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Lectures croisées de l’actualité (recensions françaises et allemandes)

Denise Borlée & Hervé Doucet (Hg.), La Plaque Photographique. Un Outil pour la Fabrication et la Diffusion des Savoirs (XIXe–XXe Siècle). Leonie Beiersdorf, Georg Ulrich Großmann & Pia Müller-Tamm (Hg.), Licht und Leinwand. Fotografie und Malerei im 19. Jahrhundert

Béatrice Adam et Markus A. Castor
p. 193-201
Référence(s) :

Denise Borlée & Hervé Doucet (Hg.), La Plaque Photographique. Un Outil pour la Fabrication et la Diffusion des Savoirs (XIXe–XXe Siècle), Sttrasbourg : Presses Universitaires de Strasbourg, 2019, 476 Seiten

Leonie Beiersdorf, Georg Ulrich Großmann & Pia Müller-Tamm (Hg.), Licht und Leinwand. Fotografie und Malerei im 19. Jahrhundert, Berlin : Deutscher Kunstverlag, 2019, 288 pages

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Crédits : Presses universitaires de Strasbourg / Deutscher Kunstverlag

La Plaque Photographique

1Wenn aus heutiger Sicht die Omnipräsenz von Fotografien selbstverständlich erscheint, stehen die Fotoplatten, denen sich die Publikation La Plaque Photographique widmet, am Anfang dieser Entwicklung. Den Autor·innen des Sammelbandes geht es dabei nicht bloß um die Erschließung der Bestände einiger Institutionen, deren Fotoplatten nach dem Dämmerschlaf in der Dunkelkammer des Vergessens bis heute wenig bekannt sind. Ihre Wiederentdeckung ist vielmehr Anlass für eine Kulturgeschichte des Mediums. Dies aus der Sicht der Forschungsinteressen der Herausgeber·innen (Urbanistik, mittelalterliche Architektur und Skulptur) zu unternehmen, deren Gegenstände selbst wiederum Thema der Fotografie waren, hinterlegt dem Vorhaben auch methodische Vorteile. Die Publikation arbeitet insbesondere die vielseitige Rolle der Fotoplatten für Lehrstätten heraus und betont ihren Wert als Mittel einer Historiografie der Künste, der Archäologie und der Naturwissenschaften. Der Band ist zugleich ein Ergebnis eines im Rahmen des Laboratoriums ARCHE (Arts, Civilisations et Histoire de l’Europe) veranstalteten Straßburger Kolloquiums.

2Mit der Devise der Publikation, »La plaque de verre remise en lumière« (S. 7), gliedert sich das Buch in vier Teile, wobei verschiedene Anwendungsbereiche ausgemacht werden können: Zum einen tritt das neue Medium als spektakuläres pädagogisches Instrument auf allen Ebenen der Lehre im universitären und außeruniversitären Bereich auf. Als Vorlage für die Ausbildung von Zeichner·innen aber auch in den Manufakturen übernimmt die Fotografie eine Funktion, die zuvor Domäne von Zeichnung und Druckgraphik war. Zum anderen wird ihr Zweck als Objekt der Erinnerung in den Blick genommen, einschließlich einer Funktionalisierung als politisches Medium. Der Einsatz der Platten auf dem Kunstmarkt und in der Industrie wird als drittes ›Einsatzgebiet‹ untersucht.

  • 1 Mehr über die Technik sowie praktische Anwendungen zu verschiedenen historischen fotografischen Dru (...)
  • 2 Für Deutschland mag man die Fotothek des Instituts für Kunst und Bildgeschichte der Humboldt-Univer (...)

3Es ist besonders verdienstvoll, im ersten Beitrag auf die Verfahren und die Geschichte der Technik einzugehen.1 Die Internationalität des Mediums wird herausgearbeitet, etwa wenn in Philadelphia die Brüder Langenheim 1850 ein Verfahren zum Auftrag einer Albuminschicht entwickelten und ihre Hyalotypien als Patent anmeldeten. Die Fotoprojektionen Ende des 19. Jahrhunderts boten die Möglichkeit des »apprendre en s’amusant« (S. 35), womit die Fotoplatten in der Pädagogik die vermeintliche Objektivität des Mediums mit dem Charakter des Spektakels verbanden, so Nathalie Boulouch. Die Kapitel über die Verwendung von Fotoplatten im Musée pédagogique sowie in der Cinémathèque de la Ville de Paris arbeiten ebenfalls den Aspekt der Lehre durch das Bild heraus. Die Thematisierung der hier in den Fokus genommenen »plaques photographiques« macht schnell deutlich, wie sehr deren Bewertung als Erkenntnismittel vom spezifischen Kontext ihres Gebrauchs abhängt. Um 1800 entstand im Rahmen der Ausbildung an den ersten archäologischen Instituten das Bedürfnis nach Lehrmitteln. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ergänzte dann die Fotografie das zuvor entwickelte Instrumentarium von Bibliotheken und Gipssammlungen. Und bereits ab 1880 wurde die Fotoplatte mit Hilfe eines Projektionsgeräts, einer Laterna magica, hierfür eingesetzt. Diese erlaubte es Bilder miteinander zu vergleichen oder Ausschnitte zu fokussieren, was die Lehre der Kunstgeschichte revolutionierte und den Beginn der Prägung des Faches durch die eigenen Bilderspeicher darstellte.2

4Wie bereits Boulouch betont ebenso Anne Quillien im folgenden Artikel den demokratischen und sozialen Aspekt der Projektionsveranstaltungen, die fortan in mehreren Institutionen stattfanden, sich an breite Bevölkerungsschichten richteten und oftmals für Männer und Frauen unentgeltlich zugänglich waren. Die Autorin bezeichnet die Fotoplatten zudem in ihrem Realismus, welcher dank der Vergrößerung und der Beleuchtung erzeugt wird, inmitten der industriellen und kolonialen Epoche als »fenêtre sur le monde« (S. 39).

5Um die Rolle der Fotoplatten und Projektionen für die Lehre zu betrachten, werden zudem Archive von universitären sowie außeruniversitären Einrichtungen beispielhaft vorgestellt. So wurden die Fotoplatten von 1890 bis in die 1970er Jahre, als sie von farbigen Diapositiven ersetzt wurden, an der Université de Bordeaux für Projektionen benutzt, die im Amphitheater präsentiert wurden. Thematisch auf Kunstgeschichte und Archäologie fokussiert, bildeten die Platten gemeinsam mit Abzügen auf Albuminpapier und Gipsformen ein reiches Archiv des Musée archéologique de l’Université de Bordeaux und ergaben eine »véritable synthèse des savoirs en constante évolution« (S. 90). Die Arbeit des Architekten Édouard Arnaud, der in den Jahren 1921 bis 1934 an der École nationale supérieure des Beaux-Arts de Paris unterrichtete, wird als Beispiel für eine Transformation der Lehre, so wie sie heute allgegenwärtig ist, angeführt. Antonio Brucculeri beschreibt hier die damalige Lehre von Techniken des Bauens mit Hilfe von Fotoplatten. Ähnlich schildert es auch Marianne Altit-Morville in ihrem Beitrag über die von Émile Espérandieu gegründete École Antique in Nîmes, an der das Zeigen von Bildern der Archäologie in Konferenzen mit dem Besuch von Monumenten verknüpft wurde. Der Einblick in die Anwendung der Fotoplatten in den Universitäten bezeugt ihren vielseitigen, interdisziplinären Einsatz in Naturwissenschaften und Bildenden Künsten.

6Das Buch sieht sich in Kontinuität mit der seit einigen Jahren begonnenen und nun vermehrt einsetzenden Forschung zum »patrimoine universitaire«, die nun Fragen nach den Räumen der Ausbildung und Forschung stellt, etwa im Hinblick auf deren Architekturen, aber auch als kollektive Rezeption eines Mediums, das den Blick des Individuums, der Studierenden und letztlich der Nation formierte. Als Beispiel hierfür steht der Artikel der Herausgeber·innen, der sich mit dem Straßburger Bestand beschäftigt, der als einer der bedeutsamsten in Frankreich gilt. Die Sammlung ist im Kontext der Annexion durch das Deutsche Reich zu verstehen, in dessen Zuge sie 1872 gegründet wurde, wobei sie zunächst vor allem zu Propagandazwecken der Germanisierung diente. Am Beispiel von zwei Kursen stellen die Herausgeber·innen heraus, dass die Bildauswahl mit der Erforschung deutscher Architektur eine politische Aufgabe erfüllte. Tommaso Ranfagni untersucht die Instrumentalisierung der Fotoplatten als Propaganda im Fonds de l’Institut français de Florence und legt damit ein weiteres Kapitel zu den politischen Intentionen des Einsatzes der Fotoplatten vor. Das 1907 von Julien Luchaire gegründete Institut entwickelte sich im Ersten Weltkrieg von einer Kulturinstitution zu einem nationalistischen Propagandainstrument, zwischen beiden lateinischen Völkern, Italien und Frankreich, sowie dem deutschen Imperialismus. Hier wird nochmals deutlich, wie mit Hilfe der Fotoplatten die Macht der Bilder gepaart mit Worten und Lehre als Propagandamaterial dienen konnte. Delphine Diaz erweitert den europäischen Horizont und regt zu einer Betrachtung des Blicks auf die Welt zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert an. Anlass dazu ist der mit mehr als 1800 Glasplatten bestückte Fonds der Fotoplatten des Lycée Colbert in Paris, der kürzlich wiederentdeckt wurde und Ansichten von Europa und seinen Kolonien sowie Abbildungen aus aller Welt beherbergt.

7Ein weiterer verblüffender Erkenntnisgewinn wird mit dem virtuellen Durchgang durch das zerstörerische 20. Jahrhundert erreicht, zumal der Verlust unzähliger Monumente die Fotografie als Dokumentation sowohl der Verheerungen als auch der verlorenen Denkmale betrifft. Während des Ersten Weltkriegs benutzt Jean Brunhes in seinen Kursen im Collège de France Fotoplatten, um Territorien in den Jahren des Krieges zu erkunden. Mit den Ansichten zerstörter Gebiete wird erneut die patriotische Dimension von Bildern deutlich, wie Nicolas Ginsburger und Anne Sigaud eindrücklich beschreiben.

8Neben der Rolle der Fotoplatten in Forschung, Lehre und politischer Instrumentalisierung widmet sich die Publikation dem Aspekt ihres Wirkens in der Industrie und auf dem Kunstmarkt. Christian Kempf verweist auf die Marktgesetzlichkeiten, denen die Fotoplatten unterlagen, und schildert, wie etwa die Firma des Fotografen Adolph Braun trotz umfangreicher Bildbestände mit ihrem Fokus auf Postkarten und nicht auf Projektionsansichten eine bedeutsame Marktposition verspielte. Die Firma Braun erkannte jedoch eine andere Marktlücke und spezialisierte sich auf Publikationen fotografischer Alben mit Blumen. Denn seit dem 18. Jahrhundert bedienten sich die Textilindustrie und die Ausbildungsstätten von Zeichner·innen der botanischen Malerei (hier ist vor allem Pierre-Joseph Redouté zu nennen), so Aziza Gril-Mariotte. Die von Patrice Guérin studierten Kataloge der 1782 gegründeten ersten und wichtigsten Firma Frankreichs in der Sektion Optik und Projektionen, der Maison Molteni, geben einen Einblick in die systematische Kollektion, welche sich über die Bereiche Wissenschaft, Astronomie und Geografie erstreckt. Der Fonds von Fotoplatten der beiden Antiquare Georges-Joseph und Lucien Demotte, heute im Musée du Louvre, wird als »clé d’entrée« (S. 350) für einen Einblick in ein großes Kunsthaus zu Beginn des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Dieser Art Sammlungen kommt eine doppelte Funktion zu. Sie dienen sowohl als Archivmaterial und Dokumentation, wie auch als Vermittler zwischen Verkauf und Werbeobjekten, so Christine Vivet-Peclet.

9Was die Publikation wertvoll macht, ist das Herausarbeiten des Sachverhalts, wie sehr das Wissen um den Gebrauch des Mediums – der in einigen Fällen auf die Dokumentation des Realen der erfahrbaren Lebenswelt, in anderen aber zunehmend auf die Darstellung des für uns Unsichtbaren zielt – zu einer Erkenntniskritik der Fotografie führt. Wie so oft liegt vor jeder funktionalen Indienstnahme das vermeintlich Zweckfreie, das Experimentelle der Erfindung, die wie die Camera obscura das Moment der Überraschung mit sich führt. Die sich in diese Tradition optischer Verblüffung einschreibende Fotografie als ›magie lumineuse‹ bedingt zugleich, dass die hier verdeckten magischen Kräfte genau diejenigen sind, die zum Stimulus wissenschaftlicher Reflexion anhand der Techné des Fotos werden, ein Aspekt, der im Buch vielleicht zu kurz kommt. Doch die Herausgeber·innen benennen diesen ›Spielcharakter‹ nicht nur aus der Perspektive der wissenschaftlichen Entdeckungen, sondern eben auch für das Lehren und Lernen, womit das docere et delectare des 18. Jahrhunderts seine Fortschreibung findet; gleichsam als bildliche Ars poetica Aufklärung bedeutet.

  • 3 Vgl. zur aktuellen Diskussion: Lena Bader, Martin Gaier und Falk Wolf (Hg.), Vergleichendes Sehen, (...)
  • 4 Hierzu gibt es erste Projekte, etwa das Vorhaben des Deutschen Archäologischen Institut (DAI) in Be (...)

10Das Vorlesungsverzeichnis der Universität Straßburg verzeichnete eigens die Lehrveranstaltungen unter Einsatz der bildgebenden Technik als Ausweis von Modernität. Doch die Nutzung des Skioptikons (ab etwa 1880) und des Epidiaskops geht zugleich mit dem Ausklammern des Spielcharakters einher und führt zu einer Verengung. Es geht um Maßstäblichkeit, Vergrößerung und vor allem um die Doppelprojektion als methodische Konfiguration, die mit der Rede vom vergleichenden Sehen bis heute diskutiert wird.3 In Zeiten von Distanzlehre und scheinbar frei verfügbaren, vorkonfektionierten Bildern ist der Blick auf das erste, ein großes Publikum erreichende bildgebende Medium der Wissenschaften aufklärend.4 Denn der alles entscheidende Wandel zur Digitalisierung hat zu einem Aussortieren analoger Bilder geführt, und somit stellt die seit einigen Jahren zu beobachtende Rückwendung zum analogen Sehen mehr als Nostalgie dar. Mit der Lektüre der Beiträge wird die Notwendigkeit deutlich, diese lange übersehenen Bilderschätze zum Sprechen zu bringen, die Bilder also den Worten zuzuordnen, deren Diskurs sie wesentlich mitbestimmt haben.

11Haben wir es in diesem Buch mit einer soziohistorischen Perspektive auf fotografische Sammlungen und deren Gebrauch, besonders für das Formieren unseres politischen und wissenschaftlichen Blicks auf Kunst und die Welt, zu tun, mag man mit dem Ausstellungskatalog Licht und Leinwand. Fotografie und Malerei im 19. Jahrhundert von einer Engführung sprechen, die sich den kunstimmanenten, ästhetisch zu fassenden Werkcharakteren in Fotografie und Malerei in ihrer Wechselwirkung zuwendet.

Licht und Leinwand

  • 5 Zu nennen wäre die famose Ausstellung von Weston Naef und Suzanne Boorsch, The Painterly Photograph(...)

12Die als Kooperation mit dem Germanischen Nationalmuseum Nürnberg in der Kunsthalle Karlsruhe präsentierte Ausstellung wurde von dem von Leonie Beiersdorf, Georg Ulrich Großmann und Pia Müller-Tamm herausgegebenen Katalog erweiternd begleitet. Dem Anspruch nach erfüllt der Ausstellungskatalog ein Desiderat, das nicht zuletzt die Kunstgeschichte als Disziplin in ihrer methodischen und historiografischen Reflexionsarbeit berührt. Der vorliegende Band zielt mit der Frage nach der Fotografie in ihrem Verhältnis zur Malerei auf ein Kernthema medialer Zwischensphären, deren Pole das technische Mittel und die Hochkunst markieren. Es scheint, als habe die Kunstwissenschaft diese Fragen spät gestellt, doch legen die Beiträge schnell offen, wie früh die Diskussion um Kunstwürdigkeit und Abbildungskapazitäten der Fotografie einsetzte.5

13Der vorliegende Katalog führt das konkrete künstlerische Schaffen und die Werke sowohl mit einer historischen Einbettung als auch mit einer ästhetisch reflexiven Perspektive zusammen. Dies hat den Vorteil, die für die Bedeutung der Fotografie essenzielle und schnell fortschreitende Innovation als Aspekt zu fassen, der auch die Dimension rund um die Frage nach dem Kunstwerkcharakter über die gesamte Strecke der Auseinandersetzung tangiert. Diese Balance zwischen Autonomie und Befreiung einerseits sowie der gegenseitigen Bedingtheit beider Medien andererseits zieht sich durch den gesamten Band. Er bietet damit auch eine kleine Geschichte des Kunstwerkbegriffs und von dessen Abhängigkeit von dem, was die Hand dem Werk hinzufügt. Mit dieser Frühgeschichte, die nach dem Vermögen des Künstler·innen-Individuums fragt, tritt eine verblüffende Relevanz des Themas hervor, denn die technische Explosion bis heute, im Durchgang durch die Konzeptkunst, führte mehr denn je zu einem Verwischen ontologischer Grenzen.

14Die Autor·innen tragen der sogenannten Realismusdebatte unter einer Vielzahl von Perspektiven Rechnung. Aus Sicht von Künstler·innen, die um 1900 im System der etablierten Gattungen arbeiteten, war die Fotografie dokumentarisch und ein Erinnerungsmedium, das die Welt im Augenblick der Belichtung festhält. Es ist das Verdienst des Ausstellungskatalogs, die ungleich komplexere Geschichte als Interdependenz der Gattungen von Malerei und Fotografie zu untersuchen, um damit die Geschichte unserer visuellen Kultur zu erhellen.

15Es ist bezeichnend, wenn sich mit dem Anbrechen der Moderne und dem Ausbrechen der Malerei aus dem Verdikt eines Realismus die Fotografie anschickt, einen Experimentalcharakter zu entwickeln. Zuvor war das Verhältnis der Protagonist·innen ambivalent: Rein ökonomisch machte einerseits die fotografische Produktion derjenigen der bildenden Künstler·innen die Absatzmärkte streitig, andererseits bediente sich die Mehrzahl der Maler·innen der Fotografie als eines nicht selten versteckten Hilfsmittels. Zugleich aber schärfte genau diese Praxis den Blick für das Übersteigen der ›bloßen‹ Wiedergabe von Gesehenem.

16Der Katalog strukturiert sich aus Beiträgen, die anhand der kanonischen Gattungen der Malerei, die auch für die Fotografie Leitinstanzen bleiben, sowohl eine breit gelagerte Übersicht ermöglichen als auch im Detail die Problemlagen exemplarisch aufzeigen. Die Atelierpraxis, die Leonie Beierdorf am Beispiel der Bismarck-Portraits von Franz von Lehnbach offenlegt und in eine politisch-soziale Perspektive einbettet, verweist auf die Frage nach der Bedeutung der Anwesenheit des Portraitierten. Beiersdorf macht auf die Schwäche der Rede vom schamvollen Verstecken des Hilfsmittels, der Fotografie, aufmerksam. Insbesondere was die Darstellung des Nackten betrifft, diente sie – als fotografische Mustersammlung für den Atelier- und akademischen Betrieb – als Ersatz für das fern des Montmartre immer noch teure, bisweilen anrüchige Model. Die Autorin veranschaulicht am Beispiel von Charles Nègre und Gustave le Gray konkret, wie die Fotograf·innen selbst, mit ihrer Orientierung nach Sujet, Bildaufbau und Inszenierung diese Art von ›Zusammenarbeit‹ forcierten.

17Barbara Oettls Beitrag zur »zweiten Realität« (S. 33) der Fotografie zielt auf die Frage nach dem Spannungsfeld von Wirklichkeitswiedergabe und Überhöhung des Sichtbaren. Der Autorin geht es vor dem Hintergrund der scheinbar unverzüglichen Realitätswidergabe auf Knopfdruck (als Sieg der Fotografie) um die Distanz zur Aura des Werkes der Bildenden Kunst und das Menetekel der Reproduzierbarkeit (als Sieg der Malerei). Sie diskutiert die Frage der Beseelung des Werkes durch die Hand – ein fast sakraler Akt, um abstrakte, höhere Werte zur Erscheinung zu bringen. An Künstlern wie dem Fotografen Oscar Gustave Rejlander und dem Maler Gregory Crewdson zeigt Oettl auf, »wie sich fingierte Illusionen scheinbar nahtlos in unseren Alltag einfügen« (S. 33). Oettl beschreibt, wie mit den Fortschritten der Apparatur und der Erfindung des Zelluloids eine Demokratisierung des Mediums einherging. Diese Entwicklung scheint zwar die Vorbehalte nur noch verstärkt zu haben, trug zugleich aber auch zu einer Differenzierung von professioneller Fotografie und Massenmedium bei.

18Die harsche Kritik, die sich auf die Darstellung moralisch abstrakter Werte (es geht um Tugenden und Laster) mit den Mitteln des Naturalismus bezog, zielt im Kern auf die Problematik der Darstellung des nackten Körpers, der angeblich ohne heroische Überhöhung in der künstlerischen Arbeit auskommen musste. Das Phänomen der ›erschreckenden Nacktheit‹, die fernab medizinischer oder ethnologischer Anwendung zum Skandalon wird, wird in einem weiteren Beitrag von Ines Rödl zugespitzt.

19Die Herausgeber·innen verweben ihr historisch perspektiviertes Thema mit zeitgenössischer Fotografie, etwa den ›manipulativen‹ und in der Postproduktion ebenso mühsam bearbeiteten, wie Filmstills aufscheinenden Werken von Gregory Crewdson (Beneath the Roses). So gelingt es, Fragen nach der Bildontologie sowohl aus der Geschichte des Mediums als auch mit Blick auf eine medientheoretische Betrachtung zu erweitern.

20Die folgenden Beiträge beleuchten die klassischen Gattungen in ihrem Verhältnis zur Fotografie oder umgekehrt: Portrait, Akt, Landschaft, Blumenstilleben, Künstler·innen-Selbstportrait, ergänzt um Texte zur Natur als Studienthema, zu Chronofotografie, Optik und Unschärfe. Hervorzuheben ist dabei immer der als sinnvolles Präliminarium zur Fotogeschichte berücksichtigte Rückgriff auf die Bildtraditionen.

21Wie sich die gegenseitige Befruchtung der Medien vor der Tradition der mythologischen Malerei, etwa der Venusdarstellungen, darstellt, zeigt Ines Rödl anhand einiger Gemälde von Courbet und Delacroix sowie an Manets Olympia. Es scheint, als ob die Fotografie nach anfänglicher Imitation der malerischen Konventionen sich früh schon etabliert hatte und dann selbst wiederum zum Stimulans für die malende Avantgarde wurde. Das in der Darstellung real existierende Modell übertönt alle kunstfertige Überhöhung durch Pinsel und Farbe. Wenn es um die Kritik an solchen, meist aus niederem Milieu stammenden Modellen geht, dann hat dies selbst eine, hier nicht angesprochene Vorgeschichte, mit den an der Akademie des 18. Jahrhunderts geführten Diskussionen um Individualität und Idealität, Natur und Kunstvorbild.

  • 6 Linda Hentschel, Pornotopische Techniken des Betrachtens. Raumwahrnehmung und Geschlechterordnung i (...)

22Im Verlauf der Kunstgeschichte verliert sich zunehmend das pornografischen Zwecken dienende Bild, für welches die Modelle mit mythologischen Zutaten ausstaffiert wurden. Doch die Methode eines mit Bildutensilien dekorierten oder entschärften Bildes hat sich bis heute gehalten. Sie führte zu einer neuen Variabilität in Posen und Ausstattung, aber eben auch zu neuen Standards. Wir haben es also schon früh mit einer ausdifferenzierten Typologie der Aktfotografie zu tun. Sie trat je nach Zweck entweder etwa als Vorlage ohne Decorum, mit klassizistischer Ästhetik und als Fotografie mit Kunstanspruch auf, oder in den ersten Stereofotografien mit intimitätssteigernden und kostspieligen Virtualisierungen. Die Autorin bereitet hier wunderbar auf den Skandal um Manets Olympia vor und kann diesen auf diese Weise konkret festmachen. Der Beitrag schließt mit dem Aufzeigen des Paradoxons, man ist versucht zu sagen: der Verlogenheit des 19. Jahrhunderts, wenn es einerseits um die positivistische Durchdringung des Körpers, das florierende Geschäft mit dem Nackten und andererseits das moralinsaure Urteilen zum Schamgefühl und zur Verderbtheit geht. Aus feministischer Perspektive bringt die Autorin dies auf den Punkt: »Durch den männlichen Zugriff im Moment des Betrachtens charakterisiert sich das ›Sehen als Deflorationsakt‹« (S. 91), wie es bereits von der hier von Rödl zitierten Text von Linda Hentschel als »pornotopische Technik« des Sehens beschrieben wurde.6

23Es schließen sich Kapitel zur Landschaftsmalerei an, zum Entwicklungsschub der Pleinairmalerei und zum Phänomen gesuchter Unschärfe in der Fotografie, die John Leighton zur Steigerung der Bildwirkung empfiehlt. Maler·innen werden zu Fotograf·innen, wie etwa der Fotopionier Gustave le Gray. Die Industrialisierung hält Einzug in die Landschaft eines fotografischen Realismus, und neue Anwendungsbereiche in den Wissenschaften, in Sternwarten und Röntgenlaboren bedingen ein neues Experimentieren, das bis zu parawissenschaftlichen Bildern (Albert von Schrenk-Notzing, Photos de la pensée), ›direkten Belichtungen‹ aus dem Inneren von Körper und Seele und in der Kunstgeschichte zum Surrealismus führt.

24Die durchweg am historischen Faktum und mit den Exponaten argumentierenden Beiträge schließen mit einer Betrachtung von Franziska Kunze zum Künstler·innen-Selbstbildnis. Zunächst verhandelt sie mit Corinth, von Stuck und von Marées einige Beispiele, um das Thema des Künstler·innengenies zu umkreisen. Wie eine Bekräftigung ihres kreativen Schaffenspotentials erscheinen dann auch die Selbstportraits der Fotograf·innenkolleg·innen: das Selbstbildnis Frédéric Boissonas mit seiner Apparatur, die heute berühmten Beispiele von Stieglitz und Steichen, die komplexer vorzubereitenden Mehrfachbelichtungen für Gruppenbildnisse und Atelierbilder, bis hin zu den unerwartet früh aufkommenden Selfies, wie sie uns in Joseph Byrons weitwinkligen Selbstportraits aus den 1920er Jahren gegenübertreten.

25Das Verzeichnis der Exponate ist seltsamerweise alphabetisch nach den Namen der Autor·innen und nicht etwa chronologisch oder in Abfolge der Themenschwerpunkte strukturiert, auf eine Bibliografie wurde leider verzichtet. Es entschädigt uns eine nach technischen, ästhetischen und praktischen Kriterien wunderbare Bebilderung des Kataloges. Die Ausfaltung des Themas in dieser Vielzahl von Kapiteln folgt notgedrungen der Dramaturgie der Ausstellung, führt bisweilen zu einigen Redundanzen, aber durchdringt so die heute kaum mehr abschätzbare Bedeutung des neuen Mediums in all seiner Breite. Der Ausstellungskatalog verzichtet nicht auf eine theoretische und historische Einbettung des angegangenen Themas. Darüber hinaus macht er besonders in der fokussierten Auseinandersetzung mit den gezeigten Werken diesen multifokalen Blick zu einem Aha-Erlebnis für die Leserschaft. Sieht man einmal vom Fehlen der Frage nach dem fotografischen Bewegtbild, dem frühen Film ab, liegt hier ein Schlüsselwerk vor, das der Erforschung der Fotografie mit der Beleuchtung neuer Fragen und Problemfelder zahlreiche Wege weist.

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Notes

1 Mehr über die Technik sowie praktische Anwendungen zu verschiedenen historischen fotografischen Druckverfahren: Wolfgang Autenrieth, Neue und alte Techniken der Radierung und Edeldruckverfahren. Vom Hexenmehl und Drachenblut zur Fotopolymerschicht. Tipps, Tricks, Anleitungen und Rezepte aus fünf Jahrhunderten. Ein alchemistisches Werkstattbuch für Radierer, Krauchenwies: Wolfgang Autenrieth, Selbstverlag, 2020.

2 Für Deutschland mag man die Fotothek des Instituts für Kunst und Bildgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin nennen, deren Bildbestände ab etwa 1890 zusammen mit der Graphiksammlung und der Bibliothek eine Einheit bildeten, oder das 1913 von Richard Hamann begründete Bildarchiv Foto Marburg, deren Zeugnisse als Artefakte des eigenen Herkommens eine Erschließung in Ausstellungen, dessen Beforschung und seiner Darstellung erfahren.

3 Vgl. zur aktuellen Diskussion: Lena Bader, Martin Gaier und Falk Wolf (Hg.), Vergleichendes Sehen, Paderborn: Transkript, 2010; Matthias Bruhn, Gerhard Scholtz (Hg.), Der vergleichende Blick. Formanalyse in Natur und Kulturwissenschaften, Berlin: Dietrich Reimer Verlag, 2017 sowie Johannes Grave, Joris Corin Heyder, Britta Hochkirchen (Hg.), Sehen als Vergleichen. Praktiken des Vergleichens von Bildern, Kunstwerken und Artefakten, Bielefeld: Bielefeld University Press, 2020.

4 Hierzu gibt es erste Projekte, etwa das Vorhaben des Deutschen Archäologischen Institut (DAI) in Berlin, in Kooperation mit dem Institut Français d’Archéologie Orientale und dem ägyptischen Antikendienst, das sich der Registrierung und Sicherung von über 10.000 alten Fotoplatten des ägyptischen Antikendienstes mit Aufnahmen islamischer Bauten widmen. Und selbstverständlich führt ein erneuter Blick auf die alten Bestände auch auf dem Feld der Naturwissenschaften zu verblüffenden Erkenntnisgewinnen, wie etwa die Bestätigung der Allgemeinen Relativitätstheorie mit den seit einem Jahrhundert vergessenen Fotoplatten des Kopenhagener Niels Bohr Instituts und den Aufnahmen des Jupiter und der Sonnenfinsternis (1896/1919).

5 Zu nennen wäre die famose Ausstellung von Weston Naef und Suzanne Boorsch, The Painterly Photograph, 1890-1914 des Department of Prints and Photographs am New Yorker Metropolitan Museum of Art von 1973, die Alfred Stieglitz’ Fotografiesammlung zeigte. Für Deutschland ist die bereits zuvor, 1964 im Essener Folkwangmuseum und dann in Hamburg gezeigte Schau, Kunstphotographie um 1900 zu nennen. Und zuletzt zeigte die Pariser Orangerie das Werk von Heinrich Kühn (Heinrich Kühn, À la recherche de la photographie parfaite, Wien, Paris u. Houston 2010/11), an einem Ort, dessen Zwillinge von Orangerie und Jeu de Paume in den Tuileries wie eine gebaute Befragung das Spannungsverhältnis von Malerei und Fotografie institutionalisieren. Aktuell hat solcherart Arbeit eine gesteigerte Brisanz, wenn es derzeit um die Frage des angemessenen Ortes für den Verein eines Deutschen Fotoinstituts e.V. geht.

6 Linda Hentschel, Pornotopische Techniken des Betrachtens. Raumwahrnehmung und Geschlechterordnung in visuellen Apparaten der Moderne, Marburg: Jonas Verlag, 2001.

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Béatrice Adam et Markus A. Castor, « Denise Borlée & Hervé Doucet (Hg.), La Plaque Photographique. Un Outil pour la Fabrication et la Diffusion des Savoirs (XIXe–XXe Siècle). Leonie Beiersdorf, Georg Ulrich Großmann & Pia Müller-Tamm (Hg.), Licht und Leinwand. Fotografie und Malerei im 19. Jahrhundert »Regards croisés, 11 | 2021, 193-201.

Référence électronique

Béatrice Adam et Markus A. Castor, « Denise Borlée & Hervé Doucet (Hg.), La Plaque Photographique. Un Outil pour la Fabrication et la Diffusion des Savoirs (XIXe–XXe Siècle). Leonie Beiersdorf, Georg Ulrich Großmann & Pia Müller-Tamm (Hg.), Licht und Leinwand. Fotografie und Malerei im 19. Jahrhundert »Regards croisés [En ligne], 11 | 2021, mis en ligne le 01 juillet 2023, consulté le 15 octobre 2024. URL : http://0-journals-openedition-org.catalogue.libraries.london.ac.uk/regardscroises/458

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Béatrice Adam

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