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Analysen und stellungnahmen

Nord/Ost versus Nord/Süd

Zur Situation nach einem Jahr Hilfe an Osteuropa
Alexander Melzer
p. 223-234

Volltext

1. Hintergründe und Anfänge der Osthilfe

1Seit dem Weltwirtschaftsgipfel vom Juli 1989 war die westliche Wirtschaftshilfe für die osteuropäischen Staaten beschlossene Sache. Jene Länder, die sich zu Demokratisierungsprozessen entschlossen hatten, sollten in ihrem Übergang – der folgerichtig auch marktwirtschaftliche Reformen einschliessen musste – unterstützt werden. Im Sommer 1989 qualifizierten sich nur Polen und Ungarn für diese Hilfe. Ihre Regierungen waren zumindest teilweise demokratisch gewählt oder das Machtmonopol der kommunistischen Partei war aufgehoben. Seither haben sich die Ereignisse überstürzt. Auch die Tschechoslowakei und Bulgarien haben inzwischen demokratisch gewählt und gehören zum Kreis der Hilfeempfänger. Rumänien qualifiziert sich auch nach den Wahlen noch nicht für andere als humanitäre Hilfe. Und die DDR hat sich als Ganzes mit solcher Eile der BRD angeschlossen, dass eine Hilfe über andere als westdeutsche Kanäle gar nicht Platz greifen konnte. Freilich ist gerade durch den Zusammenschluss sehr viel über das Ausmass der wirtschaftlichen und ökologischen Probleme der DDR bekannt geworden, womit die Grösse der bevorstehenden Aufgaben in den übrigen mittel- und osteuropäischen Ländern wenigstens realistischer eingeschätzt werden kann.

2Am Wirtschaftsgipfel vom Sommer 1989 wurde die Hilfe an die osteuropäischen Reformländer allen westlichen Ländern ans Herz gelegt. Die Teilnehmer des Gipfeltreffens riefen die Gruppe der 24 Industriestaaten (die sogenannte G 24) zur Hilfeleistung auf und betrauten die Kommission der EG in Brüssel mit der Koordination der Massnahmen. Die EG-Kommission ihrerseits rief umgehend die „Aktion PHARE” (Pologne/Hongrie, Action pour la reconstruction des économies) ins Leben, die mit Arbeitsgruppen in verschiedenen Bereichen eine koordinierende Tätigkeit aufnahm. Solche Arbeitsgruppen wurden für die Nahrungsmittelhilfe resp. das landwirtschaftliche Verarbeitungs- und Verteilsystem, die Umwelt, die Ausbildung und die (industriellen) Investitionen eingesetzt. Neben den Vertretern der 24 Industriestaaten nehmen an den PHARE-Sitzungen auch noch die wichtigeren muttilateralen Institutionen (u.a. Weltbank und IWF) teil, zeitweise auch Vertreter der osteuropäischen Regierungen. Ob auf Ministerebene oder auf untergeordneter Ebene, ein einziger „tour de table” mit den Voten von 30 Delegationen nimmt leicht einen halben Sitzungstag in Anspruch. Die Koordination durch die EG ist denn auch nicht viel anderes als ein Informationsaustausch über die Hilfemassnahmen der einzelnen Länder und Institutionen und eine gelegentliche Einigung auf elementare Regeln des Vorgehens. Eine Aufgabe der Tagungen ist das Nachführen des „Scoreboard” der Hilfemassnahmen aller Beteiligten, nach Empfängerländern und Kategorien der Hilfe gegliedert. Ein Auszug der Situation vom Herbst 1990 findet sich in den Tabellen I und II.

3Die „Action PHARE” stützte sich zu Beginn auf die „Wunschlisten” der Regierungen Polens und Ungarns. Eine erste Runde von Nahrungsmittellieferungen wurde unter dem Titel Humanitäre Hilfe schon im Spätherbst 1989 abgewikkelt. Die Schweiz beteiligte sich daran mit Lieferungen schweizerischer Nahrungsmittel und finanzierte den Kauf von ungarischem Weizen durch Polen (im Umfang von insgesamt 5 Millionen Franken). Jedoch zeigten die ersten bilateralen Missionen ab November 1989 schon rasch, dass die Wunschlisten Polens und Ungarns vielmehr ein Konglomerat von Anliegen unterschiedlichster Art der in ihrer Aufgabe noch keineswegs erfahrenen (Kompromiss-). Regierungen darstellten, als Elemente eines durchdachten Reformprogramms. Weitergehende Massnahmen, beispielsweise der technischen oder der wirtschaftlichen Unterstützung sowie der Verwendung anfallender Gegenwertmittel (aus den Verkäufen der Nahrungsmittel vor Ort) wurden in der Folge vor allem unter den Gebern in Brüssel in bezug auf ein zu erreichendes Gesamtvolumen diskutiert und in jedem Geberland aus der eigenen Sicht der Lage in Osteuropa konzipiert. Die „Aktion PHARE” weist somit aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte und der reformbedingten Schwäche der Empfängerländer etwas geberlastige Züge auf.

4Dies erstaunt jedoch nicht ; beim Übergang von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft herrschte während Monaten für die Regierungen in Ost und West grosse Unsicherheit. Es gab keine gesicherten Konzepte und keine Präzedenzfälle. Kurzfristig ausgerichtete Vorschläge konkurrenzierten langfristig orientierte Gesamtkonzepte. Einerseits stieg der Handlungsdruck aufgrund der Ereignisse geradezu wöchentlich, anderseits machte sich ein Kompetenzenvakuum spürbar ; dies auf allen Ebenen. Im Bereich der multilateralen Institutionen wurden z.B. die in bezug auf Osteuropa ungeklärten Rollen von OECD und europäischer Investitionsbank mit dem Vorschlag auf Gründung einer europäischen Entwicklungsbank zusätzlich thematisiert. Oder die andernorts eingespielten Muster der Koordination unter den Fittichen der Bretton-Woods-Institutionen wurden durch die offizielle Koordinatortätigkeit der EG (eine Neuheit für Nicht-EG-Mitglieder, d.h. die Mehrheit der Geberländer) zumindest tangiert. Mit andern Worten : das internationale System wurde auf ganz neue Weise gefordert. Auf der Ebene der einzelnen Geberländer war vorerst die Finanzierung der Hilfe eine offene Frage. Auch sie musste in den ersten Monaten der Aktion PHARE international geklärt werden. So befasste sich die OECD mit der Frage, ob Entwicklungsgelder in der Osthilfe verwendet werden könnten – was gleich noch die Frage der Definition von Entwicklungsländern aufwarf.

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Tabelle 1. Angaben über finanzielle Verpflichtungen und Hilfeversprechen (1) für die osteuropäischen Länder und Kapitalanteile ander Europaïschen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE), in Mio Ecu. (Stand vom 30. Oktober 1990)

Tabelle 1. Angaben über finanzielle Verpflichtungen und Hilfeversprechen (1) für die osteuropäischen Länder und Kapitalanteile ander Europaïschen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE), in Mio Ecu. (Stand vom 30. Oktober 1990)

* Feste Verplichtung oder Versprechen, ohne Angabe der Beträge.
1) Ohne Berücksichtigung neuer Verpflichtungen, meist ohne Bestimmungsangabe in Höhe von 2.684 Mio Ecu.
2) ausschliesslich humanitäre Hilfe.
3) mit Polen : insgesamt 47 Mio Ecu.

Quelle : Commission of the European Communities, Directorate-General For External Relations, PHARE, SCOREBOARD, 30.10.90.

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Tabelle 2. Angaben über finanzielle Verpachtungen und Hilfeversprechen für die osteuropäischen Länder, nach Berelchen, in Mio Ecu

Tabelle 2. Angaben über finanzielle Verpachtungen und Hilfeversprechen für die osteuropäischen Länder, nach Berelchen, in Mio Ecu

1) Die gesamten Verplichtungen pro Land schliessen Beträge ein, die nicht nach Bereichen aufgeschlüsselt sind.
2) ausschliesslich humanitäre Hilfe.

Quelle : (Vgl Tabelle 1).

7Dessen ungeachtet und oft abgestützt auf die wenig brauchbaren Wunschlisten kündigten die einzelnen Geberländer in den Monaten bis Ende 1989 ihre beabsichtigten Hilfemassnahmen an, oft politisch motiviert und in äusserst summarischer Form. Solche Meldungen wurden von interessierter Seite (Medien, Parteien, Wirtschaft) in andern Ländern gerne aufgegriffen und zur Stützung eigener Vorstellungen verwendet. Bei der Ende 1989 vorherrschenden Unsicherheit über die wirtschafts- und reformpolitische Situation in Osteuropa entstanden in den einzelnen Geberländern auch Diskussionen über die Art der einzusetzenden Hilfeinstrumente ; dies umso mehr, als auch die Medien und die Parlamente sich mit diesen akuten Fragen befassen mussten und wollten. In verschiedenen Ländern waren mit den Inhalten naturgemäss auch die Zuständigkeiten einzelner Verwaltungsstellen im neuen Bereich „Osthilfe” vorerst ungeklärt und umstritten.

8So waren z.B. die Kompetenzen in der BRD – wo neben bundesstaatlichen auch die Stellen der einzelnen Bundesländer zu Massnahmen aufgerufen wurden – zu Beginn so unübersichtlich, dass es interessierten Beratern nicht möglich war, überhaupt bis zu den für einzelne Sachgebiete Zuständigen vorzudringen. Auch in der Schweiz dürften sich solche Vorfälle ereignet haben. Mit der Ausarbeitung der Botschaft über die Osthilfe waren drei Departemente und doppelt so viele Bundesämter und Direktionen befasst. Das Spektrum der Interessen war sehr breit und verschiedene Kompetenzfragen konnten erst im Frühjahr 1990 geklärt werden.

9In den Monaten, während denen die westliche Hilfe konzipiert und diskutiert wurde, war die Unsicherheit über die Situation und die unmittelbare Zukunft in Ungarn und Polen das grösste Handicap. In Polen dauerte es mehrere Monate, bis im Januar 1990 ein makroökonomisches Programm unter IWF-Ägide verabschiedet werden konnte. Was bis zu diesem Zeitpunkt gleichbedeutend war mit einem Zustand der Hilflosigkeit im eigentlichen Wortsinn, da ja Hilfemassnahmen in ein Gesamtkonzept eingefügt werden müssen. Auch mit dem Makroprogramm setzte für Polen nicht die neue Zeit ein, sondern die Auflösung der alten. So wurden z.B. die Dachverbände der Genossenschaften abgeschafft und ganze Ministerien umfunktioniert (z.B. das Ministerium für Binnenhandel mit seinen Verteilungskompetenzen). Dagegen begannen neue Formen, beispielsweise die Selbstverwaltung der Gemeinden oder Bankinstitute mit echten Bankenfunktionen, nur allmählich und sozusagen „in erster Annäherung” zum angestrebten Ideal zu funktionieren. Die Unterstützung dieser Transformationsprozesse ist zwar das erklärte Ziel der Osthilfe. Trotzdem ist es für Geber- wie für Empfängerländer schwer, in einem derart umfassenden Prozess Prioritäten zu setzen und die Kräfte abzustimmen.

10In Ungarn, das schon seit längerer Zeit mit marktwirtschaftlichen Formen experimentiert hatte, zeigten sich in der Anfangsphase andere Schwierigkeiten. Dieses Land versuchte, seine Zahlungsfähigkeit und damit seinen Zugang zu neuen Krediten aufrechtzuerhalten. Es war vorläufig kein Sanierungsfall, was es schwieriger machte, Hilfemassnahmen zu formulieren. Es ist leichter, ein Hilfepaket für ein zahlungsunfähiges Land zu schnüren als für einen guten Schuldner.

2. Der Rahmenkredit der schweizerischen Regierung

11Vor diesem Hintergrund einer Umbruchsituation formulierte auch der schweizerische Bundesrat seine Botschaft über eine verstärkte Zusammenarbeit mit osteuropäischen Staaten und entsprechende Soforthilfemassnahmen (89.075) an das Parlament. Sie wurde bereits am 22. November 1989 verabschiedet und in der Märzsession 1990 von beiden Kammern des Parlaments im Dringlichkeitsverfahren genehmigt.

12Die Massnahmen der Schweiz sind vorerst auf drei Jahre ausgelegt. Sie umfassen einen Rahmenkredit von 250 Millionen Franken. Dieser soll in folgenden Bereichen eingesetzt werden :

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14Dabei gelten folgende Kriterien :

  • Wille zu Reformen auf institutionellem, politischem und wirtschaftlichem Gebiet nach den Grundsätzen der KSZE.

  • Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der Empfängerländer ; Ausgangspunkt sind deren eigene Wünsche.

  • Katalysatorwirkung auf Beiträge anderer Geber, aber auch der Empfänger.

  • Unterstützung von Projekten zur Förderung der Selbstverantwortung und der Effizienz.

  • Koordination der Aktivitäten auf schweizerischer und auf internationaler Ebene.

15Die Aktivitäten unter diesem ersten Rahmenkredit konzentrierten sich vorerst auf Polen und Ungarn. In den Bereichen Kultur, Wissenschaft und Ausbildung sind Verträge mit schweizerischen Institutionen über die Abwicklung von Programmen abgeschlossen worden (z.B. mit dem Schweizerischen Nationalfonds und mit Pro Helvetia). Es wurden erste Kurse, Stipendienprogramme etc. auf schweizerischem Boden durchgeführt. Einige längerfristige Vorhaben, z.B. Beteiligungen am Aufbau von Ausbildungsstätten von Bankpersonal oder von Gemeindeangestellten (in Polen) sind in Vorbereitung. Ausschliesslicher auf Projekte der technischen Unterstützung in den Empfängerländern konzentrieren sich die Massnahmen in den Bereichen Umwelt (vorwiegend in Ungarn) und Verarbeitung sowie Verteilung von Agrarprodukten (vorwiegend Polen).

16Die Wirtschaftshilfe konzentriert sich auf Polen, dem allein 150 Millionen Franken Finanzhilfe zugeteilt worden sind. Nach Abklärungen vor Ort sind davon 50 Millionen Franken als nicht-rückzahlbare Geschenke vorgesehen ; die restlichen 100 Millionen Franken betreffen Lieferungen im Rahmen der ERG.

17Die Botschaft über die Hilfemassnahmen an osteuropäische Länder ist offen formuliert. Verschiebungen innerhalb und zwischen den Instrumenten sind genauso möglich wie die Berücksichtigung zusätzlicher Länder im Einvernehmen mit der G-24. Da die Projekt- und Programmvorbereitungen aber sehr zeitraubend sind, ist abzusehen, dass unter dem ersten Rahmenkredit in anderen Ländern als Polen und Ungarn höchstens vorbereitende Massnahmen in Angriff genommen werden können. Im Prinzip betrifft dies – die CSFR, Bulgarien und Jugoslawien, für welche die Ministersitzung der G-24 vom 4. Juli 1990 eine Aufnahme von Hilfeleistungen beschlossen hat. Die ebenfalls einbezogene DDR hat sich am 3. Oktober 1990 der BRD angeschlossen.

3. Bisherige westliche Leistungen

18An materiellen Hilfeleistungen trafen nach den anfänglichen Nahrungsmittellieferungen anfangs 1990 die ersten Lieferungen von Inputs für die Landwirtschaft (z.B. Düngemittel als Geschenk der EG) ein. Auch wurden grössere Kreditpakete der Weltbank über die Rehabilitationsmassnahmen in einzelnen Sektoren verabschiedet. Die Kreditlinien verschiedener Geberländer für Warenlieferungen traten in Kraft. All diese Massnahmen wurden von Polen und Ungarn weniger stark als ursprünglich erwartet in Anspruch genommen ; zu sehr wirkte die kontrahierende Kraft der Reformprogramme. Einzelne Experten wurden im Rahmen der technischen Zusammenarbeit auf bilateraler Basis den Regierungen zur Verfügung gestellt. Und ein mit den längerfristigen Notwendigkeiten der Reform nur oberflächlich koordinierter Reiseverkehr für Kurse und Stipendien setzte ein. Bis zum Sommer ist keines der zur Verfügung stehenden längerfristigen Instrumente, von der projektorientierten Finanzhilfe bis zur technischen Unterstützung zu einem eigentlichen Einsatz gelangt. Dazu ist es nicht bloss zu früh ; Projektabklärungen sind überall im Gang, stossen aber in den Empfängerländern auf einen empfindlichen Mangel an unbelasteten Institutionen, welche eine Trägerschaft bieten könnten. Auch bilden Finanzierungsengpässe bei den lokalen Kosten ein ernsthaftes Hindernis. Die Zeiten der Inflationsbekämpfung mit ihren hohen Zinsen und Kreditrestriktionen sind für Investitionen nicht förderlich. Auch sind die Banken noch nicht gewohnt, unabhängige Investitionsentscheide zu treffen. Sie ziehen kurzfristige Kreditformen vor, die weniger Risiko mit sich bringen.

19Zum Teil werden von westlichen Ländern Hilfeleistungen angeboten, die von den Empfängerländern nur mit Zurückhaltung aufgenommen werden. So wurden Nahrungsmittelkredite von Italien und Frankreich an Bulgarien offenbar nicht benutzt. In bezug auf die Konditionen von Krediten für Warenlieferungen sind die neuen Regierungen sehr kostenbewusst.

20Neben den öffentlichen Hilfeleistungen und zum Teil durch diese ermöglicht (Investitionsschutzabkommen, Investitionsbeihilfen, etc.) sind inzwischen hunderte von „Joint ventures” zwischen Firmen aus Ost und West vereinbart worden. Diese müssen freilich erst noch realisiert werden und ihre Lebensfähigkeit beweisen.

4. Perspektiven der Osthilfe

21Die Hilfe der G-24 an die osteuropäischen Länder umfasst so ziemlich alle denkbaren Formen der bilateralen internationalen Unterstützung. Es wird sich erst noch zeigen müssen, welche Instrumente sich am besten bewähren und welche Formen der Unterstützung folglich das Rückgrat zukünftiger Hilfeprogramme bilden werden. Dass Hilfemassnahmen über einen längeren Zeitraum notwendig sein werden, zeigen nicht nur die geradezu atemberaubenden Schätzungen, die gegenwärtig für die „Sanierung” der DDR-Wirtschaft ermittelt werden (100 Mrd DM 1990 ; 140 Mrd DM 1991, nach W. Roth, Stv. Fraktionsvors. SPD). Es schält sich immer deutlicher heraus, dass es nicht nur um ansehnliche Stabilisierungsprogramme gefolgt von Strukturanpassungen geht, sondern um eine grundsätzliche institutionelle Umgestaltung ganzer Volkswirtschaften. Eine Aufgabe, welche, wenn auch auf anderem Niveau, mit dem Umfang der Aufgabenstellung der Entwicklungszusammenarbeit verglichen werden kann.

22Nach einem massiven schockartigen Stabilisierungsprogramm, das anfangs 1990 verabreicht wurde, steht z.B. Polen zur Zeit in einem gestaffelten, auf mehrere Jahre angelegten Struktur- und Reformprogramm. Ähnliches wird für die CSFR konzipiert. Ungarn kann sich stärker auf die Reformmassnahmen allein konzentrieren. Aber alle osteuropäischen Länder befinden sich vorläufig noch in einem „drôle de capitalisme” : die Regeln der Planwirtschaft sind über Bord geworfen, die alten Institutionen abgeschafft, und das neue System greift naturgemäss erst allmählich. Denn mit der juristischen Neuformulierung der Spielregeln ist es noch nicht getan ; die alte Planwelt lebt in tausend Nischen weiter. Es fehlt an neuen Instituttonen. Wenn jeder seine Produkte auf den Markt bringen darf – wo ist der Markt in einem bis anhin geradezu militärisch organisierten Zuteilungssystem ? Zwar blüht der (atomisierte) Einzelhandel. Jeder tauscht mit jedem. Aber das ist äusserst ineffizient. Wer organisiert den Grosshandel zwischen Produzenten und Detaillisten ? Wer wird Detaillist ? Wenn jeder mit eigenen Produkten konkurrieren darf – wie überlebt der Neue, der Land, Gebäude und Inputs kaufen muss, im Wettkampf gegen alte „unbewertete” Grossproduzenten, deren Produktionsmittel nach wie vor kostenfreies Kapital darstellen ? Man muss sich vor Augen halten, dass in diesen Ländern nicht ein einziger funktionierender Markt für irgendeinen Produktionsfaktor eingerichtet ist, dass kein Bankinstitut mit marktwirtschaftlichen Bankfunktionen zu finden ist, dass die öffentliche Hand grundsätzlich neu eingerichtet werden muss, dass Angestellte, Funktionäre und Politiker sich alle neu orientieren müssen.

23Überschlagsmässig lässt sich berechnen, was ein solches gestaffeltes Reformprogramm an Kosten mit sich bringt. Für Polen allein wurde für die Zeit von 1990 bis 1995 eine Finanzlücke von 40 Mrd. US$ ohne Einbezug von umweltbedingten Investitionen berechnet – das heisst, wenn alles gut geht und die Wirtschaft schon ab 1991 ein Wachstum des Pro-Kopf Einkommens von 2 % und später 3 und 4 % erreicht (Weltbank, Januar 1990). Daraus kann leicht etwas mehr werden. Im Vergleich : die gesamten Ausgaben der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit betrugen 1989 nur eben 48 Mrd. US$. Inzwischen hat sich, wie wir gesehen haben, die Zahl der Anwärter auf Unterstützung ausgeweitet und im Hintergrund wird bereits über die fällige Hilfe an die Sowjetunion diskutiert. Um es in den Worten des CSFR-Präsidenten Havel auszudrücken, die er in seiner Rede zum 22. Jahrestag des Einmarsches vom 21. August 1968 gefunden hat : „Unsere Revolution ist noch nicht zu Ende, im Gegenteil, das Wesentliche muss erst noch geschafft werden”.

24Das wird Zeit und Mittel in Anspruch nehmen.

5. Entwicklungsarbeit In Ost und Süd

25Ein Vergleich zwischen Osthilfe und Entwicklungshilfe ist etwas gewagt, da praktisch bis jetzt nur in zwei osteuropäischen Ländern erste Erfahrungen gemacht werden konnten. Vergleichbar, trotz des grossen Einkommensunterschiedes, scheinen in Entwicklungsländern wie in Osteuropa die massiven Strukturprobleme der Wirtschaft, die ohne Rücksicht auf Kosten und Preise im Rest der Welt lange Zeit aufrechterhalten werden konnten. Vergleichbar ist auch der durchgehend feststellbare Mangel an Institutionen, die eine Verbindung von modernen Wirtschaftsformen mit lokalen sozialen und ökologischen Bedingungen ermöglichen würden. Der Aufbau solcher Institutionen verlangt hier wie dort viel technische Hilfe und Ausbildung. Denn die neuen Wirtschaftsstrukturen können nur mit dem Aufbau von neuen Institutionen verwirklicht werden.

26Im Vergleich zu den Entwicklungsländern ist die Arbeit in Osteuropa erschwert durch die bereits vorhandenen stark zentralisierten Produktionsstrukturen und die Schwäche des informellen Sektors in Produktion und Dienstleistungen. Erleichtert wird die Arbeit anderseits durch den guten Ausbildungsstand der Menschen und die kulturelle Affinität, welche zwischen den Partnern in diesem Prozess gegeben ist.

27In den Kreisen, die sich mit Osthilfe befassen, ist es vorerst noch ein Tabu, einen Vergleich mit der Entwicklungszusammenarbeit vorzunehmen. Daran sind kaum die Empfindlichkeiten der Ostländer schuld, welche manchmal vorgeschoben werden, um solchen Überlegungen auszuweichen. Der Grund liegt möglicherweise darin, dass in den meisten Geberländern andere als die mit der Entwicklungszusammenarbeit befassten Stellen über die Mittel der Osthilfe verfügen und diese Verfügungsgewalt auch behalten wollen. Diese Stellen (z.B. die Agrarministerien in Frankreich oder Dänemark) haben keine Erfahrung in der internationalen Unterstützung langfristiger Struktur- und Entwicklungsprozesse. So dürften in der Osthilfe die Kinderkrankheiten der Entwicklungszusammenarbeit von einst wiederholt werden : übergrosser Helfereifer, mangelnde Problemanalyse, Prioritätenstau, mangelnde Selektion, Vernachlässigung institutioneller Aspekte etc. Dies wird sich erst nach einigen Jahren der Erfahrung, wenn eine stärkere Professionalisierung der Hilfe eingesetzt haben wird, eliminieren lassen.

28Es kann auch sein, dass die Ostländer in vielem den westlichen Industriegesellschaften, die hier als Geber auftreten, bereits zu nahe kommen und dass deren Entwicklungspolitik über die fraglosen Ziele der Sicherung elementarer Grundbedürfnisse hinaus wenig zu bieten hat. Zwar befasst sich die Entwicklungspolitik auch mit der Einrichtung von Märkten oder von Finanzierungsinstitutionen, aber nicht in Ländern von einem derart hohen Entwicklungsstand wie dem der osteuropäischen Länder. Es ist eine diskutierbare Eigenheit der westlichen öffentlichen Hilfe, dass sie sich mit zunehmendem Entwicklungsniveau ihrer Partnerländer kommerzialisiert oder vollends abbricht (Bsp. die Maghrebstaaten, Brasilien), woraus sich schwere Rückschläge ergeben können. Ein Grund für diese Eigenart liegt in der Tatsache, dass die meisten westlichen Länder ausser der Schaffung von Voraussetzungen für die Einrichtung einer Marktwirtschaft eigentlich keine gesellschaftspolitischen Ziele international unterstützen. Nachdem im Fall der osteuropäischen Länder die demokratischen Vorbedingungen einer Marktwirtschaft (schon vor der Hilfeleistung) erfüllt sind, wird deutlich, dass noch zusätzlich unzählige „innere Angelegenheiten” zu regeln, Institutionen und politische Formen aufzubauen und zu praktizieren sind, wenn ein international einigermassen konkurrenzfähiges wirtschaftliches System entstehen soll. Es zeigt sich, dass die Marktwirtschaft nur ein Prinzip ist und dass sie in einem gesellschaftspolitischen und institutionellen Leerraum keine Wurzeln fassen kann. Dieser Leerraum kann nicht nur mit Lieferkrediten gefüllt werden. Die Osthilfe wird vielmehr neue ungewöhnliche Formen der Unterstützung finden müssen, nachdem die osteuropäischen Länder nicht einfach nach dem Muster der DDR eingegliedert werden können. Die Unterstützung muss zumindest in Teilbereichen der Wirtschaft „Suboptimalitäten” in Kauf nehmen müssen, wenn die Länder und mit ihnen ihre Marktwirtschaft überleben sollen. Für einige Jahre wenigstens müsste die Hilfe paradoxerweise gegen die Wirkung der internationalen Marktkräfte laufen, die beim heutigen Stand der Technologie wirtschaftliche Einheiten von der mittleren Grösse der osteuropäischen Länder eher auflösen als stützen – wie sich an der konkreten Problematik der Beziehungen der EFTA-Staaten zur EG zeigt.

29Gegenüber Osteuropa besteht wohl ein politischer Wille der Industriestaaten, sich erstmals ernsthaft mit den Fragen des wirtschaftlichen Übergangs mehrerer Länder in den Kreis moderner Marktwirtschaften zu befassen und dafür notwendige neue Formen der Kooperation zu entwickeln und umzusetzen. Es ist zu hoffen, dass sich aufgrund der Erfahrungen mit diesen neuen Formen der Unterstützung auch die Probleme gewisser Schwellenländer (wie Brasilien, Türkei oder Algerien) einem neuen Verständnis erschliessen.

6. Auswirkungen auf die Situation der Entwicklungsländer

30Wenn wir Überlegungen über die Auswirkungen der Osthilfe auf die Entwicklungszusammenarbeit anstellen, sollten wir mindestens für die Zeit der 90er Jahre mit einem stark erhöhten Finanzbedarf der osteuropäischen Länder rechnen.

31Die Schweiz hat ihren Osthilfe-Rahmenkredit von 250 Millionen Franken ohne Rückgriff auf die Mittel der Entwicklungszusammenarbeit finanziert. Dies zeigte sich auch eindeutig als ein Anliegen des Parlaments : eine Schmälerung der Ausgaben der Entwicklungszusammenarbeit wegen der Osthilfe komme nicht in Frage.

32Auch die OECD diskutierte in ihrem Entwicklungshilfeausschuss (DAC) schon bald die Frage, inwiefern die Osthilfe als Entwicklungszusammenarbeit angerechnet werden könne und ob nicht Polen und Ungarn zu Entwicklungsländern deklariert werden könnten. Es zeigte sich, dass einige Länder ihre Osteuropa-Mittel bereits aus der Entwicklungszusammenarbeit finanzierten. Nach längerem Seilziehen setzte sich die Regelung durch, die Hilfe für Osteuropa getrennt von den üblichen Entwicklungszusammenarbeit-Aufwendungen zu registrieren. Eine Durchlässigkeit der statistischen Kategorien der OECD in dieser Hinsicht wurde verhindert. Anderseits besteht in den Budgets einiger Länder (z.B. der USA oder Italiens) diese Durchlässigkeit trotzdem, da sie für die gesamte Auslandhilfe nur eine Quelle oder Budgetposition besitzen, Abstriche in der globalen Entwicklungszusammenarbeit nach OECD-Rechnung sind also zu erwarten.

33Wichtiger als diese direkten Einbussen scheinen mir aber die weltwirtschaftlichen Einflüsse der stark erhöhten Aktivität in Osteuropa zu werden. Folgendes ist daraus für die Entwicklungsländer abzuleiten :

  • Höheres Weltzinsniveau aufgrund des Kapitalbedarfs in Osteuropa. Grösseres Interesse privater Kreise an Investitionen in Osteuropa als in Entwicklungsländern.

  • Ausfall politisch orientierter Unterstützung in der Dritten Welt durch Ostblockländer wie durch westliche Industrieländer. Abbau der Militärhilfe (z.B. an Äthiopien oder an Pakistan).

  • Für einzelne Entwicklungsländer ergeben sich Lieferprobleme mit politisch motivierten Abnehmern in Ost und West (Kuba, Zucker).

  • Mittelfristig erwächst den Entwicklungsländern stärkere Konkurrenz im Industriebereich.

  • Mittelfristig ergibt sich jedoch eine gesteigerte Nachfrage nach Agrarprodukten (Kaffee, Tee, Kakao, Südfrüchte) in Osteuropa.

34Insgesamt dürften die negativen Effekte stärker auf die mittleren Entwicklungsländern und die Schwellenländer wirken, während die am wenigsten entwickelten Länder mit ihrem hohen Anteil staatlicher Hilfe wohl weniger getroffen werden, immer vorausgesetzt, dass sich die Verschiebungen innerhalb der staatlichen Hilfe zugunsten von Osteuropa (z.B. im US-Haushalt) in Grenzen halten.

35Die bis hierher gemachten Ausführungen sind weiter nichts als die logische Ableitung von Auswirkungen aus den bestehenden institutionellen und wirtschaftlichen Verflechtungen. Sie mögen wichtig sein, aber sie verblassen vor der überragenden Bedeutung, welche die Grundursache all dieser Veränderungen besitzt : das Ende des Kalten Krieges und der Konfrontation der Supermächte. Niemand ist in der Lage, die Konsequenzen der neuen politischen Grosswetterlage abzusehen. Durch die Neuorientierung der jahrzehntelang in den Kalten Krieg eingebundenen Kräfte werden in jeder Region der Erde die Karten neu verteilt. Neue Konfliktkonstellationen sind bereits im Nahen Osten zutage getreten. Irak, ein Land der Dritten Welt, hat sich auf eine Konfrontation mit der gesamten industrialisierten Welt eingelassen. Die unmittelbaren Auswirkungen auf die Situation der ärmeren Länder allein sind von grösster Tragweite. Hunderttausende von Gastarbeitern sind aus dem Konfliktgebiet in ihre Heimat zurückgeschickt worden. Ihre Einkommenstransfers nach Pakistan, Indien, Bangladesh oder den Philippinen bleiben aus, dafür belasten die sehr hohen Erdölpreise die Zahlungsbilanzen.

36Auch innerhalb der Länder sind Veränderungen eingetreten. Aufgrund der neuen Kräftekonstellationen haben autoritäre Regimes in verschiedenen Weltgegenden zunehmend Legitimationsprobleme. Ihre Unersetzlichkeit an den früheren Fronten des Kalten Krieges ist dahin. Mit dem Abbau der militärischen Hilfe schwindet die Autorität und verstärken sich die wirtschaftlichen Probleme. Aus den Machtverschiebungen entstehen nur zu oft Wirren und Kämpfe, und es ist zweifelhaft, ob sich am Ende demokratischere Gesellschaftsformen durchsetzen werden (Liberia, Äthiopien). Was sich zunächst ergibt, sind Leiden und neue soziale Lasten, vor denen die Frage nach wirtschaftlichen Auswirkungen der Osthilfe als belanglos erscheint.

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Abbildungsverzeichnis

Titel Tabelle 1. Angaben über finanzielle Verpflichtungen und Hilfeversprechen (1) für die osteuropäischen Länder und Kapitalanteile ander Europaïschen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE), in Mio Ecu. (Stand vom 30. Oktober 1990)
Beschriftung * Feste Verplichtung oder Versprechen, ohne Angabe der Beträge.1) Ohne Berücksichtigung neuer Verpflichtungen, meist ohne Bestimmungsangabe in Höhe von 2.684 Mio Ecu.2) ausschliesslich humanitäre Hilfe.3) mit Polen : insgesamt 47 Mio Ecu.
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Titel Tabelle 2. Angaben über finanzielle Verpachtungen und Hilfeversprechen für die osteuropäischen Länder, nach Berelchen, in Mio Ecu
Beschriftung 1) Die gesamten Verplichtungen pro Land schliessen Beträge ein, die nicht nach Bereichen aufgeschlüsselt sind.2) ausschliesslich humanitäre Hilfe.
Abbildungsnachweis Quelle : (Vgl Tabelle 1).
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Zitierempfehlung

Papierversionen:

Alexander Melzer, „Nord/Ost versus Nord/Süd“Schweizerisches Jahrbuch für Entwicklungspolitik, 10 | 1991, 223-234.

Online-Version

Alexander Melzer, „Nord/Ost versus Nord/Süd“Schweizerisches Jahrbuch für Entwicklungspolitik [Online], 10 | 1991, Online erschienen am: 13 April 2013, abgerufen am 18 Februar 2025. URL: http://0-journals-openedition-org.catalogue.libraries.london.ac.uk/sjep/1218; DOI: https://0-doi-org.catalogue.libraries.london.ac.uk/10.4000/sjep.1218

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Autor

Alexander Melzer

Oekonom, Stiftung Syntropie, Liestal

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