Kapitels antreibt, ist nicht ein Handeln der Figuren, sondern eskalierende Emotionen wie Angst und Hysterie. Kannst du etwas dazu sagen, warum du diese sehr artifizielle literarische Form wählst? Warum kein dramatisches Katastrophenszenario?

25Kathrin Röggla: Weil es sofort Genre wäre, explizites Katastrophen-Genre, und da ist der Leser sofort in der sicheren Position. Wir wissen, wie das Katastrophengenre funktioniert, dass es auf einer Wiederholungsstruktur basiert und dass bei diesem Genre immer jemand überlebt. Es müssen auch sofort Helden dabei sein. Es ist meist reaktionär. Und du hast dann nicht das Gefühl, dass es dich treffen könnte, bzw. geht es im Genre darum, dich von deinen gesellschaftlichen Ängsten auf etwas prekäre Weise zu entlasten, also ohne die dahinterstehenden Problematiken auch nur ansatzweise zu lösen. Und ich glaube, dass man die Wirklichkeitsmacht der uns umgebenden Katastrophenerzählungen, also dieser Art von Fiktivem, nicht in einer Schauerfiktion zeigen kann. Man muss andere Strategien suchen. In einem klassischen Katastrophenerzählsetting lehnt sich der Leser zurück und freut sich auf die Riesenameisen.

26Karin Krauthausen: Du willst in deiner Literatur die Illusion eines beherrschbaren Katastrophengenres vermeiden und entwirfst stattdessen eine Sprechsituation, in der ein Alltagszustand und ein Ausnahmezustand auf beunruhigende Weise ineinander übergehen?

27Kathrin Röggla: Genau.

28Karin Krauthausen: Und in der die lebensnotwendige Antizipation, die in Ausnahmezuständen das Überleben sichert, nicht mehr greift?

29Kathrin Röggla: Sie greift nicht mehr, weil wir dermaßen von Antizipation umgeben sind, also genauer gesagt von Szenarien. Es werden permanent Szenarien erstellt, ob im Zusammenhang mit der derzeitigen Finanzkrise oder mit dem Klimawandel. Der Begriff ist ubiquitär geworden, selbst im Gespräch mit einem normalen Bankangestellten hat man andauernd Szenarien, die einen letztlich verwirren und zu risikofreudigen Optionen drängen. Und am Ende ist man pleite. In dem Szenario steckt weniger Aufklärung drin, als in der Risikotheorie von Beck und Luhmann behauptet wird, die ja den Umgang mit dem Risiko an das Erstellen von Szenarien binden. Vor lauter Szenarien sieht man sozusagen den Katastrophenwald nicht, um ein Sprichwort umzumodeln.

30Karin Krauthausen: Das Ich – und auch sein Gegenüber, die Freundin am Telefon – verkörpern einen Zustand der permanenten Alarmiertheit, die intime Spannung zwischen den beiden, also die Vorwürfe, und die Aufgeregtheit des Ausnahmezustands überlagern sich. Obwohl es eine Eskalation hin zur Hysterie gibt, diskreditierst du die Emotionen und Vorstellungen des Ich nicht, also die Angst und die Antizipation. Sie wird im Gespräch als „kassandra“ angesprochen, und das bedeutet, dass die Option auf Wahrheit, auf eine wahre Aussage bzw. auf Wirklichkeit nicht vom Tisch ist.

31Kathrin Röggla: Ja, und ich setze am Ende des Kapitels bewusst das Reale, mit dem Tod der Freundin. Zum einen sagt ja Kassandra die Wahrheit, nur glaubt ihr keiner, zum anderen kann das Reale auch gar nicht vom Tisch sein. Wir leben ein tatsächliches Leben, die Gefahren sind ja nicht alle bloße Phantasmen. Man kann natürlich immer behaupten, dass das alles nur innere Bilder sind. So wie in Platons Höhlengleichnis. Aber auch da sitzt man in der Höhle drin und stirbt irgendwann. Auch in der Höhle gibt es gesellschaftliche Beziehungen, und damit muss man umgehen.

32Karin Krauthausen: Der Einstieg in die alarmbereiten ist das Kapitel „die zuseher“. Es geht um Zuschauer einer Katastrophe. Und in deiner Beschreibung, das heißt: in den Reden der Zuschauer, die du in dieser konjunktivischen erlebten Rede protokollierst, wird deutlich, dass deren Beobachten zwischen einem privaten und einem habituellen oder sogar professionellen Blick oszilliert. Der Blick der Zuschauer ist trainiert, sie erwarten schon bestimmte Dinge, die passieren werden, sie erwarten eine bestimmte Dramaturgie, etwa dass jetzt das Rettungsteam kommt.

33Kathrin Röggla: Die Idee war im Grunde, dass es eine Art Workshop ist, in dem ein Blick eingeübt wird. Wie ein Katastrophentourismus, mit einer Gruppe, zum Beispiel von Architekten, die ein Interesse daran haben, die mit einer Art Aufbaubusiness zu tun haben und zu den Katastrophenorten fahren, oder Personen, die den Umgang mit Katastrophen für ihre normale Arbeit brauchen, wie in Kathleen Sutcliffs Buch vorgeschlagen wird, in dem ja gefordert wird, dass Unternehmen mit dem Ausnahmezustand rechnen müssen – auf das Kapitel übertragen hieße das: Man probt für das Unternehmen. Aber ich habe das dann nicht auf Wirtschaftsvorgänge adaptiert, sondern in dieser Beobachtungssituation belassen. Nur die Protokollzeilen der „Sitzungen“ verweisen auf Vorgänge in Unternehmen. Es ist nicht wichtig, ob das Manager sind oder Architekten oder Sozialhilfeempfänger. Es sind Beobachter, die glauben, sie wären immer draußen, könnten immer zuschauen. Und dabei sind sie drin, am Schluss sind sie Teil der Szenerie. Die Katastrophenerwartungen der Zuschauer werden ständig enttäuscht, gerade weil die Katastrophe eintritt, nur eben nicht in jener filmischen Genreerzählform, die sie gewohnt sind. Die Zuschauer sind nicht mehr fähig, jenseits des filmischen Rasters auf die Katastrophe zu reagieren, ganz wie die Leute am Strand bei dem Tsunami 2004, die nicht mehr kapiert haben, dass sie weglaufen mussten. Sie standen da und „glotzten“, weil die Welle nicht hoch genug war und weil sie sich als Zuschauer fühlten.

34Karin Krauthausen: Die Zuschauer des ersten Kapitels sind trainiert darin, Katastrophen zu betrachten. Das alarmbereite Ich des zweiten Kapitels ist geschult in Klima- und Umweltdiskursen und möglichen Katastrophenszenarien. Mir scheint, in fast allen Kapiteln wird den Subjekten, vor allem dem Ich, ein regelrechtes Expertenwissen abverlangt.

35Kathrin Röggla: Das ist ein wichtiges Thema, dieses sekundäre Expertentum. Wir werden alle zu Experten. Einerseits gibt es die Figur der Medienexperten, bei denen meist gar nicht klar ist, was die eigentlich für einen Hintergrund haben und warum sie Experten sein sollen. Aber wenn man verfolgt, was in den Blogs diskutiert wird, dann finden sich dort jede Menge Experten. Natascha Kampusch, diese junge Frau, die als Kind entführt worden war und sich nach jahrelanger Gefangenschaft befreien konnte, ist ein Beispiel hierfür. Es ist unglaublich, was in den Blogs an sekundärem Expertentum zu diesem Thema ausgebrochen ist, all die selbsternannten Psychologen und besten Freunde und Nachbarn. Ich habe so ein imaginäres Expertentum in dem Kapitel „die wilde jagd“ aufgegriffen, also diese Gewohnheit, über Medien bei etwas zuzuschauen und darüber zu sprechen. Der Experte ist eine Identifikationsfigur, in die wir uns anscheinend gerne hineinbegeben, weil sie Sicherheit und Distanz verspricht. Man hat mehr Überblick, wenn man Experte ist. Ja, das Thema des sekundären Expertentums hat mich sehr beschäftigt. In dem Kapitel „die erwachsenen“ zum Beispiel. Das Setting ist ein Elternabend, auf dem eine Mutter für das Verhalten ihrer Tochter zur Rede gestellt wird. Die Tochter maße sich in Bezug auf das Thema Krankheit und Pandemie ein Expertentum an, das ihr nicht zugetraut wird, bzw. das sie nicht ausüben darf. Sie spiegelt aber im Grunde nur das ständige Expertentum der Eltern und Lehrer wider, die nicht mehr anders denn als Experten für ihre Kinder auftreten.

36Karin Krauthausen: Stärker noch scheint mir das Expertentum in dem dritten Kapitel, „übersetzer“, ausgeführt. Es nimmt die eigenartige Situation auf, in der wir uns alle gerade aufgrund der Finanzkrise befinden, dass wir plötzlich zu Experten für Wirtschaft werden müssen und täglich in den Medien Nachhilfeunterricht bekommen. Wir werden mit einem Vokabular überschüttet, das uns fremd ist. Wir sitzen plötzlich mit Wirtschaftsspezialisten und Börsenspezialisten in einem Boot, aber wir sitzen natürlich nicht wirklich in einem Boot.

37Kathrin Röggla: Das ist eine seltsame Volksaufklärung, die aber nirgendwo hinläuft. Wir werden mit diesen Begriffen beschossen, aber wir sprechen die Sprache dazu nicht. Nicht, weil wir zu dumm sind, sondern weil wir sie gar nicht gebrauchen können. Wir werden Experten, aber wir können es gar nicht anwenden, dieses Expertentum. Das ist das Entscheidende an diesem sekundären Expertentum: Diese sekundären Experten haben keine Funktion in der Gesellschaft. Wir sind eben nicht alle Entscheider. Die Aufklärungen und Nachhilfestunden adressieren sich auch gar nicht an die Entscheider, sondern an Leute, die eigentlich gar nichts mit den Entscheidungen zu tun haben, die aber von den Auswirkungen extrem betroffen sind.

38Das ist auch eine Kritik, die ich an den Medien habe, dass Zusammenhänge nicht genügend deutlich gemacht werden. Es werden einzelne Vokabeln fast grundschulartig mit Skizzen und Grafiken erklärt, und diese werden derart zusammenhangslos stehen gelassen, dass sie allenfalls Mikrozusammenhänge zeigen. Da bricht plötzlich so eine Sprache über uns herein, aber sie wird technokratisch angeboten und so zerbrochen, dass die Begriffe eigentlich nur wie verrückte Instrumente von gierigen Managern wirken. Da ist die Rede von „Collateralized Debt Obligations“ und von „Short Sale“ oder „Leerverkäufen“, und dann wird ganz genau erzählt, wie Leerverkäufe funktionieren. Aber was das Ganze eigentlich mit uns zu tun hat, wird eben nicht erzählt. Und meine Aufgabe ist jetzt auch nicht, alles zu verstehen und zu erklären. Meine Aufgabe ist es zu hören, in welcher Form uns das entgegentritt und welche Reaktionen es erzeugt. Also, beispielsweise, dass es wie eine Vokabelstunde ohne Sinn und Verstand ist, wie absurdes Theater.

39Karin Krauthausen: Du reflektierst in die alarmbereiten nicht nur die Position der Krisensubjekte, die wir alle geworden sind, sondern du thematisierst auch deine Autorenposition. Es gibt das Kapitel „recherchegespenst“, das formal ein Brief ist. Ein Bruder schreibt an seine Schwester, das Ich, und beklagt sich über ihre endlosen Interviewrecherchen. Die Recherchen betreffen NGO-Mitarbeiter, die aus Krisengebieten zurückkommen und mit diesem Zurückkommen große Schwierigkeiten haben. Die Fragen des Kapitels sind zum einen: Wie kehrt man in die Normalität zurück? Und zum anderen: Wie kommt man aus den gehörten Geschichten zurück? Dieses Zurückkommen gilt in übertragener Form natürlich auch für dich.

40Kathrin Röggla: Auf eine Weise ist der Text am nächsten an meiner Lebenswirklichkeit. Auch dieses Nicht-mehr-Zurückkommen. Man kommt auch nach einem Gespräch nicht mehr genau an demselben Punkt an, von dem man losgegangen ist. Ich möchte den Gesprächsbegriff nicht zu euphorisch aufladen, aber letztendlich stimmt es schon, wenigstens um drei Millimeter hat man sich schon nach einem Gespräch von seiner alten Position wegbewegt. Auf das Thema NGO-Arbeit war es extrem schwierig, literarisch zu antworten. Ich wollte auf die Tatsache reagieren, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil unserer westlichen Ingenieure, Wissenschaftler, Architekten Teil dieser immensen internationalen Hilfsindustrie geworden ist. Und so habe ich mit zahlreichen Menschen, die als Katastrophenarbeiter unterwegs sind, gesprochen. Man kann aber in der Literatur nicht von einer Position aus den gesamten Kontext ordnen, man verliert sich auch in all diesen Geschichten und Erzählungen. Sie überwuchern einen. Und wenn man flüchtet, wird es nur schlimmer, das Recherchematerial kann einen verfolgen. Ich habe dann an diesem sehr merkwürdigen Gefühl angesetzt, das mich am Ende meiner Recherche in Usbekistan erreicht hat. Als ich mich in dieser Diktatur befand, mit diesen ganzen Gesprächen im Ohr, wurde mir die Ortlosigkeit meiner eigenen Position an so einem Ort bewusst. Es waren Gespräche, die ich vorher mit NGO-Mitarbeitern geführt hatte, die von der UN oder der EU bezahlt werden. Also, wenn ich in Berlin am Kaffeetisch mit diesen Leuten über ihre Arbeit in Usbekistan rede, das geht. Aber dorthin zu fahren und zu merken, dass man dort im Grunde zu einer Regierungskaste gehört, die in dieser Diktatur unterwegs sein kann, das ist ein Problem. Denn man wird Teil eines Kolonialismus, obwohl man in so einer Diktatur eigentlich auch bedroht ist. Das war meine Erfahrung, die mich nicht losgelassen hat, die auch einen Ekel zurückgelassen hat, den ich in dieses Kapitel einbringen wollte.

41Karin Krauthausen: Du beginnst die alarmbereiten mit dem Kapitel „die zuseher“, das heißt mit einer Übung im Anschauen von Katastrophen, und du leitest das Buch im letzten Kapitel, „deutschlandfunk“, aus mit einer Radiosendung, genauer gesagt mit Beschwichtigungsformeln, Nachrufen und einem Verkehrsbericht.

42Kathrin Röggla: „deutschlandfunk“ ist wirklich dem Deutschlandfunk gewidmet. Da gibt es immer von 10 Uhr bis 11.30 Uhr eine Diskussionsrunde, an die musste ich denken. Jeder Tag hat da so ein Thema: Wie ist die Situation auf unseren Autobahnen? Oder: Wie gehen wir mit der Donauüberschwemmung um? U.s.w. Das sind immer so Bürgerthemen, die ins Politische hineinreichen, und man könnte sich da auch so einen Katastrophentag vorstellen.

43Karin Krauthausen: In deinem Buch ist es eine Sprechstunde mit Moderator und zugeschalteten Zuhörern, ausnahmsweise nicht im Konjunktiv, sondern in direkter Rede. In wenigen Worten wird Trost ausgesprochen und vielleicht Mitleid, eine Art von Beteiligtsein.

44Kathrin Röggla: Eher die Abwehr von Beteiligung. Es ist ein Beteiligtsein-Müssen, ein radiophoner Verwaltungsakt der Katastrophe. Man muss beruhigend wirken, die Sache abhandeln.

45In diesem Kapitel kommt dennoch etwas stark Irreales rein, weil das Ich hier verschwindet, die Stimmen aus dem Radio sind ja nicht über das Ich wiedergegeben. Man könnte sich vorstellen, jemand liegt tot im Zimmer und das Radio läuft. Die Stimmen sind vielleicht das Letzte, was es noch hört. Man sitzt also im Kopf dieses toten oder sterbenden Ich, und die Welt ist untergegangen, und man hört noch diese Stimmen.

46Karin Krauthausen: Die Stimmen werden übertragen, aber es gibt niemanden mehr, der angesprochen wird?

47Kathrin Röggla: Genau.

48Karin Krauthausen: Und vor diesem letzten Kapitel folgt der Leser dem brüchigen Ich durch verschiedene Konstellationen des Angesprochenwerdens? Er verfolgt anhand des Ich gewissermaßen die Ausdifferenzierung der Krisensubjekte? Krisensubjekte mit trainiertem Blick und permanenter Bereitschaft zur Alarmiertheit? Oszillierend zwischen Phantasma und Wirklichkeit, zwischen Hysterie und Beschwichtigung? Mit Spezialwissen und der Fähigkeit zur Rationalisierung, aber zugleich ohnmächtig?

49Kathrin Röggla: Könnte man so sagen. Experten ohne Auftrag.

50Karin Krauthausen: Experten ohne Auftrag.

51Kathrin Röggla: Und zugleich ohne Interventionsmöglichkeit.

52Karin Krauthausen: Und am Ende tot.

53Kathrin Röggla: So ist es.

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Pour citer cet article

Référence électronique

Karin Krauthausen et Kathrin Röggla, « Experten ohne Auftrag. »Trajectoires [En ligne], 3 | 2009, mis en ligne le 16 décembre 2009, consulté le 13 novembre 2024. URL : http://0-journals-openedition-org.catalogue.libraries.london.ac.uk/trajectoires/337 ; DOI : https://0-doi-org.catalogue.libraries.london.ac.uk/10.4000/trajectoires.337

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Auteurs

Karin Krauthausen

Dr. des Karin Krauthausen, Postdoc-Stipendiatin in der interinstitutionellen Forschungsinitiative Wissen im Entwurf. Zeichnen und Schreiben als Verfahren der Forschung am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. krauthausen@mpiwg-berlin.mpg.de

Kathrin Röggla

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