Metamorphose des Primats des Praktischen: Kant, Fichte, Schopenhauer, Nietzsche
Resumen
O presente artigo parte de uma reflexão acerca da Revolução Copernicana de Kant e da função de sua terceira crítica na necessidade da Razão afirmar o seu primado de um ponto de vista prático. Além de investigar o significado do conceito de liberdade no desenvolvimento da Doutrina da Ciência de Fichte como pulsão e como capacidade de intervir no mundo, a presente pesquisa considera a função desta interpretação em uma possível interpretação do pensamento de Schopenhauer como um novo 'sistema da liberdade', caraterizado pela transição da ideia de liberdade como libertação à da libertação como redenção.
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1. KANT. DER PRIMAT DER PRAKTISCHEN VERNUNFT
1.1 Zwei Revolutionen
1 Die Kritik der reinen Vernunft ist berühmt dafür, dass sie eine "kopernikanische Revolution" in der Philosophie eingeleitet hat: in der Konstitution der Erfahrung sind es unsere kognitiven Strukturen, die der Natur ihre Gesetze vorschreiben; letztere werden nicht, wie vom Empirismus angenommen, passiv durch Erfahrung gelernt.
- 1 Cfr. Höffe, 2007, §. 2.1
2 Es ist jedoch bekannt, dass Kant diese Revolution bereits zehn Jahre zuvor abgeschlossen hatte, d.h. mit dem Werk, das traditionell seine kritische Philosophie einleitet, der Dissertatio De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis (1770). Dementsprechend wurde dieses auch weitgehend in der transzendentalen Ästhetik aufgegriffen. Selbstverständlich muss man anerkennen, dass Kants "kopernikanische Revolution" erst dank der Erweiterung seiner Begründung auf das a priori unserer Begriffen und der darauffolgenden transzendentalen Deduktion in der Kritik der reinen Vernunft zu ihrer Vollendung gekommen ist; doch der revolutionäre Gestus war schon lange vollbracht, und darauffolgend sollte man eher von der Anfertigung solider Institutionen sprechen, die in der Lage sind, eine revolutionierte Erfahrungswelt zu regieren.1
3 Es gibt jedoch einen zweiten Aspekt, aufgrund dessen die Kritik der reinen Vernunft als durchaus revolutionär gelten kann, und zwar die Festsetzung des Primats der praktischen vor der theoretischen Vernunft. Am Ende der Transzendentalen Dialektik kommt Kant nämlich zu dem Schluss, dass Probleme, die vom theoretischen Standpunkt aus unentscheidbar sind, in der Tat als rational entscheidbar zu betrachten sind, wenn man die Vernunft als Ganzes beabsichtigt, und zwar auch die praktische Vernunft in den Entscheidungsprozess miteinbezieht. Die Antinomien der Vernunft können nämlich nur dann gelöst werden, wenn wir die Entscheidung treffen, die rein theoretische ausübung der Vernunft, also die reine Betrachtung zu unterbrechen, um das praktische Interesse der Vernunft anzuerkennen und zu würdigen. Das Ergebnis dieser Entscheidung wird Kant später, und zwar in der Kritik der praktischen Vernunft, mit den folgenden Worten bescheinigen:
[Es] ist ein Bedürfniß der reinen praktischen Vernunft auf einer Pflicht gegründet, etwas (das höchste Gut) zum Gegenstande meines Willens zu machen, um es nach allen meinen Kräften zu befördern; wobei ich aber die Möglichkeit desselben, mithin auch die Bedingungen dazu, nämlich Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, voraussetzen muß, weil ich diese durch meine speculative Vernunft nicht beweisen, obgleich auch nicht widerlegen kann. KpV, AA V, 142
- 2 Zur Entstehung der Kantschen Moralphilosphie cfr. Bacin 2009
4 Letztlich sind die Postulate der Existenz Gottes, der Unsterblichkeit der Seele und der Freiheit, als Bedingungen der Möglichkeit der Moral, nichts anderes als ein Bedürfnis eines endlichen rationalen Wesens, insofern dieses sein eigenes Verhalten an eine Pflicht bindet.2
1.2. Die Funktion der Ideen und des teleologischen Urteils
5 Aber auch in der Diskussion der Ideen finden wir ein Feld, das wir als eine Verteidigung der praktischen Vernunft und ihres Interesses betrachten können, diesmal aber auf den Bereich des Wissens und nicht der Moral angewandt. Hier preist Kant nämlich den regulativen Gebrauch der Ideen, um unsere wissenschaftliche Untersuchung so zu lenken, dass unsere Erfahrung die größtmögliche Einheit erhält. Da die Idee keinen authentischen kognitiven Inhalt an sich besitzt, erfüllt sie die rein praktische Funktion, unser Wissen auf eine immer höhere Systematizität hin auszurichten. Sie nimmt somit einen larval teleologischen Wert an, der die Zunahme unseres Wissens begünstigt. Diese Elemente werden schließlich in der Kritik der Urteilskraft genutzt, in der Kant ganz deutlich auf den positiven Wert der Teleologie für unser wissenschaftliches Wissen der Welt zurückkommen wird. Hier wird das teleologische Urteil als das Instrument vorgestellt, mithilfe dessen die beiden Bereiche, in denen unsere Gesetzgebung operiert – der sinnliche durch die theoretische Vernunft, und der übersinnliche durch die praktische Vernunft – fruchtbar kooperieren. In der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft lesen wir:
Die Naturbegriffe, welche den Grund zu allem theoretischen Erkenntniß a priori enthalten, beruhten auf der Gesetzgebung des Verstandes. – Der Freiheitsbegriff, der den Grund zu allen sinnlich=unbedingten praktischen Vorschriften a priori enthielt, beruhte auf der Gesetzgebung der Vernunft. […] Allein in der Familie der oberen Erkenntnißvermögen giebt es doch noch ein Mittelglied zwischen dem Verstande und der Vernunft. Dieses ist die Urtheilskraft, von welcher man Ursache hat nach der Analogie zu vermuthen, daß sie eben sowohl, wenn gleich nicht eine eigene Gesetzgebung, doch ein ihr eigenes Princip nach Gesetzen zu suchen, allenfalls ein bloß subjectives, a priori in sich enthalten dürfte. KU, AA V, 176
6 Und weiter
Die Wirkung nach dem Freiheitsbegriffe ist der Endzweck, der (oder dessen Erscheinung in der Sinnenwelt) existiren soll, wozu die Bedingung der Möglichkeit desselben in der Natur (des Subjects als Sinnenwesens, nämlich als Mensch) vorausgesetzt wird. Das, was diese a priori und ohne Rücksicht auf das Praktische voraussetzt, die Urtheilskraft, giebt den vermittelnden Begriff zwischen den Naturbegriffen und dem Freiheitsbegriffe, der den Übergang von der reinen theoretischen zur reinen praktischen, von der Gesetzmäßigkeit nach der ersten zum Endzwecke nach dem letzten möglich macht, in dem Begriffe einer Zweckmäßigkeit der Natur an die Hand; denn dadurch wird die Möglichkeit des Endzwecks, der allein in der Natur und mit Einstimmung ihrer Gesetze wirklich werden kann, erkannt. KU, AA V, 195-196
7 Kurzum: Kant scheint in der Kritik der Urteilskraft die weitest möglichen Konsequenzen aus dem Bedürfnis der Vernunft zu ziehen, ihren Primat aus praktischer Sicht zu bekräftigen. Ein wichtiger Effekt dieser Konzeption ist auch eine gewisse Versöhnung zwischen der sinnlichen und der übersinnlichen Welt. Obwohl diese nämlich nur als subjektives Urteilsprinzip gilt, finden wir im Begriff einer natürlichen Zweckmäßigkeit das Bindeglied zwischen dem Geltungsbereich der Naturgesetzgebung und dem der freien Gesetzgebung, zwischen Notwendigkeit und Freiheit. Darüber hinaus ist nach Kant die Unentbehrlichkeit einer solchen Vermittlung immer dann gegeben, wenn wir beabsichtigen, Phänomene zu verstehen, die das Lebewesen betreffen, da sie anhand der bloßen Gesetze der Mechanik nicht als Ganzes erklärbar sind. Organismen, die um das Streben nach einem Ziel, nämlich sich selbst am Leben zu erhalten, organisiert sind, scheinen durch ein analogon rationis geführt zu werden. Mit anderen Worten: In der Erforschung von Organismen helfen uns die Gesetze der Mechanik, die jenem Teil der Natur angehören, dem wir jegliche Form von Intelligenz absprechen können, kaum, etwas zu erklären; Sobald wir jedoch einen solchen Organismus als einem intelligenten Plan unterworfen betrachten, d.h. als ein Wesen, das ein Ziel in sich selbst hat, welches es zu verfolgen vermag, so leuchten uns eine ganze Reihe seiner Manifestationen und Verhaltensweisen unmittelbar ein.
2. FICHTE. DER ZWEIFACHE PRIMAT DES PRAKTISCHEN
- 3 Cfr. Jacobs 1967, Fabbianelli 2000.
8 Fichte knüpft genau an diese Intuition an. Er urteilt, dass das kantische System richtig verstanden, d.h. auf seinen Geist und nicht auf seinen Buchstaben hin betrachtet, im Lichte der Zusammenarbeit zwischen theoretischen und praktischen Fakultäten nach demjenigen Prinzip zu interpretieren ist, dass der Primat zwischen beiden dem Praktischen zuzuschreiben ist. Und darürber hinaus theorisiert er, dass das blinde Wirken dieser praktischen Fakultäten, d.h. bevor sie sich ihrer selbst in Form der Ausübung der Freiheit bewusstwerden, schon immer als Manifestation einer verborgenen Rationalität zu verstehen ist.3 Auf diesem Prinzip gründet er eigentlich das System der Freiheit: Das Recht, in der sinnlichen Welt Ziele am Werk einzusehen, gibt uns das Recht, in ihr nach von uns frei gesetzten Zielen zu handeln. Eine Aussage, die auch radikaler formuliert werden kann: Unsere Macht, in der sinnlichen Welt nach Zwecken zu handeln, kommt aus unserer Macht, in sie Zwecke hineinzuinterpretieren.
- 4 Die Bedeutung der Kritik der Urteilskraft für Fichte wurde zu lange von dem Gewicht beeinflusst, da (...)
9 Dazu gehört jedoch, die Trennung zwischen der sinnlichen und der übersinnlichen Welt, die die Kritik der reinen Vernunft so radikal etabliert zu haben schien, im Lichte der späteren Entwicklungen zu überdenken, die Kant aus den Ergebnissen der transzendentalen Dialektik gezogen hatte, und zwar sowohl in der Kritik der praktischen Vernunft, als auch in der Kritik der Urteilskraft. In diesem Sinne können wir Fichtes systematischen Ehrgeiz und seinen wiederholten Anspruch, sich immer im Gefolge des kantischen Denkens bewegt zu haben auch verstehen. Fichte versucht, allen Anliegen, die Kant in seinem Werk zum Ausdruck gebracht hat, eine systematische Kohärenz zu geben, indem er als Leitgedanke dasjenige „Interesse der Vernunft“ wählt, welches der praktischen Vernunft ihren Primat sichert. Zehn Jahre nach seinem ersten systematischen Versuch in Jena, und zwar in den „Prolegomena“ zur zweiten Ausstellung der Wissenschaftslehre 1804 in Berlin – die als die vielleicht vollständigste Ausstellung der Wissenschaftslehre angesehen werden kann – behauptet er, dass sein System direkt an der Philosophie Kants anknüpft, und erwähnt dabei insbesondere die Inspiration, die ihm durch die Kritik der Urteilskraft zuteilwurde.4 Letztere hätte ihn veranlasst, die Wurzel unserer beiden Fakultäten, der theoretischen und der praktischen Vernunft, aufzusuchen, um die beiden Welten, die sinnliche und die übersinnliche, zu verbinden:
Wie seine entscheidenden, und allein wahrhaft bedeutenden Werke, die drei Kritiken, vor uns liegen, hat er dreimal angesetzt. In der Kritik der reinen Vernunft war ihm die sinnliche Erfahrung das Absolute (x); und über die Ideen, die höhere, rein geistige Welt, spricht er da wahrhaft sehr unempfehlend. […] Die hohe innere Moralität des Mannes berichtigte den Philosophen, und es erschien die Kritik der praktischen Vernunft. In ihr zeigte sich durch den inwohnenden kategorischen Begriff das Ich, als etwas Ansich, was es in der Kritik der reinen Vernunft, lediglich gehalten und getragen von dem empirischen Ist, nimmermehr sein konnte; und wir hätten das zweite Absolute, eine moralische Welt = z. Noch waren die in der Selbstbeobachtung unläugbar vorhandenen Phänomene des menschlichen Geistes nicht alle erklärt […] und es erschien die Kritik der Urtheilskraft, und in der Einleitung dazu, dem Allerbedeutendsten an diesem sehr bedeutenden Buche, das Bekenntniß, daß die [/] übersinnliche und sinnliche Welt denn doch in einer gemeinschaftlichen, aber völlig unerforschlichen Wurzel, zusammenhängen müßten, welche Wurzel nun das dritte Absolute = y wäre. (GA II, 8, 28-32)
- 5 Vgl: Cesa 1992 und 1993; De Pascale 2001, insbes. S. 3-34
10 Es gibt zwei verschiedene Aspekte, die nun den Primat des Praktischen der Philosophie Fichtes bezeugen – und damit wird nicht nur die praktische Vernunft, und ihre Wirkung auf die Moral gemeint, sondern die allgemeine Stuktur der sich in unserem Bewußtsein zeigenden Instanzen, die an sich keine theoretische Relevanz haben, dafür aber als Bedingung der Möglichkeit jeder theoretischen Form in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre dargestellt werden, und zwar Trieb, Streben, Gefühle gelten.5 Der erste Aspekt hängt mit der Fundierung der Vorstellung in der Triebstruktur zusammen: Ein Objekt entsteht erst dadurch, dass ein ursprünglicher Anstoß dank der produktiven Einbildungskraft in eine Form gebracht wird. Sein Fundament liegt in der gehemmten Aktivität des Ichs, aus sich selbst herauszukommen, dem Trieb, dessen primitive subjektive Manifestation ein Gefühl ist. Auf dieser Ebene bedeutet der Primat des Praktischen im Wesentlichen den Vorrang unserer Aktivität vor der Passivität und damit die Fundierung des Wissens auf dem Handeln, wie Fichte schon in der Aenesidemusrezension durch die Einführung des Terminus „Tathandlung“ vs. „Tatsache“ theorisierte. Auf dieser Stufe operiert das Praktische auf einer unbewussten Ebene, da deren bewusste Manifestation von der theoretischen Intelligenz gesteuert würde. Seine vorrangige Natur kann daher nur ex-post rekonstruiert werden, nach dem kantischen Modell des Verhältnisses der ratio essendi zur ratio cognoscendi: Die unbewusste Aktivität des Ichs, der Trieb, ist ratio essendi seiner eigenen Passivität, die von der Vorstellung verkörpert wird; während diese letztere, vor der sich das Ich passiv fühlt, die ratio cognoscendi dieser verborgenen Aktivität ist, und zwar ihre Manifestation. In diesem Zusammenhang bedeutet die vorrangige Natur des Praktischen sowohl ontologische Überlegenheit als auch logische Priorität der Aktivität vor der Passivität.
11 Die zweite Form des Primats des Praktischen, die übrigens jene erste erweitert, hängt mit der Möglichkeit zusammen, in die sinnliche Welt unter Einhaltung einer Regel unseres Handelns, des kategorischen Imperativs, einzugreifen, wie es die kantische Sittenlehre verlangt. In dieser zweiten Form bedeutet Vorrang des Praktischen Kausalität der Freiheit und deren Entfaltung in der Welt durch die allmähliche Verwirklichung des Ideals. Hier wirkt das Praktische auf einer bewussten Ebene und drückt sogar den Höhepunkt unseres bewussten und rationalen Handelns aus, d. h. den Ausdruck der reinen praktischen Vernunft als vollkommene Übereinstimmung des Willens mit sich selbst.
12 Beide diese Ebenen sind für Fichte eng miteinander verflochten, da die Versöhnung des Nicht-Ichs mit dem Ich durch eine gezielte Erziehung der als solchen unbewussten Triebe durch deren schrittweise Anpassung an das von der moralischen Pflicht vorgegebene Ideal der Selbstbestimmung in Form des Sollens erreicht wird. Dementsprechend besteht die Möglichkeit der Vernunft, die Realität zu erfassen, darin, dass letztere in der Lage sei, deren Eingriff aufzunehmen und positiv darauf einzugehen. Mit anderen Worten, das Reale muss in der Wurzel aus dem gleichen „Stoff“ jener idealen Welt bestehen, zu deren Verwirklichung sie schrittweise aufgerufen ist. Schon in der Aenesidemusrezension lesen wir nämlich:
Weil aber das Ich seinen Charakter der absoluten Selbständigkeit nicht aufgeben kann; so entsteht ein Streben, das Intelligible von sich selbst abhängig zu machen, um dadurch das dasselbe vorstellende Ich mit dem sich selbst setzenden Ich zur Einheit zu bringen. Und das ist die Bedeutung des Ausdrucks: die Vernunft ist praktisch. […] Jene Vereinigung: Ein Ich, das durch seine Selbstbestimmung zugleich alles Nicht-Ich bestimmt (die Idee der Gottheit), ist das letzte Ziel dieses Strebens (GA I,2, 65)
13 Die vollständige Rekonstruktion der Fundierung des Theoretischen im Streben wird aber erst in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre angestrebt und erreicht, wie Fichte bereits im Begriff der Wissenschaftslehre ankündigte:
Im [praktischen Teil] bekommt der theoretische Theil erst seine sichere Begrenzung, und seine feste Grundlage […] In ihm wird eine neue durchgängig bestimmte Theorie des Angenehmen, des Schönen, und Erhabenen, der Gesetzmäßigkeit der Natur in ihrer Freiheit, der Gotteslehre, des sogenannten gemeinen Menschenverstandes, oder des natürlichen Wahrheitssinnes, und endlich ein Naturrecht, und eine Sittenlehre begründet, deren Grundsätze nicht bloß formal, sondern material sind. (GA I,2, 151)
14 Zusammenfassend können wir also schließen, dass Fichte, indem er den kantischen Primat der praktischen Vernunft aufklärt und ergreift und diesen in einen allgemeineren Primat des Praktischen verwandelt, der auf zwei Ebenen operiert: einer ersten, auf der die Welt der Triebe als unbewusster Auslöser der Vorstellung und damit der Konstitution der Erfahrungswelt wesentlich für die Ausübung der theoretischen Vernunft und ursprünglich in Bezug auf diese definiert wird; und einer zweiten, auf der er das Sollen als übergeordnete rationale Richtschnur unseres weltlichen Handelns sowie des Verfahrens annimmt, das jene erste Ebene genetisch begründet. Die beiden Ebenen sind jedoch so ineinander verwoben, dass man das Sollen sogar als authentisches Bewusstwerden der originären und verborgenen Triebverflechtung verstehen muss, die nun als tragende Struktur unseres Lebens zu betrachten ist. In diesem Sinne kann Fichte seine Philosophie als das erste System der Freiheit darstellen, das darauf abzielt, eine übergeordnete Moral zu umreißen, die unsere rationale Natur durch ein festes Gesetz regiert, nämlich das der moralischen Pflicht, der wir uns anvertrauen müssen.
3. SCHOPENHAUER
3.1 Von der Zerstörung der praktischen Vernunft zum Primat des Leibes
- 6 Diese These habe ich in d’Alfonso 2020 verteidigt, dessen Argumentation in der Folge übernommen wir (...)
- 7 Zur Entstehung der Philosophie Schopenhauer in Auseinandersetzung mit der post-kantschen Debatte si (...)
- 8 HN2, 26
15 Obwohl es den meisten Schopenhauer Liebhabern und Forschern noch nicht ausreichend präsent ist, ist diese systematische Position Fichtes ein unabdingbarer Anknüpfpunkt für das Verständnis des Ursprungs und der Entwicklung der Philosophie Arthur Schopenhauers. Die Vulgata will nämlich in Schopenhauer hauptsächlich einen erbitterten Feind Hegels sehen, doch der anfängliche Antagonist Schopenhauers ist nicht Hegel, sondern Fichte.6 Zwischen 1809 (als er sich an der Universität Göttingen immatrikulierte) und 1813 (als er seine Doktorarbeit in Jena vorlegte) studierte Schopenhauer nämlich Fichtes gesamte Produktion, d. h. sowohl seine veröffentlichten Werke der Jenaer Zeit, als auch seine den meisten seiner Zeitgenossen unbekannten systematischen Überlegungen der Berliner Zeit, die Schopenhauer dank des Besuchs seiner Vorlesungen in den Jahren 1811 und 1812 aus allererster Hand kannte.7 Unter den Schriften, die der Philosoph zeitlebens aufbewahrte und schließlich seinem "Apostel" Frauenstädt vermachte, finden wir die Protokolle der Vorlesungen über die Tatsachen des Bewußtseins 1811-12 und über die Wissenschaftslehre 1812. Schopenhauer hatte übrigens Ende 1810 von der Universität von Göttingen zur neu gegründeten Universität in Berlin gewechselt, eben um die Vorlesungen Fichtes besuchen zu können, in der Hoffnung, "einem wahren Philosophen" zuzuhören, nachdem er von dem Göttinger „Professor der Misosophie Schulze“8 – besser bekannt als Aenesidemus, bei dem er die Vorlesungen über Metaphysik, Empirische Psychologie und Logik besucht hatte – zutiefst enttäuscht worden war.
- 9 Cfr. d’Alfonso 2019
16 Auch Fichte enttäuschte ihn sehr bald, allerdings nicht ohne tiefgreifende Konsequenzen zu hinterlassen und seinen philosophischen Ansatz stark umzuorientieren. In der Tat stellte seine Ablehnung Fichtes Berliner Systems für ihn selbst die kantische Philosophie in Frage, und das obwohl er sie später zusammen mit Platon und den Veden als eine seiner grundlegenden Inspirationsquellen feierte.9 Eine kurze Notiz am Rande seiner Protokolle zu den Tatsachen des Bewusstseins zeugt sowohl von seiner Verachtung für das Fichtische System - ein „Märchen“ - als auch von seinem Verdacht, dass es auf einem Irrtum beruhen könnte, der jedoch aus einer früheren Quelle, nämlich Immanuel Kant, stamme.
Ich versuche zu erklären wie sich dies ganze Mährchen in F[ichte]s Gehirn entsponnen hat. Er will Idealismus! daß er ihn will ist Folge seines individuellen Mißverstehns von Kants Lehre, vielleicht ist dieses wieder veranlaßt durch eine Unvollständigkeit in Kants Lehre. (HN 2, 60, meine Hervorhebung)
17 Es ist kein Zufall, dass diese Anmerkung gerade dort erscheint, wo in den Tatsachen des Bewusstseins der Übergang vom theoretischen zum praktischen Teil durchgeführt wird, da wo Fichte das Thema des höheren Bewusstseins und der Moral einleitet. Fichte stellt hier in diesem zweiten Teil den Soll als jenes Schema des Absoluten vor, in dem die Vermittlung zwischen sinnlicher und übersinnlicher Welt verwirklicht wird. Genau diese Position bestreitet Schopenhauer heftig, indem er sich auf die Suche nach Fichtes ursprünglichem Trugschluss in einem Irrtum Kants begibt: seiner Annahme einer reinen praktischen neben der theoretischen Vernunft. In einem zweiseitigen kurz darauf verfassten Text mit dem Titel Zu Kant. März 1812 schließt Schopenhauer eine mehrmonatige Untersuchung mit folgenden Worten ab:
Das Vermögen Etwas a priori zu bestimmen nennt Kant Vernunft: und darin begeht er den großen Fehler (der in vielen zoologischen Systemen u.s.w. Beyspiele hat) daß er ein unwesentliches Merkmal zum Grundcharakter eines genus macht und die heterogensten Dinge unter eine Rubrik befaßt, nämlich einerseits das Vermögen der Schlüsse und die Vorausbestimmung der Erfahrung nach den Bedingungen unsrer sinnlichen Natur; und andrerseits das, was den innersten Grund unsres absoluten, über alle Erfahrung und sinnliche Natur erhabenen und diese als ganz nichtig behandelnden Wesens ausmacht. […] Wer sieht nicht, daß hier nicht ein und dasselbe Vermögen in 2 verschiedenen Modifikationen, sondern 2 grundverschiedene Vermögen wirken, die daher nicht denselben Namen führen dürfen. Zumal da diese gemeinschaftlichen Namen eine Quelle großer Irrthümer geworden ist: besonders da Kant und seine Nachfolger die Identität der Vernunft in diesen beyden Modifikationen haben durchführen wollen […]. (HN 2, 302)
18 Und er kommt zu dem Schluss:
Der Name Vernunft muß also entweder der theoretischen oder der praktischen allein zukommen. Der Teutsche Sprachgebrauch hat ihn von je der theoretischen gegeben und damit eine größere Klarheit und Fertigkeit des Verstandes bezeichnet. Von praktischer Vernunft (in diesem Sinn hat) hat wohl Kant zuerst gesprochen. — Sie muß einen andern Namen haben. (HN 2, 304)
- 10 HN 5, 53
19 Kants Mangel an Analyse ist also nach Schopenhauer die Ursache der Fehler Fichtes – sowie der weiteren Idealisten Schelling und Hegel – da dieser zur Abwertung des Intellekts, zur Überbewertung der Vernunft und schließlich, was das Schlimmste ist, zur Funktionalisierung des Praktischen geführt hat. Die enge Beziehung zwischen dem Theoretischen und dem Praktischen hat nämlich nach Schopenhauer dazu geführt, dass die per definitionem zwecklose Unterwerfung unseres Handelns unter den kategorischen Imperativ dazu beitragen soll, den von der Natur vorgesehenen weltlichen Plan zu verwirklichen. Nur so konnte laut Fichte die Freiheit, die die übersinnliche Welt kennzeichnet, Bedingung der Möglichkeit für die Weiterentwicklung der Vernunft in der natürlichen Welt durch ihre fortwährende Moralisierung werden. Umgekehrt bedeutet dies für Schopenhauer keine allmähliche Realisierung der Freiheit in der Welt, sondern die unumkehrbare Fesselung des erlösenden Potentials des Übersinnlichen und damit den Verlust jeder Hoffnung auf Befreiung. Es ist daher verständlich, warum er in seinem Exemplar der Fichtischen Morallehre den Untertitel „o sia System des moralischen Fatalismus“ hinzugefügt hatte.10 Denn Fichte liege die Illusion zugrunde, man könne den kategorischen Imperativ verständlich machen, indem man ihm eine "vernünftige" Funktion in Form einer Anwendung des Naturgesetzes auf eine höhere Potenz gibt. Diese "Nachvollziehbarkeit des kategorischen Imperativs", die Schopenhauer vor allem in der Fichtischen Morallehre zu finden glaubt, kommentiert er mit folgenden Worten:
Im [praktischen Teil] bekommt der theoretische Theil erst seine sichere Begrenzung, und seine feste Grundlage […] In ihm wird eine neue durchgängig bestimmte Theorie des Angenehmen, des Schönen, und Erhabenen, der Gesetzmäßigkeit der Natur in ihrer Freiheit, der Gotteslehre, des sogenannten gemeinen Menschenverstandes, oder des natürlichen Wahrheitssinnes, und endlich ein Naturrecht, und eine Sittenlehre begründet, deren Grundsätze nicht bloß formal, sondern material sind. (GA I,2, 151)
20 Doch auf die Entfernung der praktischen Vernunft folgt für Schopenhauer nicht die Auflösung jeder Fundierung des Theoretischen im Praktischen. Diese wird im Gegenteil noch stärker bekräftigt. Denn die Bedingung der Möglichkeit des Wissens und sogar die schlichte Existenz der Organe, die uns die Erfahrung erschließen (von den sogenannten „peripherischen Organen der Empfindlichkeit“, bis hin zum Nervensystem und dem Gehirn), findet sich ausschließlich im Bereich des Praktischen, im Willen. Das Verb, das das Inkrafttreten des Willens beschreibt, ist übrigens dasselbe, welches die Fichtianische Kategorie des Praktischen schlechthin charakterisierte: Streben. Dies stellt allerdings bei Schopenhauer keinesfalls eine Form von Rationalität, sondern reine, zwecklose Tätigkeit dar.
21 Aber, gerade weil die Vernunft nicht praktisch ist und das Praktische an sich nichts Rationales hat, finden wir bei Schopenhauer Intellekt und Vernunft erneut als Phänomene des Praktischen, denn diese nichts anders als eine sich selbst verborgene Ummantelung des Willens sind, die allein dessen Potenzierung zum Ziel haben. In diesem Sinne können wir dem Titel von Schopenhauers Werk Die Welt als Wille und Vorstellung seine volle Bedeutung entnehmen, der in der Tat besagt, dass die Realität dessen, was wir dank Intellekt und Vernunft erkennen, nur im Willen aufzufinden ist; und dass wiederum der Wille notwendigerweise eine phänomenale Darstellungsform aufgrund seiner vorhergehenden Verwirklichung in Intellekt und Vernunft annimmt. Die Philosophie mag wohl eine rein theoretische Funktion haben, allerdings erfüllt sie nur dann authentisch ihre Funktion indem sie die unsagbare Wahrheit enthüllt, dass das Theoretische eine Erscheinungsform des Praktischen ist. Und gerade in diesem Sinne wird die Fichtische Festlegung des Primats des Praktischen, wenn auch weit entfernt von der Form des ethischen Idealismus, gerade in dem Aspekt bestätigt, dessen Fichte sich bediente, um Kant zu überholen, und zwar als genetische Rekonstruktion unseres konstitutiven Verhältnisses zur Welt.
22 Im Unterschied zu Fichte beruht dieses Primat des Praktischen auf der feststellbaren Abhängigkeit unserer Erkenntnis von unserem leiblichen Körper, d.h. auf der unbestreitbaren Tatsache, dass eine Empfindung ein körperliches Faktum ist und dass daher auch die Bildung von Vorstellungen ein bestimmtes, auch physiologisches Verfahren durchlaufen muss, das das Fungieren des a priori von Raum/Zeit/Kausalität miteinschließt. Anders als bei Kant sind diese nicht mehr die a priori der Sensibilität und des Intellekts, sondern gelten als a priori der vollständigen Vorstellungen, die die Gesamtheit der Erfahrung, der Objekte, konstituieren. Kurzum, es ist der Leib als unvermeidlicher Aufbewahrungsort der Quellen unserer Erkenntnis und kraft seines Primats in Bezug auf das Cognitum, in welchem Schopenhauer seinen eigenen spezifischen Vorrang des Praktischen vor dem Theoretischen statuiert, sodass jedes Ergebnis unserer kognitiven Bemühungen den Interessen unseres „lieben Selbst“ zuzuführen ist. Diese Operation bekräftigt jedoch erneut auch die Trennung der sinnlichen von der übersinnlichen Welt. Nachdem Schopenhauer in diesem Zusammenhang die platonische Metaphysik aufgeholt hat, ohne jedoch ihren politischen Wert anzuerkennen, bestätigt er die absolute Transzendenz der Ideen gegenüber der sinnlichen Welt und verleugnet dabei jede positive mondäne Funktion des Übersinnlichen. Die Ebene der rationalen Ziele deckt sich mit derjenigen der Konstitution der empirischen Welt, aus der jedoch jeder ideale Beitrag verbannt wird.
3.2 Ein "weiteres" System der Freiheit
23 Und doch entspricht diese Operation auch der Verteidigung einer höheren Instanz, die im Übrigen den gleichen Namen trägt wie im Fall von Kant und Fichte, auch wenn sie von einem radikal anderen Standpunkt aus beabsichtigt wird: Freiheit. Ich möchte nämlich dafür argumentieren, dass auch im Fall der Welt als Wille und Vorstellung von einem "System der Freiheit" die Rede sei, wenn auch von einer ganz anderen Art von Freiheit als der kantisch-fichtischen. Davor muss man aber aufklären, inwiefern das System Fichtes für Schopenhauer gerade das Gegenteil eines „Systems der Freiheit“, und zwar ein „intelligibler Fatalismus“ sei, und warum seine Willensmetaphysik als eine Philosophie der Freiheit zu verstehen sei.
24 Der Grund liegt in der spezifischen Anwendung der Verwirklichung der „Kausalität der Freiheit“ durch das Sollen, die Schopenhauer auch als praktisch widersprüchlich ablehnt. Wenn nämlich das Absolute Fichtes ein absolut freies Prinzip ist, aber dank der Vermittlung des Soll – seinem mondänen Repräsentanten – in die Welt tatsächlich eingreift, d. h. sich regelmäßig den vom Intellekt gesetzten und in der empirischen Welt verfolgten Zielen unterordnet, dann wird das Übersinnliche ständig in die phänomenale Welt hineingezogen, und damit dient es funktionell, und sogar mechanisch, zu seiner Entwicklung. Auf diese Weise, meint Schopenhauer, würde allerdings kein Plan der autonomen Freiheit verwirklicht, sondern vielmehr die wiederholte Unterordnung der in dem Übersinnlichen dargestellten Freiheit unter einem ihr völlig fremden Plan realisiert. Kurzum, die Kehrseite des Modells, nach der das frei entworfene Ideal als positiver Motor der Wirklichkeit fungiert und sie dabei zu sich erhebt, indem es die sinnliche Welt weitgehend nach der Form der übersinnlichen umgestaltet, ist die tragische Sichtweise, nach der die sinnliche Welt die Macht des Übersinnlichen erwirbt, indem sie diese allmählich in ihren Dienst stellt und sie in das enge Geflecht der „menschlichen, allzumenschlichen Zwecke“ zwängt, die notwendigerweise aus Raum, Zeit und Materie geschöpft sind. Unter dieser Perspektive wird das Soll nicht mehr ein Ort der Manifestation der Freiheit, sondern das Instrument ihrer Funktionalisierung und damit ihres fatalistischen und fatalen Verlustes.
25 Im Gegenteil dazu kann und darf ein authentisches System der Freiheit, d.h. eines, das die Freiheit als einziges Prinzip festschreibt und ihr gleichzeitig ihre Absolutheit zu gewähren vermag, das Ineinandergreifen von Gründungsebene und phänomenaler Ebene infolge eines von der phänomenalen Ebene aus in die Praxis umgesetzten Plans nicht hinnehmen. Demzufolge muss in der phänomenalen Welt die Logik, die der Verwirklichung ihres freien Grundes zugrunde liegt, vollkommen unerkennbar bleiben, gerade um dessen absolute Freiheit zu bewahren. Und somit der Philosoph, der ebenfalls ein Phänomen ist und notwendigerweise aus der Sicht der Phänomene spricht und als kritischer Philosoph ständig diesen endlichen und kontingenten, d. h. unfreien Gesichtspunkt beanspruchen soll, muss auch weiterhin die Unmöglichkeit behaupten, in der Welt ein „Absolutes als solches“ – wie Fichte den Soll definiert – auszuzeichnen, das die Funktionen des Absoluten in Form seiner kausalen Wiederholung annehmen würde, weil dies jene Absolutheit und diejenige des Dargestellten automatisch verleugnen würde. Und dabei ist es zu beachten, dass das hiesige Problem wiederum nicht theoretischer, sondern rein praktischer Natur ist: Denn dank der besonderen Erkenntnis unseres Körpers als eigenen Leib und als Objekt unter Objekten wissen wir, einerseits dass der Wille, der ihn belebt, frei ist, andererseits aber auch, dass wir niemals in der Lage sein werden, freien Gebrauch davon zu machen. Deshalb gilt als einziges „System der Freiheit“ Die Welt als Wille und Vorstellung, denn dies behauptet, dass der Mensch jene Form ist, die den Willen, oder besser gesagt die Freiheit, annimmt, in der allein die Freiheit zum Ausdruck kommen kann; was aber nicht bedeutet, dass diese Freiheit, d. h. der Wille als absolutes Prinzip, dem Menschen auch als solche zur Verfügung gestellt wird. Die Freiheit ist nichts Menschliches und der Mensch ist nicht frei, vor allem wen wir damit "frei zu ..." meinen.
- 11 Die Präminenz der Erlösungslehre im System Schopenhauers wurde insbesondere von Malter 1991 hervorg (...)
26 Aber gerade aufgrund dieser Schlussfolgerung, und allein unter ihren Bedingungen, kann Schopenhauer anschließend feststellen, dass der Mensch sich unter bestimmten – sehr rare aber konkreten und historisch bewiesenen – Umständen als frei in einem radikaleren Sinne des Wortes manifestiert, und zwar: als "frei von ...". Ziel des philosophischen Vorschlags Schopenhauers ist, über die Grenzen dessen theoretischen Wertes – das Wie und Warum der Welt zu erklären – hinauszugehen, um die Bedeutung der unabdingbaren Tragik der Welt aufzuzeigen und somit dem menschlichen Leben einen moralischen Sinn zu gewährleisten. Wir stoßen hier auf die letzte Form des Primats des Praktischen, die sich bei Schopenhauer zeigt, und auf die Bedeutung, die sein auf diesem Primat errichtetes Freiheitssystem schließlich auch für die menschliche Freiheit ermöglicht, wenn man darunter die menschliche Befreiung von der Welt, die Erlösung des Menschen versteht.11 Aber die Schopenhauersche Systematik kann nur dann richtig aufgefasst werden, wenn man korrekt einschätzt, inwiefern die Entstehung seiner Philosophie mit der Ablehnung des Fichtischen Idealismus und dem daraus folgenden Versuch, ein System der Freiheit mit einem radikal anderen Ansatz zu denken inhergeht. Das letzte Wort dessen, was wir nun das „System der Freiheit und der Befreiung“ nennen können, ist buchstäblich „Nichts“, aber – wie Nietzsche es zu Recht gehört hat – im Geiste lautet es „Nein“!
27 Die menschliche Freiheit, die laut Schopenhauer nur in Form von „Befreiung“, bzw. „Erlösung“ verstanden werden kann, hängt mit der „Negation des Willens“ in ihrer grundlegendsten und unmittelbarsten Form, dem Lebenswillen, zusammen. Im Gegensatz zu denen, die hierin ein Paradoxon sehen, neige ich dazu, dies als einen mutigen und sogar heroischen (im wahrhaft „tragischen“ Sinne des Wortes) Versuch anzuerkennen, die konsequentesten Schlussfolgerungen aus dem Umdenken der Beziehung zwischen Praxis und Theorie zu ziehen: d. h. die Tatsache, dass das repräsentative Wissen, obwohl es aus einem Organ des Willens zum Leben hervorgeht, gerade aufgrund seiner ursprünglichen und nie völlig trennbaren Verbindung mit jener absoluten Freiheit schließlich auch gegen deren Prinzip, den Willen, gewendet werden kann. So wird gerade auf dem Höhepunkt der Philosophie Schopenhauers, wenn es darum geht, die Faktizität der menschlichen Freiheit in der Askese in der Form der menschlichen Befreiung zu feiern, dieser Übergang weder dem religiösen Gefühl noch der mystischen Verklärung zugeordnet; es wird dagegen behauptet, sie sei eine konsequente Auswirkung einer auf theoretischer Ebene vorbereiteten Bekehrung, die nur im Namen einer logischen Umkehrung des Theoretischen in der Praxis, des Wissens im Nicht-Wollen, des Willens in den Noluntas möglich wird.
4. NIETZSCHE. VERTEILTE PRAKTIZITÄT
28 In dieser Rückbesinnung auf die Metamorphose des Praktischen und seines Primats kamen wir zu ihrer extremen Konsequenz, infolge derer sie in den Nihilismus mündet. Denn in der oben besagten Umkehrung des Theoretischen in der Praxis besteht die Wurzel dessen, was Nietzsche Ressentiment nennen wird. Hier greift Friedrich Nietzsche das Primat des Praktischen auf, zuerst als Anhänger und dann als erbitterter Zensor der Schopenhauer-Philosophie. Auch Nietzsche wird nicht davon abweichen, zu bekräftigen, dass unsere Beziehung zur Welt, selbst in ihrer theoretischen Form, ganz und gar praktischer Natur ist. Schließlich erhält folgende berühmte Aussage der Achtziger Jahre erst dann eine vollständige Bedeutung, wenn sie sich auf den praktischen Bereich bezieht, wovon auch der Hinweis auf die Triebe zeugt:
- 12 http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/NF-1886,7[60]. Siehe auch Moiso 2020, S. 19-33.
Gegen den Positivismus, welcher bei den Phänomenen stehn bleibt »es gibt nur Tatsachen«, würde ich sagen: nein, gerade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen. Wir können kein Faktum »an sich« feststellen: vielleicht ist es ein Unsinn, so etwas zu wollen. […] Unsere Bedürfnisse sind es, die die Welt auslegen; unsere Triebe und deren Für und Wider. Jeder Trieb ist eine Art Herrschsucht, jeder hat seine Perspektive, welche er als Norm allen übrigen Trieben aufzwingen möchte.12
- 13 Auf die Wichtigkeit der Auseinandersetzung Nietzsches mit Kant und dem Kantismus hat zunächst Vaihi (...)
29 Wenn dies stattdessen auf der rein theoretischen Ebene der Behauptung eines einfachen positiven Wissens gelernt wird, erhält es nur eine sich selbst widersprechende Bedeutung: Würde es nämlich eine Tatsache oder eine Interpretation angeben? Vielmehr muss uns diese Behauptung vermitteln, dass die Wirklichkeit sich uns nur als ein dynamisches Gleichgewicht der Kräfte anbietet und dass wiederum nur durch diese notwendigerweise vergängliche Form jedes Individuum sich selbst darstellt und vorstellt. Diese Folgerung ist für Nietzsche der Schlüssel, um dem Schopenhauerschen Nihilismus zu entkommen und eine neue Allianz zwischen Praxis und Theorie zu begründen, die der traditionellen Abhängigkeit des Wissens von der Abwertung der sinnlichen Welt entkommen soll. Die Wissenschaft muss, anstatt den Weg zur Flucht aus dieser Welt zu ebnen, indem sie sich gegen ihre praktische Wurzel wendet und die Verneinung des Willens auslöst – wie bei Schopenhauer – diese praktische Wurzel geradezu positiv aufnehmen: Sie soll zu einer Wissenschaft werden, die nicht von Pessimismus und Ressentiments genährt wird, sondern heiter und befreiend ist, eine wahrhaft fröhliche Wissenschaft, wie Nietzsche sie nennt. Diese Nietzscheanische Schlussfolgerung, die von Prämissen ausgeht, die sehr weit vom Kantschen Ausgangspunkt entfernt scheinen, mit dem wir uns am Anfang dieses Vortrags beschäftigt haben, bekundet dagegen den Endpunkt einer Reflexion, die sich explizit gegen Schopenhauer wendet, sich aber wiederum an einer Vertiefung der Kantschen Darstellung des teleologischen Urteils in der Kritik der Urteilskraft orientiert.13
30 Unter den ersten philosophischen Notizen Nietzsches, die noch während seines Militärdienstes, Oktober 1867-April 1868, verfasst wurden, finden wir eine Reihe kritischer Bemerkungen über die Philosophie Schopenhauers und dabei auch den Entwurf für eine Doktorarbeit in Philosophie (die nie fertiggestellt wurde) mit dem bezeichnenden Titel: Die Teleologie seit Kant, Teleologie ab Kant. Zu der Zeit, als Nietzsche sich mit dieser Dissertation befasste, absolvierte er gerade sein Universitätsstudium in Leipzig und war bereits als Spezialist für klassische Philologie anerkannt. Wir entdecken hier eine andere Forschungslinie, weniger bekannt als die meistdiskutierten Themen, bei der Nietzsche nicht nur ein eindeutiges Interesse für die philosophische Tradition zeigt, sondern sich auch für die wissenschaftliche Debatte seiner Zeit interessiert. In diesen Notizen kommt der junge Nietzsche, der leidenschaftliche Schopenhaueranhänger, nachdem er ernsthafte Zweifel an der Art und Weise darüber geäußert hat, wie in der Welt als Wille und Vorstellung die Entstehung des Intellekts aus dem Trieb gerechtfertigt wird, dem ursprünglichen Fehler im Konzept der kantischen Teleologie auf die Spur. Ich kann nicht näher auf die Einzelheiten eingehen, durch die die Kritik Schopenhauers an dem Teleologiebegriff artikuliert wird, und kann hier nur seine Schlussfolgerung nachvollziehen. Nietzsche weist nämlich darauf hin, dass, sobald die Illusion der Teleologie, die Zusammenarbeit zwischen den Teilen und dem Ganzen im lebenden Organismus erklären zu können, verschwindet, auch die Konzepte von Teil und Ganzem definitiv verloren gehen.
31 Diese wurden nämlich von einer individuellen Form zusammengehalten – wie die Idee Schopenhauers oder das Ding an sich Kants –, die nun aber verlassen werden soll im Namen des gelegentlichen und vorübergehenden Lebensgefühls spezifischer Kraftverhältnisse. Nietzsche bemerkt in seinen Notizen:
Teleologie: innere Zweckmäßigkeit. Wir sehen eine complicirte Maschine, die sich erhält und können nicht einen andern Bau aussinnen wie sie einfacher zu konstruiren sei. Dh. Aber nur: die Maschine erhält sich, also sie ist zweckmäßing. […] Dagegen ist uns die Methode der Natur bekannt, wie ein solche „zweckmäßiger“ Körper entsteht, eine sinnlose Methode. Demnach erweist sich die Zweckmäßigkeit nur als Lebensfähigkeit, d.h. als conditio sine qua non. […] KGW, I/4, 549
32 Wir sehen hier, dass das Praktische die weltliche Form des Lebens immer noch begründet und belebt, aber losgelöst von der teleologischen Ausrichtung des Schopenhauerschen Willens, die eine Steigerung des Willens in dessen Manifestationen durch die unterschiedlichen Gattungen und Arten vorhersah. Der Schopenhauersche Kunstgriff, der auch als Ergebnis seiner Ablehnung der praktischen Vernunft anzusehen ist, fiel mit der Einbeziehung einer Form von nach Zielen operierender Rationalität zusammen, die er in das Herz der Natur selbst legte und die er als Objektivierung des Willens in den Ideen betrachtete. Nietzsche bemerkt allerdings, dass gerade diese Konzeption sich von der gleichen Logik der Moral leiten ließ, die Schopenhauer zuvor abgelehnt hatte. Somit zeigt Nietzsche, dass der teleologische Ansatz Schopenhauers immer noch dem Kantschen entlehnt ist und somit jener Verbindung zwischen moralischer und natürlicher Welt nachgeht, die er meiden wollte. Die einzige Möglichkeit, sie zu aufzulösen, besteht also darin, jeden moralischen Bezug auf die Welt zu streichen, d. h. jede Erklärung der Welt für nichtig zu erklären, die sich auf einen außerweltlichen Plan bezieht.
Zweitens – bemerkt Nietzsche dazu – kennen wir die Methode der Natur, wie solch ein zweckmäßiger Körper erhalten wird. Mit sinnlosem Leichtsinn. […]
Die Beseitigung der Teleologie hat einen praktischen Werth. Es kommt nur darauf an den Begriff einer Höheren Vernunft abzulehnen: so sind wir schon zufrieden. (KGW, I/4 551)
33 Als einzige Erklärung der Phänomene kann man demzufolge nur diejenige akzeptieren, die in den Dingen zerstreut ist, und somit auf keine höhere Stelle hinweist. Nietzsche sucht somit einen Weg, dem Primat des Praktischen, der mit Schopenhauer im Nihilismus enden müsste, ein weiteres Verständnis zu schenken, das jeden impliziten Moralismus ablehnt, womit der Weg geebnet werden kann für ein wissenschaftliches Verständnis der Welt, das uns mit dem Leben versöhnen kann.
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36Nietzsche, F., Kritische Gesamtausgabe (KGW), G. Colli and M. Montinari (eds.), Berlin/New York: de Gruyter, 1967
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52MOISO, F. (1979), Natura e cultura. Milano: Mursia
53MOISO, F. (2020), Nietzsche e le scienze. Milano: Mursia
54PAREYSON, L. (1950), Fichte. Il sistema della libertà. Milano: Mursia
55PRINCIPE, S. (2013), Fichte. La condizionalità estetica della filosofia trascendentale, Napoli: Diogene
56SIMON, J. (1989), Die Krise des Wahrheitsbegriffs als Krise der Metaphysik. Nietzsches Alethiologie auf dem Hintergrund der Kantischen Kritik, «Nietzsche-Studien», 18/1989.
57VAIHINGER, H., (1911), Die Philosophie des Als Ob, System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche, Berlin: Reuther & Reichard.
Notas
1 Cfr. Höffe, 2007, §. 2.1
2 Zur Entstehung der Kantschen Moralphilosphie cfr. Bacin 2009
3 Cfr. Jacobs 1967, Fabbianelli 2000.
4 Die Bedeutung der Kritik der Urteilskraft für Fichte wurde zu lange von dem Gewicht beeinflusst, das die Forschung der Kritik der praktischen Vernunft beigemessen hat. Die Bedeutung seines Studiums der Kritik der Urteilskraft bezeugen dagegen Fichtes Texte aus der Zeit seiner frühsten Überlegungen, der Eignen Meditationen über die Elementarphilosophie und der Praktischen Philosophie. Diese Bedeutung ist für das Verständnis seines Wegs zum System unabdingbar. Für die Relevanz der Kritik der Urteilskraft für die Systematisierung der Transzendentalphilosophie seitens Fichte, vgl. Pareyson 1950, Moiso 1979, Cecchinato 2009, Principe 2013.
5 Vgl: Cesa 1992 und 1993; De Pascale 2001, insbes. S. 3-34
6 Diese These habe ich in d’Alfonso 2020 verteidigt, dessen Argumentation in der Folge übernommen wird.
7 Zur Entstehung der Philosophie Schopenhauer in Auseinandersetzung mit der post-kantschen Debatte siehe: Kamata 1998; De Cian 2002, d’Alfonso 2017.
8 HN2, 26
9 Cfr. d’Alfonso 2019
10 HN 5, 53
11 Die Präminenz der Erlösungslehre im System Schopenhauers wurde insbesondere von Malter 1991 hervorgehoben.
12 http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/NF-1886,7[60]. Siehe auch Moiso 2020, S. 19-33.
13 Auf die Wichtigkeit der Auseinandersetzung Nietzsches mit Kant und dem Kantismus hat zunächst Vaihinger 1911 hingewiesen. Später auch Brusotti/Siemens 2017, Simon 1989, Kaulbach 1990, Moiso 2020
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Referencia electrónica
Matteo Vincenzo d’Alfonso, «Metamorphose des Primats des Praktischen: Kant, Fichte, Schopenhauer, Nietzsche», Revista de Estud(i)os sobre Fichte [En línea], 20 | 2020, Publicado el 01 junio 2020, consultado el 17 enero 2025. URL: http://0-journals-openedition-org.catalogue.libraries.london.ac.uk/ref/1426; DOI: https://0-doi-org.catalogue.libraries.london.ac.uk/10.4000/ref.1426
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