Eine neue Suchrichtung für die Entwicklungszusammenarbeit
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Einleitung
1„Entwicklung” ist ein normativer, sich verändernder Begriff, der vieles mitschwingen lässt, was vor allem zeitlich und kulturell bedingt ist. Das Wünschbare prägt ihn oft stärker als das empirisch Belegbare. In den fünfziger undsechziger Jahren wurde Entwicklung weitgehend mit wirtschaftlichem Wachstum gleichgesetzt. Später kam die Forderung nach sozialem Wandel, d.h. nach Veränderung von Werten, Verhaltensweisen und Machtstrukturen hinzu. Ausgehend von den historischen Erfahrungen Lateinamerikas wurden sodann weltwirtschaftliche Abhängigkeiten als wichtige Ursachen von Unterentwicklung erkannt. Seit den siebziger Jahren werden die kulturelle Eigenständigkeit und die Befriedigung der menschlichen Grundbedürfnisse als weitere Schlüsselelemente hervorgehoben. Die jüngsten Postulate richten sich auf Umweltverträglichkeit und Nachhaltigkeit (sustainability) der Entwicklung.
- 1 Bundesgesetz über die internationale Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe vom 19. März 1 (...)
2Wer sich heute ernsthaft mit Entwicklung und Unterentwicklung beschäftigen will, kommt also nicht darum herum, sich eine nuancierte Vorstellung vom Gegenstand seines Interesses zu machen. Der Zielartikel des schweizerischen Entwicklungshilfe-Gesetzes1 deutet dies in wenigen Sätzen an :
1) Die Entwicklungszusammenarbeit unterstützt die Entwicklungsländer im Bestreben, die Lebensbedingungen ihrer Bevölkerung zu verbessern. Sie soll dazu beitragen, dass diese Länder ihre Entwicklung aus eigener Kraft vorantreiben. Langfristig erstrebt sie besser ausgewogene Verhältnisse In der Völkergemeinschaft.
2) Sie unterstützt in erster Linie die ärmeren Entwicklungsländer, Regionen und Bevölkerungsgruppen. …
3Die konkreten Lebensbedingungen der Bevölkerung, die eigene Kraft der Entwicklungsländer und der notwendige Ausgleich in den internationalen Macht- und Austauschverhältnissen werden hier im selben Atemzug angesprochen. Der zweite Absatz misst sodann dem Kampf gegen die Armut ein besonderes Gewicht zu.
- 2 DEH – Direktion für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe im Eidgenössischen Departemen (...)
4Persönlich halte ich diesen Gesetzestext für eine gute Grundlage staatlicher Entwicklungszusammenarbeit. Sie hat uns bei der DEH2 in den vergangenen Jahren den nötigen Spielraum dafür gegeben, gemeinsam mit Partnerinstitutionen in der Dritten Welt Entwicklungsprojekte zu formulieren, die manchen Aspekten einer komplexen Wirklichkeit Rechnung tragen. Kleinere und grössere Erfolge dieser Bemühungen sind denn auch nicht ausgeblieben.
5Trotzdem zweifle ich je länger desto mehr daran, ob unsere heutige Art, Unterentwicklung und Entwicklung zu verstehen, der lebendigen Wirklichkeit gerecht zu werden vermag. Zu viele unserer gutgemeinten Anstrengungen haben fehlgeschlagen ; zuviele Mittel sind wirkungslos versickert, als dass wir die hinter der Entwicklungszusammenarbeit wirkenden Sichtweisen und Planungskonzepte als angemessen betrachten dürften. Insgesamt müssen wir anerkennen, dass Armut, Umweltzerstörung und wirtschaftliche Ungleichgewichte in Entwicklungs- und Industrieländern heute verheerender sind als vor zwei oder drei Jahrzehnten. Ich vermute deshalb, dass das zur Zeit vorherrschende Paradigma von Entwicklung und Unterentwicklung der Realität nicht in genügend subtiler Weise entspricht und uns somit immer wieder in Sackgassen führt.
- 3 Thomas S. Kuhn : Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a.M. 1973.
6Unter einem „Paradigma” verstehe ich jenen Begriff, der durch die Publikation von Thomas S. Kuhn aus dem Jahre 1962 grosse Verbreitung gefunden hat3. Verkürzt dargestellt hat Kuhn die These formuliert, dass Wissenschafter und Planer beim Entwurf ihrer Konzepte von ganz bestimmten Annahmen über die Struktur jener Realität ausgehen, mit der sie sich befassen. Mit dem „Paradigma” sind all die Grundvorstellungen von der Beschaffenheit der Wirklichkeit gemeint, die wir – in unbewusster Voreingenommenheit – in unsere tägliche Arbeit hineintragen.
7Mich beschäftigt also die Frage, ob die Vergeblichkeit so vieler Entwicklungsanstrengungen nicht auch etwas mit dem heute gebräuchlichen Paradigma von Unterentwicklung und Entwicklung zu tun hat. Verfehlen wir die Wirklichkeit vielleicht deshalb so oft, weil wir sie mit einem zu engen, unzeitgemässen Verständnismuster einzufangen versuchen ? Natürlich verfüge ich über keine gesicherte Antwort auf diese Frage. Meine Zweifel und Vermutungen sind aber stark genug, um wenigstens eine neue Suchrichtung zu umschreiben, die in der Entwicklungszusammenarbeit einzuschlagen wäre.
„Ein multidimensionales Schema von Unterentwicklung” oder :
Woran das heutige Paradigma zu erkennen ist
- 4 Dieter Nohlen/Franz Nuscheier : Handbuch der Dritten Welt, Band 1 : Unterentwicklung und Entwicklun (...)
8Um anschaulich zu machen, was nach meinem Verständnis die heute vorherrschende Sichtweise von Unterentwicklung und Entwicklung kennzeichnet, greife ich auf ein multidimensionales Schema von Unterentwicklung zurück, dem Handbuch der Dritten Welt von Nohlen und Nuscheier4 entnommen.
9In der Art und Weise, wie dieses Schema einen komplexen Zusammenhang aufzeigt, darf es als Beispiel für die Auffassung vieler heutiger Entwicklungsfachleute gelten. Es dient als Instrument, um sich in einer verwirrlichen Realität zurechtzufinden. Graphiken wie diese dienen oft als Krücken bei der Planung und bei der Evaluierung von Entwicklungsprojekten.
10Welches sind nun die Grundvorstellungen von Entwicklung und Unterentwicklung, die sich mit einer solchen Darstellungsweise verbinden ? Ich will bei der Beantwortung dieser Frage nicht auf einzelne Kästen, Begriffe oder Wirkungspfeile in der Graphik eingehen (über welche die Fachleute im Einzelnen ohnehin lange zu streiten vermöchten). Es geht mir vielmehr darum, einige grundsätzliche, für viele ähnliche Schemata gültige Gesichtspunkte herauszuarbeiten.
11Das vorliegende Schema von Unterentwicklung ist zunächst nichts anderes als eine Auslegeordnung jener Entwicklungsfaktoren, mit welchen sich die heutigen Fachleute auseinandersetzen. Neben internen (volkswirtschaftlichen und sozialen) Faktoren werden externe (international wirkende) Kräfte ausgemacht ; zu ökonomischen Gesichtspunkten treten gesellschaftliche und individuelle Werte ; Begriffe wie „Arbeitsproduktivität” oder „Importtechnologie” werden ergänzt durch Ausdrücke wie „Kontemplation” oder gar „Schönheit”. Dass das hier aufgereihte Gedankengut „multidimensional” ist, lässt sich in der Tat kaum bestreiten.
12Die „Mehrdimensionalität” scheint mir ein erstes wichtiges Merkmal des heutigen Paradigmas zu sein. Es gibt in der Entwicklungszusammenarbeit nichts, was für unsere Ziele nicht potentiell wichtig sein könnte und womit wir uns folglich nicht beschäftigen müssten : vom Brotkorb der Armen bis zum Verwaltungsreglement, vom Basisgesundheitsdienst bis zu Wirtschaftskonzepten mit wohlangepassten Stützprogrammen. Und es gehört zu unserem Selbstverständnis, mit all diesen Dimensionen vertraut zu sein, sie auf dem Diskussionstisch auszubreiten und zu versuchen, ihnen in der täglichen Arbeit Rechnung zu tragen.

a niedrige Arbeitsmotivation.
b = unzulängliche Managemenfähigkeiten.
c Handel, private und öffentliche Hilfe, Technologie, Bildung, Werte und Lebensstil.
d materieller Gewinn, Musse, Kontemplation, Schönheit, Lebensstil.
13Ein zweites Merkmal der heutigen Verständnisweise von Entwicklungsprozessen wird an unseren Bemühungen deutlich, die Dinge auseinanderzuhalten. Das kommt in den Klarheit schaffenden Kästen und Rahmen des vorliegenden Schaubildes zum Ausdruck. Die gleiche Sorge um saubere Gliederung spiegelt sich aber auch in zahllosen Inhaltsverzeichnissen von Planungs- oder Evaluierungsberichten. Naturräumliche Grunddaten werden von den Eckwerten der Volkswirtschaft oder des politischen Systems abgesondert. Kulturelle Anliegen dürfen den Blick für aussenwirtschaftliche Realitäten nicht trüben ; und Begriffe wie „Sterblichkeitskontrolle”, „Investitionen”, „Selbstachtung” oder „Freiheit” gehören in je separate Gedankenkästen, damit aber auch in unterschiedliche Ecken der Gesamtvorstellung (siehe dazu Schaubild 1).
14Selbstverständlich bleiben wir uns bewusst, dass die einzelnen Kräfte, Faktoren oder Elemente der Entwicklung in Wirklichkeit miteinander verbunden sind und einander gegenseitig beeinflussen. Der Wille, vernetzt zu denken, wird sehr betont, und dies scheint mir ein drittes entscheidendes Merkmal des gültigen Paradigmas zu sein. Wir verstehen die Vorgänge in der Dritten Wert längst nicht mehr als statische Bedingtheiten von einigen Ursachen und Wirkungen, sondern als dynamischen Zusammenhang sehr unterschiedlicher, ja gegenläufiger Kräfte. Sie zu meistern ist längst keine handwerkliche Aufgabe mehr, sondern ein Thema anspruchsvollster „High-Tech”.
15Das lässt sich in unserem Schema an den vielen Wirkungspfeilen und ihren verschiedenen Richtungen ablesen. Dabei sind die so angedeuteten Bewegungen innerhalb des Systems nicht nur aus linearer Kausalität, sondern oft auch aus gegenläufigen Rückkoppelungen oder zirkulären Verstärkungen zu verstehen. Dahinter steht ein dynamisches und vor allem systemisches Verständnis von Wirklichkeit. Im Alltag der Entwicklungsfachleute spiegelt es sich in dem immer neu formulierten Anspruch, interdisziplinär arbeiten zu wollen. Oft führt es allerdings zu wenig schlüssigen, hitzigen Debatten über die Funktionsweise des Ganzen, die von niemandem endgültig durchschaut wird.
16Zusammenfassend und verkürzt möchte ich das Paradigma, das zur Zeit in der Entwicklungszusammenarbeit vorherrscht, etwa folgendermassen umreissen : Wir betrachten Entwicklung und Unterentwicklung als komplexes Zusammenspiel von sehr unterschiedlichen, oft auch gegensätzlichen Kräften, die letzten Endes wie die Rädchen, Wellen und Hebel einer Maschine, vielleicht noch eher wie die Mikro-Chips eines Computers ineinander wirken. Es wäre zu einfach, dieses Paradigma als mechanistisch zu bezeichnen, aber es bleibt ohne Zweifel von technischen – von modernsten technologischen – Vorstellungen bestimmt. Täglich erfahren wir, wie anspruchsvoll es ist, die Funktionsweise des Ganzen zu erfassen, aber im Grunde genommen zweifeln wir nicht daran, dass es grundsätzlich möglich sein muss, das Gesamtsystem nicht nur gedanklich abzubilden, sondern auch in die von uns gewünschte Richtung zu steuern.
17Natürlich sind wir uns selber gegenüber auch kritisch, aber diese Kritik betrifft in der Regel unsere gelegentlich mangelnde Sorgfalt, unsere oft ungenügenden Fachkenntnisse in Einzelfragen oder unsere Unfähigkeit, wirklich interdisziplinär zu arbeiten. Die allgemein vorherrschende grundsätzliche Sichtweise selber steht kaum je zur Debatte. Gerade dadurch erweist sie sich als jenes Paradigma, das unsere Überlegungen und Tätigkeiten am stärksten – weil am wenigsten bewusst – prägt.
Ein Blick in den Alltag der Entwicklungspolitik oder :
Die Vorzüge und die Schwächen des heutigen Paradigmas
18Bevor ich mich kritisch mit unserem heutigen Entwicklungsverständnis auseinandersetze, müssen – trotz allem – dessen Vorzüge hervorgehoben werden. Das ist deshalb wichtig, weil es hier nicht darum geht, „das richtige” Paradigma oder neue Patentlösungen für die Probleme der Unterentwicklung anzubieten. Ich bin dazu nicht in der Lage, und ich nehme an, dass solche Rezepte auch sonst nirgends wohlfeil zu haben sind. Wir bleiben auf vieles angewiesen, was in den vergangenen Jahrzehnten an Konzepten und Methoden erarbeitet worden ist. Auch wenn es uns gelingt, allmählich in ein erweitertes Paradigma hineinzuwachsen, wird manches Element der heutigen Verständnisweise weiterhin hilfreich und notwendig bleiben.
19Als wichtige Merkmale des derzeitigen Paradigmas habe ich die „Mehrdimensionalität”, die „Differenziertheit” und die „Vernetztheit” der Entwicklungskräfte hervorgehoben. Alle drei sind für die Bewältigung heutiger Probleme unerlässlich und müssen weiterhin Teil des Instrumentariums in der EZ bleiben. So wird die Bereitschaft zu multidimensionalem Denken helfen, in der politischen Diskussion etwa um die Verschuldungskrise, um Entwicklungshilfe-Kredite oder um Asylfragen den Verlockungen bequemer Vereinfachung zu widerstehen. In der Verschuldungskrise kreuzen sich ja tatsächlich nationalstaatliche und internationale, soziale und wirtschaftliche Problemstränge ; die Entwicklungszusammenarbeit muss unter innen- wie aussenpolitischen, technischen und kulturellen Gesichtspunkten angegangen werden ; und im Streit um die Ausgestaltung oder Einschränkung des Asylrechts gilt es, konservative Zurückhaltung, irrationale Ängste und stürmisch humanitäre Anliegen zu versöhnen. Mehrdimensionalität ist unerlässlich, auch wenn sie uns oft sehr belastet.
20Umgekehrt müssen wir uns immer auch dagegen wehren, im Wust der sich widersprechenden Gesichtspunkte die Orientierung zu verlieren und uns von ungeklärten Gefühls- oder Argumenten-Strömen fortschwemmen zu lassen. Kritische Differenzierung ist die Voraussetzung für nüchternes Abwägen : Interne Mechanismen der Entwicklungsländer müssen von externen Kräften abgehoben werden ; soziale Gesichtspunkte lassen sich nicht einfach ökonomischen Sachzwängen unterordnen ; materieller Wohlstand kann auch nicht notwendigerweise auf Fleiss oder Können zurückgeführt werden. Manche Entwicklungsplanung wäre realistischer ausgefallen, manches Vorurteil nicht weitergegeben worden, wenn wir die verschiedenen Wirkkräfte klarer von einander getrennt und auf ihre Eigengesetzlichkeit hin geprüft hätten.
21Manche Planung wäre andererseits erfolgreicher verlaufen, wenn es gelungen wäre, die Zusammenhänge deutlicher zu sehen und das Netz der Bezüge zwischen allen Einzelfaktoren in Betracht zu ziehen. Wie oft stellen wir im nachhinein fest, dass ein Entwicklungsprojekt vor allem deshalb sein Ziel verfehlt hat, weil die Bedeutung irgend eines einzelnen Elements – Betriebswirtschaftlichkeit, Anfälligkeit auf Krankheit oder soziale Rangordnung – vernachlässigt wurde. Unser technizistisches Paradigma ist zu eng, als dass es uns einenganzheitlichen Zugang zur Lebenswirklichkeit von Unterentwicklung und Entwicklung vermitteln könnte.
22Diese Kritik werde ich in den nächsten Kapiteln anhand konkreter Beispiele zu vertiefen suchen. Die ersten Zweifel am heutigen Paradigma ergeben sich im Grunde aber schon aus dem „multidimensionalen Schema” von Nohlen und Nuscheier. Hier fällt nämlich die merkwürdige Künstlichkeit auf, mit welcher beispielsweise ein „hohes Bevölkerungswachstum” mit „Identität” und mit „Würde” des Menschen vernetzt bzw. nicht innerlich verbunden ist – so als ob die Zeugung von Nachkommenschaft nichts oder wenig mit der persönlichen oder familiären Identität zu tun hätte, nicht mit der Würde von Mutter- und Vaterschaft in eins fiele. In diesem Punkt wirkt das von „High Technology-Denken” geprägte Paradigma plötzlich merkwürdig hilflos.
23Gewiss ist das statistische Phänomen des Bevölkerungswachstums ein anderer Aspekt der Unterentwicklung als Identität und Würde es sind. Gewiss ist die erstgenannte Erscheinung quantifizierbar und von hoher volkswirtschaftlicher und ökologischer Relevanz. „Identität” und „Würde” dagegen fallen nicht in den Bereich dieser Wissenschaften, sondern müssten allenfalls der Philosophie, Psychologie, Ethik oder Religionswissenschaft zugeordnet werden. Differenzierung im Sinne gedanklicher Unterscheidung ist also angezeigt. Ist es aber zulässig, die so unterschiedenen verschiedenen Aspekte eines unteilbaren Ereignisses wie der Geburt eines Kindes schematisch von einander zu trennen, wie das mit Bestandteilen einer Maschine oder eines Computers, ja mit den Elementen einer chemischen Verbindung gemacht werden kann ? Lassen sich die Einzelaspekte eines ganzheitlichen Vorgangs nach verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen gesondert behandeln und später in ein auf Kausalität beruhendes Bezugsnetz wiedereingliedern ? Gibt es eine wissenschaftliche Logik, nach welcher das quantitative Bevölkerungswachstum mit nicht quantifizierbaren menschlichen Haltungen oder Werten „Vernetzt” werden kann ?
24Ich vermute stark, dass dies nicht der Fall ist. Viel eher geraten wir hier in den Bereich hilfloser Willkür, die anzeigen könnte, dass unser Paradigma dem Leben in entscheidenden Punkten nicht gerecht zu werden vermag.
Die „Bedürfnispyramide von Maslow” oder :
Das herkömmliche Paradigma führt in die Sackgasse
- 5 Die Theorie von Maslow wird hier zusammengefasst nach : Vreni Baggenstoss und Rolf Gubser : Betroff (...)
- 6 Vgl. z.B. Harald Lang : Management der Projektdurchführung im Partnerland ; ein Leitfaden ; hrsg. D (...)
25Was sich anhand des bisher betrachteten Schemas vermuten liess, wird deutlicher, wenn wir eine in der Entwicklungszusammenarbeit verbreitete und beliebte Theorie der Handlungsmotivation als neues Beispiel heranziehen. Es handelt sich um das Modell der Bedürfnishierarchie des amerikanischen Psychologen Maslow5. Wie sehr sie Ausdruck des dominierenden Paradigmas ist, lässt sich daran ablesen, dass ihre gute Verständlichkeit, ihre Plausibilität und praktische Verwendbarkeit in Arbeitshilfen für Entwicklungsfachleute immer wieder hervorgehoben wird6.
26Maslow glaubt, in der Art, wie Menschen ihre verschiedenen Bedürfnisse zu befriedigen suchen, drei Gesetzmässigkeiten unterscheiden zu können :
1) Jeder Mensch trachtet danach, seine Bedürfnisse systematisch zu befriedigen, angefangen mit den elementarsten (physiologischen) bis zu den hierarchisch höchsten Bedürfnissen (Selbstverwirklichung) ;
2) Das Verhalten des Menschen wird durch das jeweils elementarste nicht befriedigte Bedürfnis bestimmt ;
3) Hierarchisch tiefere Bedürfnisse drängen, wenn sie unbefriedigt sind, stärker nach Befriedigung als höhere Bedürfnisse.
27In dieser Theorie begegnen wir allen früher beschriebenen Hauptmerkmalen unseres Entwicklungs-Paradigmas (vgl. dazu die graphische Darstellung auf der folgenden Seite) : Die komplexe Ganzheit des Menschen und seiner Bedürftigkeit wird nach unterschiedlichen Aspekten gegliedert. Es entsteht eine auf den ersten Blick plausibel anmutende Auslegeordnung, welche differenzierte Untersuchungen nach den Kriterien verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen möglich macht. Das ist nützlich. Abklärungen über den täglichen Nährstoff- und Kalorienbedarf eines Menschen, einer Familie, eines Bevölkerungsteils etc. liefern unentbehrliche Unterlagen für die landwirtschaftliche Planung oder die Vorbereitung von Nothilfeaktionen.
28Gleichzeitig wird deutlich gemacht, dass auch mit der besten Grundversorgung, mit der vollständigsten Deckung physiologischer Grundbedürfnisse noch längst nicht alle Probleme von Armut und Unterentwicklung gelöst sind. Soziale Bedürfnisse oder die individuelle Suche nach Wertschätzung wollen zusätzlich und in ganz anderer Weise respektiert werden als der physikalische oder chemische Bedarf. Entwicklungszusammenarbeit muss sich – wie wir schon betonten – differenzierter orientieren als an Mengenproblemen.
- 7 a.a.O. S. 147.
29Maslow versucht überdies, die vielfältig aufgefächerten Einzelbedürfnisse des Menschen in einer hierarchischen Ordnung zu vernetzen, aus welcher sich kausale Erklärungen für bestimmte Verhaltensweisen ableiten lassen. Der systemische Charakter des Modells wird dadurch besonders deutlich. Mit dieser Darstellungs- und Verständnisweise scheinen sich auch die gesuchten Ansatzpunkte für steuernde menschliche Eingriffe ins Ganze der menschlichen Bedürftigkeit zu ergeben. Maslow bestätigt mit seiner Pyramide den gesunden Menschenverstand, dem es rasch einleuchtet, dass ein Projektmitarbeiter langfristig nicht durch Erfolg und Anerkennung (Bedürfnis nach Selbstbestätigung) motiviert werden kann, wenn dessen Hauptsorge darin besteht, seine Familie knapp zu ernähren (physiologische Bedürfnisse) oder wenn er um die Erhaltung seines Arbeitsplatzes bei Projekt-Ende bangen muss (Bedürfnis nach Sicherheit)7. Eine derartige Analyse muss den Projektmanager zu klaren Massnahmen veranlassen.
Bedürfnis nach Selbstverwirklichung – Entwicklung der eigenen Persönlichkeit, Kreativität, Selbstentfaltung
Bedürfnis nach Wertschätzung – Selbstvertrauen, Selbstachtung, Wunsch nach Erfolg, Stärke, Macht und Anerkennung, Prestige, Status, Unterscheidung von anderen
Soziale Bedürfnisse – Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, danach, von anderen akzeptiert zu werden, Freundschaft, Liebe. Vermeiden von Ablehnung und Einsamkeit
Bedürfnis nach Sicherheit – Beseitigung von Gefahren für die materielle Existenz wie Schutz vor Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit, Bedürfnis nach Ordnung, Stabilität, Zuverlässigkeit
Physiologische Bedürfnisse – Essen, Trinken, Schlafen, Sexualität, Schutz vor der Witterung, Bedürfnis nach Atemluft und Wahrnehmungsreizen
30An diesem Punkt wird aber auch die Gefahr einer unglaublich verkürzten Sichtweise spürbar. Das bereits früher angesprochene Beispiel der menschlichen Fortpflanzung (die hinter dem Problem der „Bevölkerungs-Explosion” steht) bringt dies besonders krass zum Ausdruck : Maslow trennt den physiologischen Trieb der Sexualität beispielsweise vom menschlichen Bedürfnis nach Zuverlässigkeit (zweite Ebene), von der Sehnsucht nach Liebe (dritte Ebene), der Furcht vor Einsamkeit (dritte Ebene), dem Verlangen nach Selbstachtung (vierte Ebene) und Selbstentfaltung (fünfte Eben). Alle diese Aspekte des Eros werden verschiedenen hierarchischen Stufen zugeordnet. Da nun das Verhalten des Menschen – nach Maslow – durch das jeweils elementarste nicht befriedigte Bedürfnis bestimmt wird, muss wohl angenommen werden, dass sich die Slum-Bewohner von Bombay, Abidjan oder Bogota in ihrem täglichen Kampf um das Überleben kaum von „höheren” Bedürfnissen leiten lassen. Partnerschaftliche Zuverlässigkeit, Liebe, Freundschaft oder Wärme sind ihnen wohl unbekannt oder unwichtig – von Selbstvertrauen oder Selbstachtung und einer eigenständigen Persönlichkeit gar nicht zu reden.
31Indem wir „Liebe”, „Selbstachtung” und „Persönlichkeit” von „rein physiologischer Sexualität” abspalten, verstümmeln wir jene Menschen, die um ihre physiologische Existenz kämpfen müssen. Wir trennen sie von ihrer eigenen seelischen Wirklichkeit ; schlimmer : eine solche Wirklichkeit wird den Ärmsten der Welt abgesprochen.
32Dass eine solche Sichtweise der Realität in der Dritten Welt in keiner Weise gerecht zu werden vermag, spürt jede(r), der (die) schon mit materiell sehr armen Menschen in Entwicklungsländern in direktem Kontakt gestanden hat.
33Mit Theorien wie der Maslow’schen Bedürfnispyramide liefert unser sich wissenschaftlich gebärdendes Paradigma fatale Rechtfertigungen dafür, die Benachteiligten in allen Teilen der Welt weiter zu erniedrigen. Die Prostituierte in Bangkok, von deren Erwerb mehrere Familienangehörige leben, „hat ja wohl keine anderen Bedürfnisse”. Bei einer solchen Perspektive wurzelt auch die Apartheidspolitik „in natürlichen Gegebenheiten” ; und die Tatsache, dass wir von Billiglohnländern profitieren, hängt dementsprechend mit dem Umstand zusammen, „dass für die dortigen Frauen und Männer eine Sättigung auf physiologischer Ebene ausreicht”, während sich der schweizerische Arbeiter „offenbar den Luxus von Persönlichkeitsbildung und Selbstentfaltung leistet”.
34All dies mag übertrieben und polemisch klingen. Möglicherweise wird es auch den bewussten Auffassungen von Maslow nicht gerecht. Die Überspitzung macht aber den kritischen Punkt sichtbar, an welchem die Stärken unseres Paradigmas – Mehrdimensionalität, Differenzierung und Vernetzung – in unannehmbare Plumpheit umkippen. Es ist der Punkt, an welchem wir spüren, dass wir der menschlichen Wirklichkeit weder durch weiteres Differenzieren noch durch immer raffinierteres Vernetzen näher kommen, sondern auf einen neuen Ansatz, ein frisches Gespür für eine ganzheitliche, nicht zerlegbare Wirklichkeit angewiesen sind.
35Offenbar ist es so, dass die Methode des Trennens und Vernetzens weniger weit reicht, als in den ersten drei Entwicklungsjahrzehnten angenommen. Sie ist überall da hilfreich, wo es um die Erfassung vordergründiger Zusammenhänge, um chemische, physikalische oder physiologische Prozesse, um Güterströme und Geldflüsse, nicht zuletzt auch um naturräumliche Veränderungen geht. Sie wird aber zunehmend fragwürdig, je komplexer die zu erfassende Wirklichkeit ist, wobei komplex nicht einfach ein besserer Ausdruck für „sehr kompliziert” ist. Komplexität verstehe ich als die Ganzheit der genannten äusseren Wirklichkeiten und der inneren Wirklichkeiten der menschlichen Psyche. Mit anderenWorten : Unser gegenwärtiges Paradigma kann dort nicht wirklich weiter helfen, wo es darum geht, den Menschen oder die Gesellschaft nicht als superkomplizierte Maschine, sondern als körperlich-seelische Ganzheit zu verstehen.
Strukturanpassungsprogramme In Afrika oder :
Die Notwendigkeit einer neuen Orientierung
36Als Beispiel für unsere Überlegungen soll Madagaskar dienen. Das Land und seine Bevölkerungsmehrheit befinden sich in einer verzweifelten Situation (siehe Kasten). Die wachsende Zahl von Bettlern ist in diesem Inselstaat als Folge und Indiz der gravierenden Schuldenkrise zu betrachten. Über drei einhalb Milliarden Dollar beträgt die gesamte Aussenschuld Madagaskars, und selbst nach fünf aufeinanderfolgenden international vereinbarten Umschuldungen muss das Land noch immer mehr als die Hälfte seiner Exporterlöse für den Schuldendienst aufwenden. Was Madagaskar auf dem Weltmarkt anzubieten hat, ist immer weniger gefragt und erzielt nur niedrige Preise.
Zum Beispiel Madagaskar : Nach Angaben der Weltbank haben die Gesundheitsausgaben des Staates von Fr. 10.70 pro Kopf der Bevölkerung im Jahre 1980 auf Fr. 2.70 1987 abgenommen. Weil bisher kaum Personal entlassen wurde, sparte man vor allem bei den Medikamenten. Nur während 2-3 von 12 Monaten im Jahr verfügen die Gesundheitsstationen über einen Vorrat an Basismedikamenten. Während 9-10 Monaten werden die Patienten In die private Apotheke geschickt, deren Gestelle zwar voll, deren Preise für die Durchschnittsmadegassen aber unerschwinglich sind. Um die Mangellage an Medikamenten etwas zu lindern, hat die Schweiz einen Beitrag von 10 Millionen Franken geleistet, mit dem unter anderem Chloroquin zur Bekämpfung der Malaria finanziert worden ist.
An sich hatte Madagaskar während Jahren eine sorgsame Finanzpolitik betrieben. Das änderte sich jedoch 1978 schlagartig, als der Traum vom Industriestaat In die Wirklichkeit umgesetzt werden sollte. Über Nacht lancierte die Regierung Dutzende von ehrgeizigen Projekten und nahm dafür Auslandskredite auf. Der Traum vom Sprung nach vorne, Korruption, fallende Rohstoffpreise und ausländische, auf rasches Geld erpichte Geschäftsleute trieben Madagaskar In die Schuldenfalle.
Heute besinnt man sich in Madagaskar wieder auf den Agrarstaat. Seit 1980 arbeitet die Regierung eng mit dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank zusammen und lässt sich von ihnen beraten. Weil Madagaskar den Rezepten aus Washington seit Jahren folgt, hat sich die Insel sogar den Ruf eines Musterschülers eingehandelt. Doch noch Immer ist kein Ende des Tunnels in Sicht. Trotz allen Sanierungsbemühungen muss jeder zweite im Export verdiente Franken für den Schuldendienst aufgewendet werden. Und das bei einem Volkseinkommen, das sich pro Kopf der Bevölkerung von 350 Dollar im Jahr 1980 auf 210 Dollar (1987) verringert hat. Zum Vergleich : In der Schweiz ist das durchschnittliche Volkseinkommen in derselben Zeitperiode von 16’440 auf 21’250 Dollar gestiegen.
Quelle :Arbeitsgemeinschaft Swissaid, Fastenopfer, Brot für Brüder und Helvetas.
37Beraten und finanziell unterstützt von internationalen Institutionen und bilateralen Hilfsgebern (auch der Schweiz) unterzieht sich das verarmte Land seit Jahren einer langen Reihe von sogenannten Strukturanpassungsprogrammen. Das Ziel dieser Sanierungsmassnahmen ist es, die internationale Kreditwürdigkeit des Schuldners wiederherzustellen, indem ein neues Gleichgewicht zwischen den finanziellen Verpflichtungen nach aussen und den inneren wirtschaftlichen Möglichkeiten hergestellt wird. Das erfordert unter anderem Massnahmen auf dem Gebiet der Währung und jenem der Ordnungspolitik (mehr Spielraum für privatwirtschaftliche Initiative), insbesondere aber einschneidende Sparmassnahmen, unter denen vor allem die ohnehin benachteiligten Schichten zu leiden haben, sowie einen Abbau staatlicher Strukturen. Die Reallöhne sind in den vergangenen sieben Jahren um rund 60 % gesunken. In ähnlichem Ausmass haben sich der Bestand und die Gestaltungsmöglichkeiten der Verwaltung reduziert.
38Strukturanpassungsprogramme sind besonders deutlich von jenem entwicklungspolitischen Paradigma geprägt, dessen Hauptmerkmale wir als „Mehrdimensionalität”, „Differenziertheit” und „Vernetztheit” kennen gelernt haben. Massnahmen zur strukturellen Anpassung einer Volkswirtschaft fussen auf der Annahme, dass es möglich und sinnvoll ist, steuernd in das „unterentwickelte” politisch-ökonomische Gefüge einzugreifen und damit das weitere Geschehen unter Kontrolle zu bringen. Ich betone noch einmal, dass eine solche Sichtweise in mancherlei Beziehung gerechtfertigt ist und durch zahlreiche Erfahrungen empirisch belegt werden kann. Nicht zufällig folgt Madagaskar und folgen viele afrikanische Staaten den so begründeten Ratschlägen des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank. Es ist in der Tat schwierig, grundsätzlich andere wirtschaftlich-politische Konzepte vorzulegen, die einer ökonomischen Gesundung der hochverschuldeten Entwicklungsländer unter den heutigen weltweiten Rahmenbedingungen dienlich wären.
39Trotzdem befürchte ich, dass die vordergründig erfolgreichen systembeherrschenden Techniken, die der Weltwirtschaft heute ihr Gepräge geben, dem Hauptanliegen einer längerfristigen und umfassenden Entwicklung nicht genügend gerecht werden. Vieles spricht dafür, dass die nach dem heutigen Paradigma forcierte „Sanierung” oder „Entwicklung” der Dritten Welt nicht nachhaltig sein wird. Unter Nachhaltigkeit (sustainability) verstehe ich ein sehr delikates Gewebe von ganz unterschiedlichen Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit sich Entwicklung dauerhaft und von innen heraus, ohne stetige patronisierende und subventionierende Aussenbeiträge vollziehen kann. „Von innen heraus”, das heisst : auf Grund eigener Wirtschaftskräfte, eigenen Wissens, eigener Geschichte und eigenen Bewusstseins – vor allem aber eigener innerer Beziehungzum äusseren materiellen Fortschritt. Die stetige Herausforderung durch Äusseres und Fremdes wird dadurch nicht aufgehoben, wohl aber ins Gleichgewicht mit dem Eigenen und Inneren gebracht.
40Diesem notwendigen, lebens- und entwicklungsfördernden Gleichgewicht ist mit den heutigen Strukturanpassungsprogrammen schlecht gedient. Der Koordinator der schweizerischen Entwicklungshilfe in Madagaskar wird sich dieser Tatsache immer von neuem bewusst, wenn er mit Vertretern der Verwaltung oder mit Ministern Gespräche führt. Das Schuldenproblem drängt während vieler solcher Kontakte in den Vordergrund. Die Madagassen empfinden es wie eine würgende Hand an der eigenen Kehle. Das Erstickende dabei ist aber nicht nur die massive materielle Einschränkung, die mit den Strukturanpassungen verbunden ist, sondern ebenso sehr der Verlust an nationaler und persönlicher Souveränität. „Wir stehen mit dem Rücken zur Wand, sind nicht mehr Meister im eigenen Haus,” geben sie dem hörbereiten Partner zu verstehen. Und dieser spürt : „Gerade weil die Sachlogik der Strukturanpassungen so zwingend erscheint, ist die Bitterkeit über die damit verbundene Entwürdigung so tief.”
- 8 Allocution du Général-Major Habyarimana Juvénal, Président de la République Rwandaise, sur la Det (...)
41Rwandas Präsident Juvenal Habyarimana hat dieses Gefühl der Würdelosigkeit aufgenommen und ihm vor einer Versammlung afrikanischer Staatsund Regierungschefs im Herbst 1987 öffentlich Ausdruck verliehen8. Für ihn gibt es keinen Zweifel, dass es ohne menschliche und nationale Würde keine nachhaltige, von innen mitbestimmte Entwicklung geben kann ; oder umgekehrt : dass solche Würde nur die Frucht einer inneren Beziehung und Mitverantwortung gegenüber dem politischen und ökonomischen Geschehen sein kann. Die Strukturanpassungsprogramme und das dahinter stehende technizistische Paradigma (worin materieller Fortschritt und seelische Entwicklung getrennt betrachtet und „behandelt” werden) sind offenbar nicht in der Lage, Wirtschaftsreform und Würde als zwei Aspekte einer einzigen, ganzheitlichen Wirklichkeit zu verstehen.
42Ich möchte diesen Punkt mit einem Bild verdeutlichen : Wirtschaftsreform und Würde sind für den afrikanischen Staatsmann wie die Vorder- und die Rückseite einer Hand. Betrachten Sie Ihre Hand, wenden Sie sie, nehmen Sie die beiden Seiten getrennt wahr. Sie haben es mit zwei Aspekten einer einzigen Realität zu tun. Es ist nicht möglich, Vorder- und Rückseite mit dem Chirurgenmesser von einander zu trennen. Wenn Sie es trotzdem versuchen sollten, hätten Sie es mit zwei halben Händen, nicht mit einer Vorder- und einer Rückseite zu tun. Genau so verhält es sich nach Habyarimana mit der Ganzheit von Wirtschaftsreform und Würde.
- 9 a.a.O. S. 9.
43Was hiesse es denn aber, wenigstens einen ersten Schritt auf diese Ganzheit hin zu unternehmen ? Habyarimana fasst zwei unterschiedliche, sich aber notwendig ergänzende Bewegungen ins Auge. Die erste muss von den Afrikanern selber eingeleitet werden : „Il faut commencer par accepter la responsabilité de nos propres erreurs !”9. Im Falle von Madagaskar bedeutet dies, jene verfehlte Politik einer überstürzten Industrialisierung, wie sie Ende der siebziger Jahre propagiert wurde, nicht einfach im Zeichen neuer Gegebenheiten beiseite zu schieben und vergessen zu lassen, sondern sie öffentlich und selbstkritisch zu hinterfragen : Welche naiven, allein an Äusserem orientierten Bilder von Entwicklung haben die damalige Politik geprägt, und was ist aus dem Scheitern der früheren Pläne für die heutige Situation zu lernen ? Wie weit haben die Madagassen selber im Glauben an billigen Fortschritt jene innere Würde verkauft, deren Verlust sie heute so bitter empfinden ?
- 10 a.a.O. S. 8.
44Auf den zweiten nötigen Schritt weist Habyarimana dort hin, wo er von den „responsabilités” spricht, „qui sont celles du monde de dehors.”10 Gerade auch im Blick auf unser Beispiel Madagaskar sind damit deutlich die internationalen Organisationen und die westlichen Industrieländer, inklusive die Schweiz, angesprochen. Denn es geht heute nicht nur darum, über jenen madagassischen Minister kopfschüttelnd nachzudenken, der 1979 innerhalb einer Woche 23 internationale Verträge über schlüsselfertige Industrien unterschrieben haben will. Es muss gleichermassen darum gehen, nach der Mitverantwortung jener zu fragen, die eine derartige Politik nicht nur mitgetragen, sondern im kurzfristigen Eigeninteresse auch massiv gefördert haben. Aus dieser Mitbetroffenheit kann sich die Schweiz so wenig wie andere Industriestaaten heraushalten.
45Eines der dringlichsten entwicklungspolitischen Gebote zur Zeit der Schuldenkrise müsste also darin bestehen, die gemeinsame Verantwortung für eine gemeinsam geprägte, aber verfehlte frühere Politik gemeinsam anzuerkennen und die Folgerungen daraus gemeinsam durchzuarbeiten. Damit käme – mehr als durch humanitäre Nothilfe oder soziale Ergänzungsprogramme zu den Strukturanpassungen – eine neue Beziehung zum Ausdruck, die das technizistische Paradigma durch eine entscheidende zusätzliche Dimension bereichern könnte. Rein quantitativ und materiell gesehen blieben dabei die Probleme gewiss dieselben. Aber etwas von der Würde, die Präsident Habyarimana ansprach, wäre zurückgewonnen, damit aber auch eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür, dass Madagaskar längerfristig zu einer eigenen Identität und zu eigenen inneren Entwicklungskräften findet.
46Leider sieht es zur Zeit nicht so aus, als ob diese Art von innerer Verbindung und gemeinsamer Verantwortlichkeit bald zu einem wesentlichen Merkmal globaler Entwicklungspolitik werden könnte. Zu stark prägt das alte Paradigma unser Denken und hindert uns, aus dem Bezug zu hintergründigen Wirklichkeiten neue Ideen für die Zusammenarbeit zu entwickeln. Aus diesem Zusammenhang verstehe ich den Satz eines madagassischen Ministers, der einmal im kleinen Kreis bemerkte :
„Parfois c’est mieux de ne pas coopérer, parce que cela laisse un goût amer.”
Eine neue Suchrichtung : konvex und konkav
47Abschliessend nun zurück zur Frage, ob für die Weiterentwicklung der Entwicklungszusammenarbeit nicht ein neues Paradigma nötig wäre – eine neue Suchrichtung nach dem, was sich in Entwicklung und Unterentwicklung abspielt.
48In den vorangehenden Abschnitten habe ich diese Frage bejaht. Ich habe zu zeigen versucht, wie sich ein solches neues Paradigma von unseren gegenwärtigen Vorstellungen unterscheiden müsste : Es geht darum, ergänzend zu vielen äusseren Systemelementen und Faktoren auch innere Wirkkräfte von Mensch und Gesellschaft wahrzunehmen. Anhand der Entwicklungsprobleme Madagaskars haben wir festgestellt, dass der seelische Hintergrund im Lebensganzen ebenso wirkmächtig ist wie der von der Entwicklungszusammenarbeit gestaltete konkrete Vordergrund. In unserem Bemühen um ein angemessenes Verständnis der Realität müssen die beiden Ebenen zwar immer unterschieden werden ; sie lassen sich aber weder trennen noch kausal-logisch miteinander vernetzen. Wir haben es mit unterschiedlichen, aber in unauflösbarer Verbundenheit wirkenden Aspekten einer einzigen Realität zu tun.
49Für diese Komplementarität habe ich beim holländischen Künstler M.C. Escher eine eindrückliche Illustration gefunden. In seiner berühmten Lithographie „Konvex und Konkav” aus dem Jahre 1955 schildert Escher einen merkwürdig verschachtelten Gebäudekomplex, dessen Raumsinn und Perspektive sprungartig wechselt, je nachdem der Betrachter seine eigene Optik auf das Ganze richtet : bald erscheinen ein und dieselben Gebäudeformen als konvex, bald als konkav. Es gibt keinen objektiven Maßstab, der sie eindeutig und ausschliesslich das konvex oder konkav erscheinen liesse. Die Wirklichkeit erweist sich als doppelgesichtig.
50Konvex heisst „erhaben”, „nach aussen gewölbt” ; es kann für jene äussere Wirklichkeit stehen, die wir nach dem heutigen Paradigma durch Zergliederung und Vernetzung relativ leicht (und sehr effektiv !) in den Griff nehmen. Dazu gehören die naturräumlichen Gegebenheiten, sozio-ökonomische Zusammenhänge, ethnisch–kulturelle Merkmale oder technische Gesetzmässigkeiten.
51Konkav bedeutet „vertieft”, „nach innen gewölbt” ; es ist für mich Ausdruck der inneren oder seelischen Wirklichkeit, die sich – wie wir gesehen haben – in unserem gegenwärtigen Paradigma so schlecht integrieren lässt. Zu ihr gehören die unplanbaren seelischen Bedürfnisse des Menschen, seine Beziehungen zu Mitmenschen und das Geheimnis seiner künstlerischen, gedanklichen oder technischen Kreativität.
52Eine neue Orientierung in der Entwicklungszusammenarbeit ist wohl nur zugewinnen, wenn wir bereit sind, diesem anderen, nicht technizistisch integrierbaren Aspekt der Wirklichkeit jene Aufmerksamkeit zu schenken, die er angesichts seiner Wirksamkeit verdient. Die Entwicklung hat – wenn sie nachhaltig sein soll – eine innere Dimension, die unser bisheriges Paradigma sprengt. Die neue Suchrichtung spielt jedoch nicht nur auf diese zusätzliche Dimension, sondern darauf, die konkave mit der konvexen Realität zu verbinden, so wie Escher das in seiner erwähnten Lithographie anstrebt. Das neue Paradigma besteht nicht einfach in einer neuen Perspektive. Es fordert vielmehr unsere Bereitschaft zu ständigem Perspektivenwechsel.
53Ich gebe zu, dass dies keine bequeme Aussicht ist, und ich bin mir bewusst, dass der Umgang mit dem neuen Paradigma in der Praxis noch viele Fragen aufwirft, die hier nicht angesprochen worden sind. Deshalb habe ich schon zu Beginn betont, dass mit dem neuen Paradigma eher eine neue Suchrichtung als ein fertiges Konzept gemeint ist – eine Suchrichtung allerdings, ohne die ich mir mein eigenes Engagement in der Entwicklungszusammenarbeit nicht mehr vorstellen kann.
Anmerkungen
1 Bundesgesetz über die internationale Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe vom 19. März 1976, Art. 5.
2 DEH – Direktion für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten.
3 Thomas S. Kuhn : Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a.M. 1973.
4 Dieter Nohlen/Franz Nuscheier : Handbuch der Dritten Welt, Band 1 : Unterentwicklung und Entwicklung ; Theorien – Strategien – Indikatoren ; Hamburg 1982, S. 46.
5 Die Theorie von Maslow wird hier zusammengefasst nach : Vreni Baggenstoss und Rolf Gubser : Betroffene zu Beteiligten machen ; Studienarbeit IAP, 1981.
6 Vgl. z.B. Harald Lang : Management der Projektdurchführung im Partnerland ; ein Leitfaden ; hrsg. Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), Rossdorf 1987.
7 a.a.O. S. 147.
8 Allocution du Général-Major Habyarimana Juvénal, Président de la République Rwandaise, sur la Dette Africaine, Addis Abeba, 30 novembre 1987.
9 a.a.O. S. 9.
10 a.a.O. S. 8.
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Beschriftung | a niedrige Arbeitsmotivation.b = unzulängliche Managemenfähigkeiten.c Handel, private und öffentliche Hilfe, Technologie, Bildung, Werte und Lebensstil.d materieller Gewinn, Musse, Kontemplation, Schönheit, Lebensstil. |
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Zitierempfehlung
Papierversionen:
Rudolf Högger, „Eine neue Suchrichtung für die Entwicklungszusammenarbeit“, Schweizerisches Jahrbuch für Entwicklungspolitik, 10 | 1991, 255-270.
Online-Version
Rudolf Högger, „Eine neue Suchrichtung für die Entwicklungszusammenarbeit“, Schweizerisches Jahrbuch für Entwicklungspolitik [Online], 10 | 1991, Online erschienen am: 13 April 2013, abgerufen am 15 März 2025. URL: http://0-journals-openedition-org.catalogue.libraries.london.ac.uk/sjep/1222; DOI: https://0-doi-org.catalogue.libraries.london.ac.uk/10.4000/sjep.1222
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