Einführung
Volltext
1Seit nunmehr zehn Jahren berichtet unser Jahrbuch über die wesentlichen Ereignisse und Tendenzen der Beziehungen zwischen der Schweiz und der Dritten Welt und analysiert sie. Im abgelaufenen Jahrzehnt, das wir als aufmerksame Beobachter interessiert verfolgt haben, ist in den Beziehungen zwischen den Industriestaaten und den Ländern der Dritten Welt ein tiefgreifender Wandel eingetreten. Diese Entwicklung lasst die neuen Bereiche erkennen, in denen sich die Zusammenarbeit wie auch die Konflikte zwischen dem Norden und dem Süden im nächsten Jahrzehnt abspielen werden.
2Die achtziger Jahre sind für eine Reihe von Entwicklungsländern eine Periode der Stagnation, beziehungsweise des wirtschaftlichen und sozialen Rückgangs gewesen. Dies wird anhand der herkömmlichen Indikatoren deutlich : In zahlreichen Ländern Afrikas und Lateinamerikas ist das Pro-Kopf-Einkommen zurückgegangen und die Qualität sowie der Zugang der Basisdienste haben sich für die Bevölkerungsmassen verschlechtert. Alte und neue Krankheiten bedrohen die Fortschritte, die seit rund dreissig Jahren im Gesundheitsbereich langsam, aber regelmassig erzielt wurden. In vielen Regionen haben sich ständige Unsicherheit und Gewalt eingenistet und ausgebreitet, was insbesondere grosse Migrationsbewegungen ausgelöst hat. Die Bevölkerung zahlreicher Gebiete der Dritten Welt hat allen Grund, unter das auslaufende Jahrzehnt einen Schlussstrich zu setzen und nach besseren Zeiten Ausschau zu halten.
3In der internationalen Entwicklungszusammenarbeit hat sich die Aufmerksamkeit der nationalen und internationalen Akteure vor allem auf die finanzielle Verwaltung der Schuldenkrise und auf die Strukturanpassung der Volkswirtschaften der überschuldeten Länder durch die Anwendung der Rezepte der freien Marktwirtschaft konzentriert. Trotzdem besondere Anstrengungen unternommen wurden, um den Anpassungsprozess der einkommensschwachen Länder zu finanzieren, sind die Nettofinanzflüsse in die Entwicklungsländer zwischen 1981 und 1988 insgesamt real um die Hälfte zurückgegangen. Zwar hat die öffentliche Entwicklungshilfe der DAC-Mitgliedsländer dieser Erosion standgehalten, jedoch liegt sie seit rund fünfzehn Jahren unverändert bei durchschnittlich rund 0,35 % des Bruttosozialprodukts. Somit hat die Verschlechterung der Lage vieler Entwicklungsländer nicht zur zusätzlichen Mobilisierung von Mitteln seitens der reichen Länder geführt.
4Dennoch haben die Nord-Süd-Beziehungen im zu Ende gehenden Jahrzehnt neue Dimensionen angenommen – wie beispielsweise die gemeinsame Verwaltung der Umwelt oder die verstärkten Völkerwanderungen aus dem Süden nach dem Norden zeigen. Damit ist die Debatte über die Interdependenz der Staaten aus den Kreisen der internationalen Diplomatie herausgetreten, um sich direkt an die gesamte Bevölkerung der Länder des Nordens zu richten. Damit ergeben sich auch neue und dringende Gründe für eine Erweiterung und Vertiefung der internationalen Entwicklungszusammenarbeit.
5So haben die Länder des Nordens grosses Interesse, rasch die Anwendung neuer, weniger umweltschädlicher Technologien in den Entwicklungsländern zu fördern, wenn sie vermeiden wollen, dass die in ihren eigenen Ländern eingeführten Umweltschutzmaßnahmen an Wirksamkeit verlieren. Die neuen Migrationsbewegungen sind ihrerseits ein konkretes Anzeichen für die Verschlechterung der wirtschaftlichen und politischen Bedingungen breiter Bevölkerungsschichten in den Ländern des Südens. Nur eine sichtbare und anhaltende Umkehrung dieser Tendenzen wird eine Eindämmung der Flüchtling ströme ermöglichen. Diese Umstände erfordern, dass der internationalen Entwicklungszusammenarbeit neuer Antrieb verliehen wird, denn – welches auch immer die Zweifel sein mögen, die man ihr gegenüber äussern kann – es ist die einzige Art, eine globale Verwaltung dieser Probleme zu gewährleisten.
6In der Schweiz war die internationale Entwicklungszusammenarbeit in den achtziger Jahren insbesondere durch die langsame Anhebung des Volumens der öffentlichen Entwicklungshilfe im Hinblick auf das vom Bundesrat festgesetzte Ziel gekennzeichnet, den Durchschnitt der Hilfe der DAC-Länder zu erreichen. Dieses Ziel ist immer noch nicht verwirklicht worden. Die neuen Aufgaben, vor die sich die Entwicklungszusammenarbeit gestellt sieht, erfordern jedoch eine merkliche Steigerung der Hilfe der Schweiz. Denn neben den traditionellen Aktivitäten, die weitergeführt werden müssen, muss die schweizerische Entwicklungszusammenarbeit auch den Umweltproblemen mehr Ressourcen widmen – schon allein im Rahmen der neuen internationalen Programme, die im nächsten Jahrzehnt zweifellos geschaffen werden. Wie die übrigen europäischen Länder wird die Schweiz von der Fortführung der Programme zur Unterstützung Osteuropas betroffen sein. Schliesslich wird die Annäherung an die Europäische Gemeinschaft in politischer Hinsicht dazu führen, dass sich die Schweiz auch in diesem Bereich den europäischen Verhältnissen besser anpasst. In der Tat überschreitet die öffentliche Entwicklungshilfe aller EG-Mitgliedsländer im Verhältnis zum BSP diejenige der Schweiz um mehr als 50 %.
7Daher kann man im Laufe der nächsten Jahre mit grosser Wahrscheinlichkeit eine Ausweitung der schweizerischen Entwicklungszusammenarbeit erwarten. In diesem Zusammenhang wird unser Jahrbuch weiterhin sein Ziel verfolgen, allen interessierten Kreisen die grundlegenden Informationen und Analysen über die Beziehungen der Schweiz zur Dritten Welt zur Verfügung zu stellen.
8Dementsprechend wurde auch der diesjährige Teil « Analysen und Stellungnahmen » gestaltet : er beginnt mit einer Artikelreihe über ein sehr aktuelles Thema, nämlich den Beitritt der Schweiz zu den Breton-Woods-Institutionen. Wie das vom Bundesrat eingeleiteter Verfahren auch immer ausgeht, so ist 1991 ein Jahr, in dem über die Zukunft unserer Beziehungen zum Internationalen Währungsfonds und zur Weltbank nachgedacht und diskutiert werden muss. In diesem Sinne veröffentlichen wir eine Analyse von Pierre Languetin über die Beziehungen der Schweiz zum IWF und versuchen in einem weiteren Beitrag, die sehr vielfältige Zusammenarbeit darzulegen, die sich zwischen der Schweiz und der Weltbankgruppe und im besonderen mit der IDA entwickelt hat. Die obige Artikelreihe wird durch Stellungnahmen von Persönlichkeiten aus der Bundesverwaltung (Hans Ith), aus Bankkreisen (Peter Buomberger) und von seiten nichtstaatlicher Organisationen (Mario Carera und Urs Hänsenberger) ergänzt, welche die gesamte Palette der Haltungen zur Frage des Beitritts der Schweiz widerspiegeln. Wir hoffen, durch diese Beitrage die Debatte, die sicherlich stattfinden wird, zu bereichern.
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9Im weiteren behandeln wir mehrere Themen, die zweifelsohne ebenfalls auf der Tagesordnung der nationalen und internationalen Debatten in den neunziger Jahren stehen werden :
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Mit der Veröffentlichung eines Artikels von Alexander Melzer über die Zusammenarbeit der Schweiz mit den osteuropäischen Ländern wollen wir diese Staaten keineswegs mit den Entwicklungsländern gleichsetzen. Jedoch wirft ihr Erscheinen auf der Bühne der internationalen Zusammenarbeit zahlreiche theoretische und praktische Probleme auf, was die Ähnlichkeiten und Unterschiede ihrer Strukturanpassung mit derjenigen der Entwicklungsländer und die Eignung der Instrumente der Nord-Süd-Zusammenarbeit für die neue West-Ost-Zusammenarbeit betrifft. Dies ist ein Thema, das wir sicherlich im Rahmen dieses Jahrbuchs weiterverfolgen werden.
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Die Schweiz ist eines der wichtigsten Ausfuhrländer industrieller Technologie, und trotzdem ist dies ein Gebiet, auf dem die schweizerische Entwicklungszusammenarbeit bisher relativ beschränkt gewesen ist. Rolf Weder stellt die Ergebnisse seiner Forschungen über die neuen Formen des Technologietransfers vor und kommentiert die Rolle, welche die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit spielen konnte, um den Zugang der emkommensschwachen Länder zu Technologien, die ihren Bedürfnissen angepasst sind, zu erleichtern. Dies ist eine Art der Zusammenarbeit, die im Umweltbereich eine beträchtliche Ausdehnung annehmen könnte.
10Schliesslich veröffentlichen wir eine Betrachtung von Rudolf Högger, welcher vorschlägt, die eindimensionale Vision der Entwicklung zugunsten eines neuen Paradigmas aufzugeben, das den Reichtum und die Komplexität des Austausches und des sozialen Wandlungsprozesses beim Einzelnen wie auch bei der Gemeinschaft integriert.
11Neben diesen Artikeln, für die die Verfasser allein verantwortlich sind, enthält das Jahrbuch Schweiz – Dritte Welt 1991 wieder folgende Rubriken :
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eine Jahresübersicht über die Ereignisse auf bilateraler sowie multilateraler Ebene im Bereich der Beziehungen zwischen der Schweiz und der Dritten Welt, für die Berichtszeit von Oktober 1989 bis September 1990. Diese Übersicht wird durch eine Chronologie ergänzt.
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ein Literaturverzeichnis der seit der Erstellung des Jahrbuchs 1990 erschienenen Unterlagen, Artikel und Werke über die Beziehungen der Schweiz zur Dritten Welt, sowie eine Auswahl von in der Schweiz über Entwicklungsprobleme veröffentlichten Texten ;
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die letzten erhältlichen Statistiken über den Handel, die Finanzflüsse und die öffentliche Entwicklungshilfe der Schweiz ;
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ein Sachregister, das die Jahresbericht und die Chronologie umfasst.
12Ich möchte meinen Kolleginnen und Kollegen vom Redaktionskomitee des Jahrbuchs Schweiz – Dritte Welt meine Dankbarkeit und Bewunderung für die umfangreiche und sorgsame Arbeit aussprechen, mit der sie die Masse an Informationen für das Jahrbuch zusammengetragen, analysiert, übersetzt und präsentiert haben. Mein herzlicher Dank geht auch an die Autoren der in diesem Jahrbuch veröffentlichten Artikel, die unserer Einladung in spontaner Weise Folge geleistet haben. Schliesslich möchte ich den Fachleuten der Bundesverwaltung und der Hilfswerke besonders danken, ohne die wir die von uns veröffentlichten Angaben nicht hätten zusammentragen und überprüfen können. Selbstverständlich übernehmen wir jedoch die Voile Verantwortung für eventuelle Irrtümer, die unserer Aufmerksamkeit entgangen sind.
Zitierempfehlung
Online-Version
Jacques Forster, „Einführung“, Schweizerisches Jahrbuch für Entwicklungspolitik [Online], 10 | 1991, Online erschienen am: 13 April 2013, abgerufen am 15 Februar 2025. URL: http://0-journals-openedition-org.catalogue.libraries.london.ac.uk/sjep/1195; DOI: https://0-doi-org.catalogue.libraries.london.ac.uk/10.4000/sjep.1195
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