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HauptseiteBänder23-1Einführung

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  • 1 Siehe Kapitel 6 des vorliegenden Jahrbuchs, Punkt 6.2., Welthandelsorganisation (WTO).

1Im Bereich der Nord-Süd-Beziehungen ist das markante Ereignis des Jahres 2003 zweifellos das Scheitern der 5. Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO), der so genannten „Konferenz von Cancún“1. In der Tat ist es lange her, dass die Trennlinie zwischen dem Norden und dem Süden in einer internationalen Verhandlung so klar zutage getreten war. Wie ist das Ereignis zu interpretieren ? Handelt es sich dabei um ein dauerhaftes Wiederaufleben der „Gruppe der 77“, die in den 60er und 70er Jahren gegenüber den Industrieländern eine relativ einheitliche Front gebildet hatte, um eine „Neue Weltwirtschaftsordnung“ zu fordern ? Oder handelt es sich im Gegenteil nur um einen Zwischenfall, der die allgemeine Tendenz einer zunehmenden Heterogenität der Entwicklungsländer nicht in Frage stellt ?

2Auf diese Fragen gibt es keine einfache Antwort. Einerseits ist unbestreitbar, dass die so genannte „Gruppe der 21“ Entwicklungsländer, – die sich um die politischen und wirtschaftlichen Grossmächte des Südens, namentlich Brasilien, China und Indien gebildet hat –, die Gesamtheit der Entwicklungsländer in eine Kraftprobe mit dem Norden hineingezogen hat, welche in den Annalen der internationalen Wirtschaftsverhandlungen ihresgleichen sucht. Man erinnert sich daran, dass die Uruguay-Runde von 1995 die erste Runde multilateraler Handelsverhandlungen war, in der die Entwicklungsländer als vollberechtigte Teilnehmer zugelassen wurden. Folglich könnte es sein, dass Cancún für die Länder des Nordens das Ende ihrer Macht bedeutet, den Ländern des Südens ihre Tagesordnung widerstandslos aufzwingen zu können, und dass sich die internationalen Handelsverhandlungen fortan nicht mehr vornehmlich unter den Vereinigten Staaten, der Europäischen Union und Japan abspielen werden.

3Andererseits ist die Hauptforderung der „Gruppe der 21“ sehr verschieden von dem, was die Länder des Südens in den 70er Jahren forderten. Sie verlangten damals eine Änderung der Regeln der internationalen Wirtschaftsbeziehungen, um die strukturellen Unterschiede zwischen armen und reichen Ländern besser zu berücksichtigen. In Cancún ging es für diese Länder darum, eine grössere Öffnung der Märkte des Nordens für die Agrarprodukte des Südens zu erlangen, als Gegenleistung für die Annahme neuer Regeln, die dazu dienen sollten, die Liberalisierung des Handels und der Märkte – zum Beispiel in den Bereichen internationale Investitionen, öffentliches Beschaffungswesen und Vereinfachung der Zollformalitäten – zu vertiefen. Ihre Verhandlungsposition richtete sich in keiner Weise gegen die auf dem Wirtschaftsliberalismus gegründete Weltwirtschaftsordnung.

4Eine erste Schlussfolgerung, die man aus diesem Ereignis ziehen kann, ist demnach, dass die Nord-Süd-Konfrontation in Cancún nicht nach der Trennlinie zwischen Befürwortern und Gegnern der Globalisierung erfolgte. Die einflussreichsten Länder des Südens akzeptieren die Globalisierung, jedoch wollen sie als vollwertige Teilnehmer an den internationalen Verhandlungen angesehen werden und weiterhin frei über Tempo und Modalitäten ihrer Integration in die Weltwirtschaft entscheiden. Die Industrieländer des Nordens sind mit dem Beispiel vorangegangen, indem sie bei Strukturanpassungen in sensiblen Bereichen ihrer Volkswirtschaft, wie Landwirtschaft und Textilien, ein sehr langsames Tempo vorgaben.

5Zweitens zeigt die Erfahrung von Cancún, dass die Verhandlungsmacht der Entwicklungsländer entsprechend ihrer wachsenden Beteiligung am Welthandel langsam, aber sicher zunimmt. Paradoxerweise bestätigt diese Erfahrung, – welche weitgehend als Fehlschlag der WTO beurteilt wird –, im Gegenteil die Bedeutung dieser Organisation als Weltforum zur Regulierung des internationalen Handels. Die Episode von Cancún signalisiert lediglich die zunehmende Beteiligung der Entwicklungsländer an der Weltwirtschaft, ein Ziel, das von den marktwirtschaftlichen Industrieländern seit der Konferenz von Bretton Woods im Jahr 1944 verfolgt wird.

  • 2 World Bank, Global Economic Prospects and the Developing Countries, Washington, 2001.

6Die Erfahrung von Cancún ruft die Inkohärenz der Politiken der Industrieländer in Erinnerung, welche die Länder des Südens dazu ermuntern, ihre Volkswirtschaften zu liberalisieren, während sie selber in anfälligen Sektoren ihrer Wirtschaft protektionistische Praktiken verfolgen. Dieser Protektionismus macht gemäss der Weltbank2 über 100 Milliarden Dollar pro Jahr an Verdienstausfällen für die Volkswirtschaften der Entwicklungsländer – das heisst etwa zweimal das Jahresvolumen der öffentlichen Entwicklungshilfe – aus. In einer Zeit, in welcher der Zustand der öffentlichen Finanzen in den Industriestaaten kein Wachstum der Entwicklungshilfeflüsse erkennen lässt, ist es weiterhin wichtig, die Auswirkungen aller öffentlichen Politiken auf die Entwicklungsländer – einschliesslich natürlich der Handelspolitik – zu berücksichtigen.

  • 3 Center for Global Development, „Ranking the Rich“, Foreign Policy, May/June 2002, S. 56-66.
  • 4 Die Schweiz wird gut eingestuft betreffend ihre Migrationspolitik, (welche nach der jährlichen Anza (...)

72003 haben ein Forschungsinstitut der USA und die Zeitschrift Foreign Policy erstmals einen Indikator der Politikkohärenz veröffentlicht, welcher Commitment to Development Index genannt wird3. Dieser Indikator nimmt eine Einstufung der Mitgliedsländer des DAC nach den Auswirkungen ihrer Politik auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Entwicklungsländer vor. Dabei wird die in den Bereichen Hilfe, Handel, internationale Investitionen, Migration, Umwelt und Friedenserhaltung praktizierte Politik berücksichtigt. Die Niederlande stehen an der Spitze der Einstufung ; die Länder der G-7 – das heisst jene Staaten, deren Gewicht in der Weltwirtschaft am grössten ist – sind mit Ausnahme Deutschlands eher in der zweiten Hälfte der Liste aufgeführt. Die Schweiz rangiert auf dem fünften Platz4.

8Der allgemeine Ansatz dieses Indikators ist viel versprechend, da er die Bewertung des Beitrags eines Industrielandes zur Entwicklung der armen Länder nicht auf den alleinigen Parameter der öffentlichen Entwicklungshilfe beschränkt. Der Ansatz umfasst Dimensionen, die – wie der Handel – eine beträchtliche Auswirkung auf die Situation der Entwicklungsländer haben, oder ­ – wie die Umwelt – die langfristige Zukunft des gesamten Planeten tangieren. Im Umweltbereich beruht die Evaluation der Politik der Länder des Nordens insbesondere auf der Emission von Treibhausgasen und ozonabbauenden Substanzen pro Einwohner. Somit werden die Bemühungen der Industrieländer, die Auswirkungen der menschlichen Aktivitäten auf die Umwelt zu reduzieren – und folglich ihre Entwicklungsweise zu ändern – explizit bei der Evaluierung der Nord-Süd-Politiken mitberücksichtigt.

  • 5 Bundesrat, Botschaft über die Weiterführung der technischen Zusammenarbeit und der Finanzhilfe zu G (...)
  • 6 Bericht des Bundesrates über die Nord-Süd-Beziehungen de Schweiz in den 90er Jahren, Leitbild Nord- (...)

9Hierzu ist zu vermerken, dass der Bundesrat ausdrücklich den gleichen Zusammenhang herstellt, indem er die folgende Frage aufwirft : „Welche Produktions- und Konsumgewohnheiten in der Schweiz sind angesichts der fortschreitenden Zerstörung der globalen natürlichen Lebensgrundlagen vertretbar ?“5 Zehn Jahre nach der Veröffentlichung des Leitbilds Nord-Süd6, das klar den Willen verkündete, die Kohärenz der öffentlichen Politiken der Schweiz gegenüber den Entwicklungsländern zu verbessern, ist es zu begrüssen, dass die Schweizer Regierung ihre Überzeugung wie folgt bekräftigt : „Kohärente Politik ist eine zentrale Voraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung geworden“. Die wirkliche Herausforderung besteht nun darin, zu erreichen, dass dieses Anliegen auf die politische Agenda der Industrieländer gesetzt wird.


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10Mein herzlicher Dank geht an die Autorinnen und Autoren der im vorliegenden Band Schweizerisches Jahrbuch für Entwicklungspolitik veröffentlichten Texte. Wie in jedem Jahr konnten wir bei der Vorbereitung dieser Publikation auf die Unterstützung und die Ratschläge zahlreicher Spezialisten von Bundesverwaltung, NRO, Dachorganisationen und Akademikerkreisen zählen. Ich drücke auch all jenen meinen besten Dank aus, die zur Gestaltung und Ausführung des neuen Jahrbuchs beigetragen haben. Auf ihrer Kompetenz und ihrem Engagement beruht die Zuverlässigkeit dieses Nachschlagewerks.

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Anmerkungen

1 Siehe Kapitel 6 des vorliegenden Jahrbuchs, Punkt 6.2., Welthandelsorganisation (WTO).

2 World Bank, Global Economic Prospects and the Developing Countries, Washington, 2001.

3 Center for Global Development, „Ranking the Rich“, Foreign Policy, May/June 2002, S. 56-66.

4 Die Schweiz wird gut eingestuft betreffend ihre Migrationspolitik, (welche nach der jährlichen Anzahl legaler Einwanderer im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung bewertet wird), wie auch bezüglich ihrer Umweltpolitik. Hingegen wird sie hinsichtlich ihrer Beteiligung an friedenserhaltenden Operationen schlecht eingestuft.

5 Bundesrat, Botschaft über die Weiterführung der technischen Zusammenarbeit und der Finanzhilfe zu Gunsten von Entwicklungsländern, vom 28. Mai 2003 (BBl 2003 4625), S. 4661.

6 Bericht des Bundesrates über die Nord-Süd-Beziehungen de Schweiz in den 90er Jahren, Leitbild Nord-Süd vom 7. März 1994, DEH, Bern, 1994, 28 S., http://www.deza.admin.ch/ressources/deza_product_ d_21.pdf.a

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Zitierempfehlung

Papierversionen:

Jacques Forster, „Einführung“Schweizerisches Jahrbuch für Entwicklungspolitik, 23-1 | 2004, XIII-XV.

Online-Version

Jacques Forster, „Einführung“Schweizerisches Jahrbuch für Entwicklungspolitik [Online], 23-1 | 2004, Online erschienen am: 22 April 2010, abgerufen am 12 Februar 2025. URL: http://0-journals-openedition-org.catalogue.libraries.london.ac.uk/sjep/207; DOI: https://0-doi-org.catalogue.libraries.london.ac.uk/10.4000/sjep.207

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Autor

Jacques Forster

Professor am iuéd, Redaktionsleiter

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