- 2 STS-CH wurde im April 2001 gegründet. Die Vereinigung umfasst rund 100 Forscher:innen aus der Schwe (...)
1Februar 2021, ein Fenster nach dem anderen öffnet sich auf dem Bildschirm in der Zoom-App. In diesem Online-Raum werden sich mehrere Dutzend Forscher:innen aus einem Dutzend Ländern drei Tage lang versammeln. Als Folge der COVID-19-Pandemie findet diese Konferenz, die eigentlich an der Universität Lausanne hätte stattfinden sollen, schliesslich online statt. Die Pandemie hat uns etwas unerwartet in Erinnerung gerufen, worauf es bei der Organisation einer internationalen Konferenz ankommt und wie empfindlich der gut eingespielte Mechanismus einer solchen Veranstaltung ist. So gelang es STS-CH, der Swiss Association for the Studies of Science, Technology & Society2, ihre fünfte Konferenz, die erste seit 2014, mit dem Titel Multiple Matters: From neglected things to arts of noticing fragility auszurichten.
2Wie kam es zu diesem Titel? Man könnte verschiedene Ausgangspunkte für das Vorhaben, diese Konferenz zu veranstalten, in Betracht ziehen. Wir haben uns entschieden, es mit Juni 2018 und einem Picknick nach einem Bad in der Limmat in einem Vorort von Zürich beginnen zu lassen. Dort hatten wir uns ein paar Monate nach unserer gemeinsamen Zeit in der Bürogemeinschaft am Pariser Centre de sociologie de l'innovation wieder getroffen. Hier am Wasser begannen wir, über die Idee zu sprechen, die Organisation der nächsten STS-CH-Konferenz vorzuschlagen. Julio hatte gemeint: „Der Verein ist im Moment ins Stocken geraten. Aber dafür gibt es Platz (und Geld) für motivierte Leute.“ Loïc hatte den Ball aufgegriffen.
3Dieser Text befasst sich mit dem Schreiben des Aufrufs zur Einreichung von Beiträgen für diese Konferenz, von unserem ersten Ideenaustausch über die Veröffentlichung bis hin zur Rezeption bei den Mitgliedern des Organisationskomitees. Wir diskutieren sowohl den entstehenden Text, die richtigen Formulierungen und die zu verwendenden „Schlüsselwörter“ als auch, wie sie in Resonanz zu unserer eigenen Forschungstätigkeit stehen. Wir sprechen auch über Zweifel, wie der Text aussehen soll, und über die Berücksichtigung der Kritik derjenigen, die ihn gegengelesen haben. Durch diesen Austausch versuchen wir wiederzugeben, wie wir geschwankt sind zwischen unserer Lektüre und unseren Erfahrungen im Terrain einerseits und unseren Versuchen, einen Reflexionsraum für Forscher:innen der STS, aber auch darüber hinaus zu schaffen, andererseits.
- 3 Wir denken hier nicht nur an die Diskussionen über Wartung und Reparatur, zu denen Jérôme Denis und (...)
4Wie in vielen anderen Forschungsbereichen gibt es auch in den STS immer wieder Momente, in denen ein bestimmtes Thema heiss diskutiert wird. Das Thema „Materielle Fragilität“, dem dieses Themendossier gewidmet ist, ist ein hervorragendes Beispiel dafür.3 In der Regel führen solche Momente zu ausgiebigen theoretischen, konzeptionellen oder methodologischen Diskussionen sowie zu intensiven Debatten über die Auswirkungen dessen, was manchmal als disziplinäre Wendepunkte bezeichnet wird. Sie sind manchmal sogar so weitreichend, dass sie die Definition der betreffenden Disziplinen infrage stellen. Dieser Text versucht nicht, diese Überlegungen aufzugreifen. Vielmehr soll untersucht werden, wie sich diese „Wendepunkte“ auf die Forschungserfahrung, die Werdegänge der Forscher:innen und generell der Art und Weise auswirken, wie sie ihr Denken unterstützen. Hier verliert der Begriff „Wendepunkt“ vielleicht fast seinen metaphorischen Charakter und wird zu einem praktischen Vorgang, einem Manöver, das es durchführen gilt. Wie manövrieren wir konkret innerhalb unserer Disziplinen? Um Kollektive zu bilden, die der Reflexion dienen? Und wie fühlen wir uns umgekehrt diese Arten des gemeinsamen Reflektierens verbunden?
- 4 „Maintenir/Soutenir: de la fragilité comme mode d'existence (2017–2019) “, Forschungsseminar am Cen (...)
5Ausgehend vom Verfassen des Aufrufs gehen wir darauf ein, was wir durch unsere Lektüre und die Diskussionen über materielle Fragilitäten an der Seite der Menschen, mit denen wir in unserer Arbeit zu tun haben, gelernt und erfahren haben. Wir fragen auch, wie wir als junge Doktoranden, von denen sich einer mit Stadtplanung und der andere mit Musik beschäftigt, diese Fragen aufgegriffen haben. Was haben diese Lektüren und Diskussionen bei uns bewirkt? Worauf haben sie uns aufmerksam gemacht? Wie haben sie uns zum Denken gebracht? Für welche Erfahrungen sowohl in der Praxis als auch beim Schreiben haben sie uns geöffnet? Auf welche Weise haben sie uns geholfen, STS (neu) zu denken? Wir reinszenieren diesen Austausch auch innerhalb der Orte und Institutionen, die wir in dieser Zeit besucht haben, vom Centre de sociologie de l'innovation an der Pariser École des Mines, wo wir das Seminar „Maintenir/Soutenir“4 besucht haben, bis zum STS Lab der Universität Lausanne, das die Konferenz, die wir mitorganisiert haben, beherbergen sollte. Der Text zeugt auch vom Leben eines Vereins und den Aufgaben, die im Hintergrund erledigt werden und erlauben, ihn zu beleben. Wir versuchen also zu reflektieren, wie das Verfassen dieses Call for Papers einen Übergang darstellte (Hennion & Sintive, 2016), in dem Sinne, dass wir Ideen austauschten, aber auch, weil es ein Test für ein Projekt war - die Organisation einer Konferenz - und deren Durchführung.
Am Mo. 17. September 2018 um 16:55 Uhr schrieb Julio Paulos <julio.paulos@mines-paristech.fr>:
Lieber Loïc,
Ich hoffe, du bist gut aus Zürich zurückgekommen.
Ich habe dem Präsidenten von STS-CH geschrieben. Wie ich vermutet hatte, würde er sich freuen, wenn wir anbieten würden, die nächste Konferenz des Vereins zu organisieren. Ich leite seine Antwort weiter:
Tolle Idee für die Konferenz, bravo! Was wir für den Antrag bei der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften brauchen:
1. Eine Zusammenfassung des Themas, 1 Seite
2. Die Mitglieder des Organisationskomitees
3. Ein detailliertes Budget, mit Kosten und Zuschüssen/Partnern
Wir bräuchten die Unterlagen idealerweise bis Januar, damit wir noch nachbessern können, falls etwas harzen sollte. Ich füge die Dokumente bei, die wir für die Konferenz Collecting, Organizing, Trading Big Data verwendet haben (Beschreibung und Budget). Alle anderen Dokumente findest du unter diesem Link5 (vielleicht sind sie später noch nützlich).
Wichtig ist, dass du relativ schnell schaust, wer in deinem Netzwerk Lust hat, sich dem Projekt anzuschliessen und im Komitee mitzuarbeiten. Und dann schauen, welches Zentrum/welche Abteilung als Gastgeberin fungieren wird.
Ich stelle mir vor, dass wir zunächst einen Themenvorschlag ausarbeiten, der dann als Grundlage für das Verfassen des Call for Papers dient. Hast du schon eine Idee, wie es weitergehen soll? Wie ich dir bereits gesagt habe, sind die Aktivitäten des Vereins ins Stocken geraten. Die Herausforderung wird sein, ein Thema für ein breites Publikum herauszuarbeiten, um möglichst viele Menschen zusammenzubringen.
Ich schlage vor, dass wir uns demnächst treffen, um darüber zu sprechen.
Liebe Grüsse,
Julio
Am Mi. 19. September 2018 um 17:04 Uhr schrieb Loïc Riom <loic.riom@mines-paristech.fr>:
Lieber Julio,
Danke, dass du dich beim Präsidenten gemeldet hast. Seine Antwort ist ein gutes Omen für das Weitere.
- 6 Das STS Lab an der Universität Lausanne wurde im Januar 2016 gegründet. Es hat viele Kolleg:innen, (...)
Ich stimme dir zu, dass es wichtig ist, sich an ein breites Publikum zu wenden. Es stimmt, dass es ausser in Lausanne in der Schweiz nicht wirklich ein Labor gibt, das sich explizit auf STS konzentriert.6 Wenn STS gelehrt werden, dann oft nur am Rand. In Genf hatten wir eine kleine informelle Gruppe gebildet, um Texte von Bruno Latour oder Donna Haraway zu lesen und zu diskutieren, weil uns die Profs das eben nie weitergegeben haben. Trotzdem gibt es viele Kolleg:innen, die sich zum Teil in STS einschreiben und gleichzeitig in Abteilungen für Soziologie, Geografie, Geschichte oder sogar an Kunst- oder Designhochschulen arbeiten. Die Situation der STS in der Schweiz (vielleicht ist das auch anderswo ein wenig der Fall?) ist erstaunlich: Sie sind gleichzeitig überall und nirgends.
Gute Idee, das Thema mündlich zu besprechen. Was hältst du davon, wenn wir nächste Woche zusammen essen gehen? Ich freue mich darauf, dich wiederzusehen.
Bis bald,
Loïc
Am Do. 20. September 2018 um 18:23 Uhr, schrieb Julio Paulos <julio.paulos@mines-paristech.fr>:
Okay für den Termin nächste Woche. Ich kenne einen sehr guten Ort, um Pitas zu essen, nicht weit vom Bahnhof Bern entfernt.
Ich teile deine Beobachtung über den Stellenwert der STS in der Schweiz. Nicht zufällig gerät der Verein immer wieder in Schwierigkeiten. Hinzu kommt, dass es oft Doktoranden und Postdocs in prekären Situationen sind, die den Laden am Laufen halten ...
Es gibt eine Form von Paradox. Die STS waren sehr erfolgreich und ihr Bekanntheitsgrad hat sich auf alle sozialwissenschaftlichen Disziplinen ausgeweitet. Seit meinem Masterstudium konnte ich diese zunehmende Bedeutung sehr klar beobachten. Vielleicht ist das ein Effekt ihrer Reife, als wären sie aus ihrer Nische herausgekommen. Ich weiss nicht, ob du es gesehen hast: In einem Leitartikel der EASST Review weist Ignacio auf die Disziplinierung der STS in der europäischen Landschaft und ihren möglichen Verlust an Kreativität und Flexibilität als freies Elektron zwischen verschiedenen Disziplinen hin (Farías, 2017). Am Ende kommt er eben auf Konferenzen und die Art von Atmosphäre zu sprechen, die man bei solchen Veranstaltungen schaffen möchte. Lies doch diesen Text. Er könnte eine Inspiration sein.
Das wirft im Gegenzug aber die Frage auf, was ein Verein wie STS-CH leisten kann. Wie kann er ein Treffpunkt oder Diskussionsort oder sogar ein Bezugspunkt für Menschen sein, die aus ganz unterschiedlichen disziplinären Hintergründen kommen? Ich denke, das ist eine der Herausforderungen beim Schreiben dieses Calls: diese breite Community anzusprechen oder vielmehr ins Leben zu rufen, denn sie ist alles andere als gegeben. Wie kann man eine Schnittstelle schaffen, die diese Diskussionen zwischen verschiedenen Studiengängen ermöglicht? Die Aufgabe ist nicht einfach ...
So weit für den Moment. Wir reden nächste Woche weiter.
Schönen Abend!
Julio
6Vor dem Bad im Juli 2018 teilten wir uns ein Büro am Centre de sociologie de l’innovation: das OVNI (dt. UFO), nach Aussagen ehemaliger Doktorand:innen benannt nach den Forschungsthemen eines früheren Bürokollegen. Wahrscheinlich war es hier zwischen zwei Besuchen in der Cafeteria, wo wir die Gewohnheit entwickelten, gemeinsam zu reflektieren. Erwähnenswert ist auch die Bedeutung des Seminars „Maintenir/Soutenir“, das kurz nach unserer Ankunft im Zentrum begann. Einmal monatlich mittwochs stiegen wir die Wendeltreppe zur Salle Saint-Jacques hinunter, um die verschiedenen Gastreferent:innen zu hören. Wir beide erlebten dieses Seminar als ein wichtiges Ereignis. Vielleicht sollte man die Qualität eines Seminars sowohl an der Fülle der Diskussionen als auch daran messen, inwieweit es über seinen räumlichen und zeitlichen Rahmen hinausgeht. So haben wir dieses Seminar auf jeden Fall erlebt. Jede Zusammenkunft wurde von den Mitgliedern des Zentrums manchmal Tage lang diskutiert. Wir wurden von dieser kollektiven Resonanz erfasst.
7Fünf Jahre später stellen wir fest, dass uns zu diesem Zeitpunkt zwei Dinge völlig selbstverständlich erschienen. Als junge Forscher waren wir vielleicht zu leicht beeinflussbar. Einerseits bedeutete das Sprechen über Materialität vor allem, nicht über Dauerhaftigkeit zu sprechen, sondern im Gegenteil über Bewegung, Fragilität und Sorgfalt. Andererseits ermöglichte das Thema des Seminars, jedes beliebige Gebiet (weit über die blossen Arbeiten zu Care oder Instandhaltung hinaus) in Betracht zu ziehen und sehr unterschiedliche Disziplinen und Perspektiven nebeneinander zu stellen, sofern man wusste, worauf achten. Eine Bürogemeinschaft, die Atmosphäre eines Seminarraums, ein gemeinsames Bad: ist es manchmal faszinierend festzustellen, dass es für gemeinsame Reflexion nicht viel braucht. Natürlich waren nicht alle zu dieser Zeit in der Salle Saint-Jacques und haben gemeinsam diese beiden Selbstverständlichkeiten erlebt. Einige Kolleg:innen werden uns in bester Absicht sicher bald daran erinnern.
Am Di. 2. Oktober 2018 um 16:02 Uhr schrieb Loïc Riom <loic.riom@mines-paristech.fr>:
Lieber Julio,
Vielen Dank für die Diskussion von letzter Woche. Ich denke, wir haben einige gute Ansätze, um mit dem Verfassen der Argumentation zu beginnen. Mir gefällt die Idee, mit Materialitäten und ihrer Fragilität zu arbeiten, sehr gut. Meiner Meinung nach kann das an die Arbeit vieler Kolleg:innen anknüpfen, an eine Form des Engagements der Sozialwissenschaften und vor allem an Themen, die mit den aktuellen Ereignissen in Resonanz stehen: „natural risks“, „economic collapse“ und „ruins“. Ich habe begonnen, einen Text auszuarbeiten, den ich im Anhang mitschicke. Ich habe versucht, es einfach zu halten: eine Zusammenfassung einiger wichtiger Beiträge zu diesem Thema (ich überlasse es dir, sie zu ergänzen, wenn dir weitere einfallen), ein kurzer Punkt, der erklärt, dass die STS in dieser Bewegung wichtig waren, und dann die Ankündigung, dass die Konferenz ansprechen will, welchen Beitrag die STS für das Aufgreifen aktueller Themen leisten (auch diese Liste bitte ergänzen, anpassen usw.). Ich habe auch versucht, die Offenheit gegenüber anderen Disziplinen zu betonen, mit dem Hinweis, dass das Ziel darin besteht, „gathering scholars both from inside and outside this field of research“. Sorry im Voraus für mein Englisch.
Wie du sehen wirst, war ich sehr von den Personen inspiriert, die dieses Jahr beim Seminar „Maintenir/Soutenir“ gesprochen haben. Die Idee, die Fragilität von Dingen mit der von Menschen in Verbindung zu bringen, hat mich völlig umgehauen. In einigen Vorträgen – ich denke zum Beispiel an Alexej Yurchaks Vortrag über Lenins Körper (Yurchak, 2015) – verschwimmen diese Fragen völlig! Es ist nicht mehr so klar, was zur Reparatur eines Körpers, eines Kollektivs oder einer Nation gehört. Man spricht ja von „emerging worlds“, einer Welt, die im Entstehen begriffen ist. Ich muss zugeben, dass mich diese Diskussionen in der besonderen Atmosphäre der Salle Saint-Jacques sehr nachdenklich gemacht haben. Ein Grossteil dieser Autor:innen ist in der Bibliografie.
Liebe Grüsse,
Loïc
Am Mi. 4. Oktober 2018 um 11:59 Uhr schrieb Julio Paulos <julio.paulos@mines-paristech.fr>:
Lieber Loïc,
Was mir bei dieser Frage auch wichtig scheint, ist, dass sie nicht darauf abzielt, zu einem klar definierten Forschungsprogramm zu gelangen, sondern vielmehr darauf, Perspektiven und Gepflogenheiten zusammenzubringen, die die STS begleiten. Viele der Beiträge im Seminar stammten weder von Forschenden aus dem STS-Bereich noch befassten sie sich mit typischen STS-Inhalten. (Wie übrigens auch wir beide. Man könnte uns fragen: „Ihr arbeitet über die Stadt und die Musik. Warum versucht ihr, eine STS-CH-Konferenz zu organisieren?“) Es geht anders gesagt nicht um den Ehrgeiz, Schule zu machen, sondern darum, Synergien zu nutzen, etwas zum Sprudeln zu bringen. Ich schätze es, dass sich in der von dir vorgeschlagenen Bibliografie viele Anthropolog:innen, Philosoph:innen und Autor:innen finden, die weit über die STS im engeren Sinn hinausgehen. Was könnte besser zu unserem Anliegen passen, Menschen zusammenzubringen, die STS betreiben, ohne dies offiziell zu tun? Zudem besitzt die Idee vom „Ende der Welt“ oder vielmehr von Zusammenbruch und allgemeiner Prekarität eine Aktualität, die uns zwingt, bestimmte Fragen anders zu denken, um der Pluralität dieser Situationen gerecht zu werden.
Erinnernst du dich noch daran, was Didier Debaise im Seminar vertreten hat? Er hat erklärt, wie die Moderne ein rigoroses und gespaltenes Denken durchgesetzt hat. Diese Erfindung, die auf Spaltungen und Gegensätzen (Natur–Gesellschaft usw.) beruht, ist nicht nur die Antithese zum pluralistischen oder spekulativen Denken, sondern auch Teil der kognitiven Gebäude, aus denen sich unsere Untersuchungsmethoden zusammensetzen (Debaise & Stengers, 2016). Er hat neue Erzählungen (Kosmologien, um es philosophisch auszudrücken) gefordert, um dem Mainstream und den in unseren Disziplinen vorherrschenden Gedanken entgegenzutreten.
Was man mit diesen Vorschlägen anfangen soll, ist nicht immer so klar. Wie verhindern, dass sie nur zu etwas Oberflächlichem oder intellektuellen Spielereien werden, die keine wirklichen Auswirkungen darauf haben, wie wir Forschung durchführen? Darf ich dich fragen, wie du das, was du im Seminar gelernt hast, anwendest? Ich meine konkret auf deinem Gebiet!
Vielen Dank für deine erste Version des Aufrufs. Ich werde ihn mir nächste Woche ansehen.
Liebe Grüsse,
Julio
Am Mi 31. Oktober 2018 um 21:16 Uhr schrieb Loïc Riom <loic.riom@mines-paristech.fr>:
Lieber Julio,
Ich hoffe, dir geht es gut. Ich habe die Änderungen gesehen, die du am Online-Dokument vorgenommen hast. Vielen Dank.
Was ich durch den Kontakt mit dem CSI und den Besuch des Seminars zu Fragilität gelernt habe? Ausgezeichnete Frage! Weisst du, ich habe in den letzten Wochen viel darüber nachgedacht, weil ich gerade mein erstes Kapitel für das Doktoranden-Kolloquium schreiben musste. Ich fand diese Aufgabe furchtbar einschüchternd, zumal mein Doktorvater mir bei unseren letzten Gesprächen immer wieder gesagt hat, dass meine Notizen aus dem Terrain nicht präzise genug sind, dass ich meine Beschreibungen weiter ausarbeiten und bestimmte Situationen herausfiltern muss, um wiederzugeben, was gerade passiert. Ich muss zugeben, dass mir die Aufgabe kompliziert erschien, aber ein Gespräch mit David hat mir geholfen. Das war einige Tage nach Anne-Sophie Haeringers Vortrag im Seminar zu Fragilität. Ihre Art und Weise hatte mich sehr beeindruckt. Anne-Sophie arbeitet in der Palliativmedizin (was auf den ersten Blick nichts mit Musik zu tun hat). Eine Stunde lang drehte sich ihr Vortrag um den Fall eines Patienten und die Zweifel des Pflegeteams, was sie tun können, um ihm den Aufenthalt zu erleichtern. Sie liess die verschiedenen Erzählungen (der Gesundheitsfachkräfte, der Angehörigen des Patienten, ihre eigenen Gefühle) in einen Dialog treten. Vor allem beeindruckte mich die Art und Weise, wie sie schichtweise immer wieder die gleiche Situation und die gleichen Gespräche durchlebte, während sie gleichzeitig eine Art Offenheit für das Verstehen der Geschehnisse aufrechterhielt. Hatte sie alles richtig verstanden? Jedes Mal kam sie mit neuen Fragen, die ihrer Erzählung immer mehr Tiefe verliehen. In diesem Fall konnte man genau sehen, wie sich die Beschreibung nach und nach entfaltete! Gleichzeitig gelang es ihr, den Zweifel über das, was dort wirklich geschieht, aufrechtzuerhalten und zu vermeiden, dass ihre Beschreibung auf eine alles erklärende Finalität hinausläuft (Haeringer & Pecqueux, 2020). Verstehst du, was ich meine?
Als ich David von meinen Bedenken und Schwierigkeiten bei der Beschreibung der Abende von Sofar Sounds (Riom, 2021) erzählte, hat er mich an Anne-Sophies Beitrag erinnert. Er drängte mich, meine Notizen wieder aufzunehmen und auf die gleiche Weise schichtweise vorzugehen, um meine Aussage zu verdichten, das Geschehen, die Schwierigkeiten, auf die ich gestossen bin, aufzurollen. Um mit dem Schreiben anzufangen (immer schwierig, oder?), habe ich mich für ein Ereignis vor einigen Wochen auf einer Party entschieden. Ein Musiker, der seinen Computer auf einem Sofa abgestellt hatte, musste mit ansehen, wie dieser Computer heruntergefahren wurde, weil er überhitzt war. Ich hatte die Gelegenheit, mit dem Musiker und dem technischen Team über diesen Vorfall zu sprechen. Ausgehend von diesem Ereignis konnte ich die Art und Weise, wie sie die Abende gestalten, und die Fragilität der Einrichtung erforschen. Es ist nicht einfach für die Teams, die Akustik der Orte, die sie bespielen, in Griff zu bekommen, einen Weg zu finden, ihre Ausrüstung aufzubauen und gleichzeitig das Format der Konzerte zu gewährleisten. Gleichzeitig ist es genau diese Fähigkeit, sich an sehr unterschiedlichen Orten einzurichten, die die Stärke von Sofar Sounds ausmacht. Was als Stärke erscheint, rührt von einer Form der Fluidität und Fragilität her (ein wenig wie die Bush Pump von de Laet und Mol (2000)), der die Teams grosse Aufmerksamkeit schenken müssen.
Ich habe viel über Tsings Aufforderung „an art of noticing fragility“ (Tsing, 2017) nachgedacht. Übrigens könnte dieser Satz fast der Untertitel der Konferenz sein, was denkst du? Der Ausdruck ist gut gewählt. Gleichzeitig stellt er ein konkretes Problem für das Schreiben dar. Wie geht man vor, um die Fragilität zu bemerken? Es besteht die Gefahr, sich auf das zu konzentrieren, was offensichtlich als prekär, fragil und unsicher erscheint: wie die Freiheit der Pilzsammler in den Wäldern von Oregon, denen sie folgt. Weniger selbstverständlich bemerkbar ist die Fragilität eines Rechenzentrums, des Kapitalismus, des Staates oder eines gnadenlos erfolgreichen Start-ups. Ich würde sehr gern vermeiden können, die STS im Call in solche zu unterteilen, die sich mit der Peripherie, dem Rand oder den Untergeordneten beschäftigen, und solche, die über Wissenschaft, das Kontrollzentrum und Macht sprechen. Deshalb habe ich „large technical system» und «scientific knowledge“ zu der Liste dessen hinzugefügt, was fragil sein könnte. Sag mir, was du davon hältst?
Bis bald, take care,
Loïc
Am Mo. 12. November 2018 um 16:47 Uhr schrieb Julio Paulos <julio.paulos@mines-paristech.fr>:
Hallo Loïc,
Deine Überlegungen haben mich dazu angeregt, meine eigenen Beschreibungsstrategien zu überdenken. Zwei Dinge, die du geschrieben hast, klingen in mir mehr als alles andere nach. Die Art und Weise, wie du Äquivalenzbeziehungen zwischen deinen Notizen und unseren Inspirationen herstellen willst, um die Fragilität zu bemerken, sowie die Tatsache, dass du zu deiner eigenen Schlussfolgerung gelangst, indem du mit Kolleg:innen, Peers und Freund:innen nachdenkst.
Um mit Letzterem zu beginnen: Die Beobachtung und Erforschung von Fragilität ist für mich eine besondere Art der Untersuchung, die Teil dessen ist, was Celia Lury oder Nina Wakeford als „Untersuchung von Öffnungen“ (Lury & Wakeford, 2012) bezeichnen. Wenn ich mich recht erinnere, erklären Lury und Wakeford irgendwo, dass das, was untersucht werden soll, „das Ereignis“ ist, nicht als etwas Gegebenes, sondern durch seine Unbestimmtheit, seinen kontingenten und relationalen Charakter.
Für mich bedeutet das, dass wir die heuristische Kapazität unserer Forschungssettings überdenken. Wie können wir die Probleme, die wir untersuchen und analysieren wollen, erfassen, ohne die Performativität unserer eigenen Methoden zu leugnen? Ich erinnere mich, dass wir diesen Versuch im Doktoranden-Kolloqium am CSI durchgeführt haben. Antoine Hennion erklärte uns, dass wir die Besonderheit unserer Bereiche anerkennen müssen, indem wir die Situation an sich angehen und einbeziehen, aber gleichzeitig eine Beziehung zu dem herstellen, was ausserhalb liegt. Oder besser gesagt: Wir sollten sowohl die Bedeutung der semiotischen Materialität der Situationen, die wir beschreiben, als auch die radikale Heterogenität der Welten, die wir inszenieren, anerkennen.
Für mich ist diese Aufmerksamkeit für Situationen und ihre Fragilität in gewisser Weise auch ein Echo auf das, was Isabelle Stengers als Aufgeben der Macht von Fragen bezeichnet, um auf dem Prüfstein unserer Präsenz zu denken. Ich verstehe dies als eine Einladung, Wörter, Konzepte und Ideen aus der Tiefe der Situationen heraus neu zu überdenken, die von den vielfältigen Kompositionsweisen, in die wir uns begeben, gefordert werden wie auch in ihnen enthalten sind. Ich vergleiche sie mit der Idee, auf die Acht zu geben, die Acht geben, so wie es Jérôme und David vorschlagen, wenn sie Wartungsarbeiten mitverfolgen (Denis & Pontille, 2020). Ein Problem besteht nicht schon vor seiner Problematisierung. Wodurch taucht es als Problem auf? Dies wurde zu meiner bevorzugten Art der Beobachtung während meiner Arbeit o, Terraom. Diese Aufmerksamkeit für die Art und Weise, wie Stadtplaner Mittel und Wege entwickeln, um die Probleme anderer in eine abstrakte Form (Pflichtenheft, Klimapläne usw.) zu übersetzen, aus der eine Lösung hervorgehen kann, ist zentral für mein Beschreibungsdispositiv. So habe ich begonnen, städtebauliche Probleme nicht als Repräsentationen von Objekten, sondern als (Re-)Konstruktionen der Beziehungen zwischen öffentlicher Politik und städtischem Wissen zu begreifen (Paulos, 2021).
Ein bisschen weit ausgeholt. Ich hoffe, du kannst mir noch folgen. Auf jeden Fall werde ich noch am Abstract arbeiten, bevor ich es an das übrige Komitees schicke. Als Untertitel schlage ich „From neglected things to arts of noticing fragility“ vor. Was meinst du? Ich warte auf deine Rückmeldung zum Titel, bevor ich den Text an den Rest des Organisationskomitees schicke.
Take care,
Julio
8„Mit“ oder „ausgehend von“ zu denken statt „über“ ist wahrscheinlich eine entscheidende Lehre, die wir beide aus unserer Zeit beim CSI gezogen haben. Im Nachhinein stellen wir fest, dass das Verfassen dieses Aufrufs uns geholfen hat, diese Lektion jeder auf seine Art fruchtbar zu machen. Wenn wir auf unsere Gespräche während dieser Zeit zurückblicken, die verschiedenen Versionen des Textes noch einmal lesen oder versuchen, uns an unsere Gemütszustände zu erinnern, wird uns das Ganze vielleicht noch klarer. Das Schreiben zu mehrt ist ein seltsames Unterfangen. Man lernt den anderen von einer Seite kennen. Zwischen dem, was in einer E-Mail gesagt oder geäussert wird, und dem, was in einem Text formuliert wird, gibt es immer Verschiebungen, manchmal überraschende. Man setzt auch das aufs Spiel, was man glaubt, vom anderen, von einer Seminartreffen oder einem gelesenen Text verstanden zu haben. Der Spekulation lässt sich hier vielleicht die Tugend abgewinnen: Durch das Füllen von Lücken und das explizite Benennen von etwas, was in unserem Austausch nicht explizit war, oder das Ausführen von etwas, was zu komprimiert war, bieten sich neue Möglichkeiten, Rechenschaft darüber abzulegen, wie wir uns mit dem gemeinsamen Denken verbunden haben. Unsere Korrespondenz vermittelt vielleicht ein Gefühl von Langsamkeit. Wir erheben nicht den Anspruch, neues Wissen zu vermitteln. Stattdessen versuchen wir zu erforschen, wie eine Idee be- und überarbeitet wird.
9Wenn man auf diesen Austausch zurückblickt, stellt man fest, dass wir keine sterile oder entkörperlichte Beziehung zu Ideen haben. Die diskutierten Ideen, Konzepte und Ansätze sind auch Formen der Verbundenheit mit Orten, Personen oder Denkweisen. Wenn uns Ideen manchmal gefallen, ärgern oder abstossen, dann deshalb, weil sie eben das aufs Spiel setzen, woran uns liegt. Vielleicht müssen wir nur noch Erzählformen gefunden werden, die dem besser gerecht werden.
Am Mo. 10. Juni 2019 um 18:25 Uhr schrieb Loïc Riom <loic.riom@unige.ch>:
Lieber Julio,
Ich hoffe, es geht dir gut und du hast dich vom Treffen letzte Woche erholt. Ich muss zugeben, dass ich von den Reaktionen unserer Kolleg:innen überrascht war. Wir hatten gehofft, einen breiten und verbindenden Text zu verfassen, und unser Aufruf wurde als „sehr gelehrt“, ja sogar als „jargonhaft“ und „zu philosophisch“ bezeichnet. Meine Überraschung rührt vielleicht daher, dass ich mir nicht darüber im Klaren war, dass über all das, was wir seit einigen Monaten diskutiert haben, weniger Einigkeit besteht, als ich gedacht hatte. Darauf war ich überhaupt nicht vorbereitet. Wir sprechen von Fragilität, von Multiplizität und einige unserer Kolleg:innen erwarten die klassischen Probleme der STS: Wissen, Wissenschaft, Expertise, Innovation, Beziehungen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Aber muss man nicht gerade über diese bereits gut ausgearbeiteten Themen hinaus denken, wenn man andere Kolleg:innen einbeziehen möchte? Das vorgeschlagene Thema, so scheint mir, ermöglicht gerade einen Wendepunkt, nicht im Marketing-Sinn, sondern indem neue, wenig erforschte Horizonte eröffnet werden.
In unseren bisherigen Austausch hatten wir die Ambiguität des Arbeitens in Bereichen angesprochen, die nicht als STS bezeichnet werden können. Ich habe das Gefühl, dass ich auf meinen Status als Musiksoziologe zurückgeworfen wurde. Als ob ich von einer Gesinnungskontrolle verhört würde, ob das, was wir vorschlagen, wirklich STS ist. Schon merkwürdig, dass man, wenn man ein breiteres Publikum ansprechen will, von den Leuten, die mehr STS sind, kritisiert wird. Zum Glück haben wir mit unserem Wunsch, das Publikum der Konferenz zu öffnen, bei einigen Leuten doch Anklang gefunden. Mir ist klar, dass wir noch viel Erklärungsarbeit leisten müssen, um unsere Kolleg:innen von unserem Anliegen zu überzeugen. Eine ziemliche Aufgabe!
Bis bald,
Loïc
Am Fr., 15. Juni 2018 um 17:27 Uhr schrieb Julio Paulos <julio.paulos@unil.ch>:
Lieber Loïc,
Ich verstehe, was du meinst. Diese Rückmeldungen waren völlig frustrierend. Einige schienen zu glauben, dass der Aufruf kein Publikum finden und von niemandem verstanden werden würde. Ist das eine Frage der Generation? Das glaube ich nicht. Liegt es an der Definition von STS? Sicherlich zumindest teilweise: Die Fragilität, die Wartung der Dinge erscheinen in den Augen einiger unserer Kolleg:innen, die mit internationalen Forschungsnetzwerken, Weltraumteleskopen, soziotechnischen Vorstellungen usw. hantieren, vielleicht als zu „unbedeutende“ Inhalte. Oder hängt es mit einer Disziplin im Übergang zusammen und der Tatsache, dass man sich bei Veränderungen gezwungen fühlt, an bestimmten Denkweisen festzuhalten? Das erinnert mich an diese endlose Debatte in Social Studies of Science über den ontologischen Turn (Woolgar & Lezaun, 2013). Ich weiss nicht, inwieweit man eine Parallele zwischen einem unbedeutenden Treffen und einer akademischen Debatte ziehen kann, aber ich werde es versuchen. Im Wesentlichen ist der Punkt, den ich ansprechen möchte, die Frage: Wann können wir auf eine Wende verweisen? Wann ist sie ganz oder wann nur teilweise vollzogen? Nach dieser Sonderausgabe fand eine Kritik bzw. längere Debatte darüber statt, was an der ontologischen Wende ontologisch ist und was es bedeutet, wenn man sagt, dass es sich tatsächlich um eine Wende handelt.
Der erste Punkt, der mir bei dem Treffen auffiel, war die Art und Weise, wie die Fragilität nur als Rückkehr zu einem sehr klassischen Materialismus oder aber zu allzu philosophischen Diskussionen wahrgenommen wurde. Wie in den Debatten nach der Sonderausgabe mussten wir am eigenen Leib das Argument erfahren, dass dieses Thema angeblich schon erschöpfend behandelt ist. In gewisser Weise hatten diese Kolleg:innen andere Referenzen als Diskussionsrahmen im Kopf, wie „knowledge“, „epistemologies“ oder „practices“. Ich meine, dass dies wahrscheinlich mit einem eher klassischen Verständnis des materiellen Konstruktivismus und der Aufmerksamkeit für nicht so offensichtliche oder nicht so unmittelbar ontologische Fragen wie wissenschaftliche Erkenntnisse und Techniken und ihre sozialen und politischen Folgen zusammenhängt. Was ich nicht verstehe: Wir haben doch bewusst erwähnt, dass unsere Argumentation aus einer neueren Perspektive stammt, die sich nicht gegen diese älteren Perspektiven richtet, sondern sie im Gegenteil weiterführt. Wenn wir von den Künsten der Wahrnehmung (Tsing, 2017) oder von Matters of Care (Puig de la Bellacasa, 2011) sprechen, leugnen wir nicht das Erbe der traditionelleren STS-Ansätze.
Der zweite Punkt, der mir auffällt, ist, dass die Literatur, auf die wir uns beziehen, Teil einer viel umfassenderen intellektuellen und politischen Bewegung ist, die über die STS hinausgeht! Wie dem auch sei, ich habe damit begonnen, den Text zu „vereinfachen“. Ich versuche, sowohl die disziplinären als auch die thematischen Übergänge deutlicher herauszuarbeiten. Die Disziplinen ändern sich, aber auch das, wofür wir empfänglich sind, die Probleme, aus denen „die Gesellschaft“ besteht – daher rührt meiner Meinung auch das fachexterne Interesse an STS, aber auch das Interesse der STS, sich von anderswo inspirieren zu lassen.
Liebe Grüsse,
Julio
Am Mo. 2. September 2019 um 19:26 Uhr schrieb Loïc Riom <loic.riom@unige.ch>:
Lieber Julio,
Vielen Dank für die Änderungen, die du am Text vorgenommen hast. Ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg, und ich hoffe, dass die Reaktionen diesmal positiver ausfallen werden. Vor allem hoffe ich, dass wir ein wenig Begeisterung wecken können. Denn letztlich ist es glaube ich trotz allem das, was mir in Erinnerung geblieben ist. Statt von Wendepunkten könnte man auch von einem Aufschwung sprechen. Durch verschiedene Umstände haben wir beide an diesen Seminaren im CSI teilgenommen und waren gepackt von Diskussionen, Themen oder Fragen, deren Existenz wir nicht einmal ahnten. So wie ich unsere Gespräche verstehe, haben wir uns zwar nicht direkt mit der Frage der materiellen Fragilität auseinandergesetzt, aber dennoch viel aus ihr gelernt. Wir haben sie genutzt, um auf andere Weise mit unserem Gebiet und dem, was dort geschieht, umzugehen. Ich glaube, mit dieser Konferenz möchte ich eine Einladung aussprechen. Das bringt es noch nicht auf den Punkt. Sagen wir, diese Begeisterung zu teilen, „in Freude zu denken“, wie es die Mitglieder der konstruktivistischen Studiengruppe immer so schön formulieren, wenn sie sich auf ihre Kolleg:innen beziehen. Das ist es auch, was uns in die Lage versetzt, unsere Forschung durchzuführen.
Ich bedauere, dass es nicht mehr Formate gibt, um besser wiedergeben zu können, wie man gemeinsam denkt. Stell dir vor, man würde diesen Mailaustausch veröffentlichen. Wer würde ihn lesen wollen?
Bis bald,
Loïc
Am Di. 3. September 2019 um 10:37 Uhr schrieb Julio Paulos <julio.paulos@unil.ch>:
Lieber Loïc,
Ich denke, jetzt ist alles bereit. Letztendlich waren die Anmerkungen und Rückmeldungen der Kolleg:innen hilfreich. Der Call ist viel breiter angelegt und dennoch präzise genug, um auf die Besonderheiten verschiedener Forschungsgemeinschaften einzugehen.
Mir kam etwas in den Sinn: Fragilität könnte auch als Herausforderung gelesen werden, die noch kein Problem ist. Von einer Herausforderung (oder einem Issue) zu sprechen, kehrt die Frage nach dem Problem nämlich um (Marres, 2007). Sie werden nicht mehr mithilfe einer Technik gelöst. Stattdessen erzeugen sie Formen der Debatte und des Engagements, die über den institutionellen Rahmen hinausgehen. In meiner Dissertation habe ich versucht, dies anhand der Erweiterung des Engagements von ANT auf die Empirie zu zeigen. Ich erinnere mich, dass du gesagt hast, dass man Fragilität nicht mit Ungewissheit verwechseln sollte und dass sich Erstere sehr unterschiedlich manifestiert, je nachdem, wie sie berücksichtigt wird. Völlig einverstanden. Dennoch scheint mir, dass die Artikulation der „Issues“ bereits stattfindet und durch eine Ökologie fragiler Modelle konstituiert wird. Dies gilt zumindest für städtebauliche Probleme, wo sich eine Umweltherausforderung mit den bereits sehr unsicheren Wegen überlagert, wie verschiedene Sichtweisen in öffentliche Entscheidungen einbezogen werden.
Auf jeden Fall würde ich mich freuen, diese Diskussion bei einem Bier fortzusetzen.
Take care,
Julio
Am Do. 28. November 2019 um 11:56 Uhr, schrieb Loïc Riom <loic.riom@unige.ch>:
Lieber Julio,
Ausgezeichnete Nachrichten! Der Text wurde freigegeben. Ich kann es kaum erwarten, bei der Konferenz dabei zu sein. Wir werden sehen, ob wir richtig gelegen sind und unser Aufruf die Gemeinschaft ansprechen wird, die wir uns erhoffen.
Auf jeden Fall vielen Dank, nicht nur für deine Gastfreundschaft in Zürich, sondern auch für die Freude am Schreiben zu zweit.
Loïc
10Im Radsport gibt es ein Sprichwort: „Der Veranstalter machen Vorschläge, am Ende entscheiden die Fahrer“. So gesehen scheint die herausfordernde Arbeit, einen Call for Papers zu verfassen, gelungen. Mehr als 140 Kolleg:innen haben darauf reagiert. Einige Vorschläge knüpften an die von uns initiierten Themen an – Reparatur, Pflege der Infrastruktur, Zukunft der Städte, Umweltfragen –, andere an aus der Sicht der STS eher klassische Fragen – Innovation und technisch-wissenschaftliche Zukunft, Wissenschaftspolitik, Gesundheit. Als wir die lange Liste der Titel dieser Vorschläge durchgingen, waren wir auch von Forschungsarbeiten überrascht, an die wir nicht gedacht oder die wir uns nicht einmal vorgestellt hatten: die Wartung eines kryptografischen Standards (Besençon, 2022), die städtische Fauna (Chalmandrier et al., 2023) oder die Verschmutzung städtischer Böden (Meulemans, 2020). Natürlich haben nicht alle Personen in gleicher Weise auf den Aufruf reagiert oder teilen unser Verständnis für die Fragen, die wir zu formulieren versucht hatten. Aber vielleicht ist es auch das, was ein Forschungsfeld bewegt.
Dieser Text hat sehr durch die Rückmeldungen und Ratschläge gewonnen, die wir von Jérôme Denis und David Pontille sowie den Mitgliedern des Redaktionsausschusses der RAC erhalten haben. Wir danken auch allen Kolleg:innen, mit denen wir das Vergnügen hatten, die STS-CH-Konferenz 2021 zu organisieren. Der deutsche Text wurde von Birgit Althaler bearbeitet.