1Die literarische Erzählform Roman wird gerne als der Kannibale unter den Genres bezeichnet, da der Roman weniger über ein in sich geschlossenes und abgeschlossenes Format verfügt, das sich selbst genug wäre, als vielmehr alle anderen Genres in sich aufnehmen kann und der sich wandelnden Welt gegenüber stets offen ist: Neue Weltbilder, Diskursformen und veränderte technische Möglichkeiten schlagen sich in Form und Inhalt des Romans je nieder. Umgekehrt macht diese Dynamik das Genre immer dann besonders interessant, wenn es darum gehen soll, einen gesellschaftlichen oder kulturellen Wandel einschließlich des Aufkommens neuer Medien auf Basis der literarischen Produktion sichtbar zu machen. Oft genug ist die Medienlandschaft im weitesten Sinne – welche Medien stehen zur Verfügung, wie werden sie gesellschaftlich diskutiert und problematisiert, und wie steht es um die Institutionen dieser Landschaft – im Roman wiederzufinden und dient als grundlegendes Gestaltungselement. Medien, Medienwandel und Intermedialität finden sich also explizit und implizit im Roman wieder: Explizit bedeutet, „the reference to a single artifact or medium will be visible at the surface of the text by naming, mentioning, thematizing or referencing a non-literary piece of art or another medium“ (Hallet 2015: 606), wohingegen die implizite Form auf die literarische Nachahmung der Ästhetik und Funktion eines anderen Mediums abstellt, ohne dieses selbst zu erwähnen (ebd.: 607).
2Wenn man sich darüber hinaus besonders für die Formulierung des Religiösen in der Literatur und den Wandel desselben interessiert und dabei davon ausgeht, dass das Religiöse kommuniziert werden muss, um in der Welt zu sein, zeigt sich von selbst, in welch engem Verhältnis Medien und Religion stehen. So wird sich dieser Beitrag mit der literarischen Umsetzung von Medialisierung religiöser Erfahrung im Roman beschäftigen, in der Absicht, die kulturelle Dynamik und Aufnahmefähigkeit des Genres Roman zu nutzen, um den Wandel dieser Medialisierung in der türkischen Roman-Literatur und, ansatzweise, auch in der türkischen Gesellschaft nachzuvollziehen. Von besonderem Interesse ist hier die Formulierung der mystischen Erfahrung, denn diese scheint für das literarische Schaffen sowohl eine besondere produktive Kraft zu besitzen als auch eine besondere Attraktivität als Thematik, wie nicht nur die Texte christlicher und muslimischer Mystiker und Mystikerinnen zeigen, sondern auch die Entwicklung moderner literarischer Strömungen wie der „gottlosen Mystik“ (Wagner-Egelhaaf 1989). Darüber hinaus hat die islamische Mystik einen Stellenwert innerhalb der religiösen Kultur der Türkei, der erheblich größer ist, als man es beispielsweise von der christlichen Mystik der Gegenwart in Europa kennt. Parallel dazu ist die Mystik, mystisches Erleben und Mystik als Teil der Gesellschaft, eines der großen Themen der türkischen Literatur.
- 1 Weitere Beispiele aus der türkischen, hier früh-republikanischen, Literatur analysieren Uğurlu/Demi (...)
3Die türkische Romanliteratur ist reich an Werken, die sich aus unterschiedlichster Perspektive mit religiösen und spirituellen Themen auseinandersetzen. Besonders häufig behandeln solche Werke Aspekte der islamischen Mystik, des Sufismus, sei es in Form von historischen Referenzen oder säkularen Umsetzungen einzelner sufischer Topoi. „Secular Sufism, as a specific experience of sacredness in secular Turkish contexts, appears early in the Republican novel and can be traced through almost every period of Turkish literary modernity“ (Göknar 2013: 12).1 Themen des Sufismus, sufische Weisen der Welterfahrung und des Verstehens literarisch zu verarbeiten, stellt allerdings gerade für den Roman eine besondere Herausforderung dar, muss doch das eigentlich Unsagbare und Außerzeitliche in Worte gefasst werden; das Erfassen aber, also das Lesen, erzwingt eine lineare, auch in der Zeit fortschreitende Tätigkeit. Noch mehr als die Poesie oder der sakrale Text scheint die temporale Grundstruktur des Romans dem sufischen Erfahren und Verstehen entgegenzustehen, wird doch in diesem Genre stets von einem Wandel erzählt, der sich zwischen Anfang und Ende abspielt. „Dies gilt selbst dann, wenn man annimmt, dass der postmoderne Roman die Vorstellung von der Linearität des Erzählens erheblich in Frage stellt“ (Hallet 2011: 103).
4Wie die große Zahl der Werke zeigt, die von Mystikern verschiedener Zeiten und Religionen verfasst worden sind, will, ja muss mystische Erfahrung versprachlicht werden. Der daraus entstandene Text repräsentiert allerdings niemals die Erfahrung selbst, sondern wiederum nur einen „Ausdruck einer Erfahrung“ (Döbler 2013: 52). Die Differenz zwischen Erfahrung und deren textueller Widergabe wird durch die Mystiker unterschiedlich deutlich reflektiert. Die ungebildeten unter ihnen, so schreibt Bernd Radtke, produzieren „theopathetic utterances“ (Radtke 1996: 165), während andere, wie al-Ghazali (gest. 1111), in elaborierter Poesie Erleben und Nicht-Sagen-Können verarbeiten.
What happened, I do not wish to say
Believe it good and ask no more, I pray
(Al-Ghazali, Al-Munqidh min al-Dalāl, Der Erretter aus dem Irrtum, nach Radtke 1996: 165).
5Anders als Mystiker, deren Problem darin bestehen kann, für die eigene transzendentale Erfahrung einfach nicht den richtigen Ausdruck zu finden, stehen Autoren literarischer Texte erst gar nicht in der Pflicht, den Unterschied zwischen Erfahrung und Ausdruck zu überdecken oder zu überbrücken. Sie können im Gegenteil das mystische Erleben ihrer Figuren auch im Roman durch literarische Mittel simulieren und sich zugleich distanzieren, die Wahrheit der Erfahrung nach Belieben bestätigen oder in Zweifel ziehen. Verschiedene stilistische Mittel und literarische Strategien stehen den Autoren hierbei zur Verfügung. Beispielsweise kann der „mystische Sprachduktus der Apophase“ (Wagner-Egelhaaf 1995: 96) das Erleben simulieren: Da nichts die Erfahrung wirklich wiedergeben kann, arbeitet die Apophase mit der Negation des gerade Gesagten, mit zeitlosen und schwebenden Bildern.
6Ein anderes Mittel, das es erlaubt, das mystische Erleben der Figuren in etwas Erzählbares zu transferieren, sind Medien im umfassenden Sinne. Zum einen weist natürlich jedes literarische Werk selbst bereits einen medialen Charakter auf. Doch darüber hinaus spielen Medien auch in vielen Werken eine entscheidende Rolle. Sie können selbst Thema sein; sie können aber auch beschränkt auf eine bestimmte Funktion als Teil einer literarischen Strategie auftreten, die Form des literarischen Erzählens beeinflussen oder Bestandteil der Inszenierung sein. Medien können kategorisiert werden und in unterschiedliche Arten intermedialer Beziehungen eintreten. Neben der Einteilung anhand technischer Eigenheiten (Printmedien, elektronische Medien usw.) ist im Zusammenhang mit Literatur die Verwendung einer Sache als Medium oft von größerem Interesse als die technische Kategorisierung. So können Dinge als Zeichenträger dienen (Lüdeke 2004: 12) oder als Mittel der Welterzeugung (Krämer 1998: 85) oder Vermittler zwischen zwei Zuständen (Bach 2001: 15) und zwei Welten auftreten.
- 2 Ich werde im Folgenden die – in der Regel religiösen – Termini und Namen, die ihren Weg aus anderen (...)
7Wenn es, wie in diesem Artikel, insbesondere um Aspekte des Sufismus in türkischen Romanen geht, dann tritt ein Medium hinzu, das in anderen Literaturen in ähnlicher Form, aber nie in derselben kulturellen und religiösen Spezifik zu finden ist, nämlich der mystische Religionsspezialist im Islam, der mürşit2 (arab. muršid) oder şeyh (arab. šaykh). Er führt die Adepten auf ihrem Weg und ist zugleich ein unabdingbares Element auf diesem Weg. Erst mit und durch den Meister gelangt der mürit (arab. murīd) zu Erfahrung und Erkenntnis. Diese enge Verbindung wird durch verschiedene Argumente begründet, beruht vor allem aber auf der Vorstellung vom Propheten als erstem Sufi, dem alle anderen in einer endlosen Kette der imperfekten Nachahmung folgen:
[…] the shaykh is himself following the sunna of the Prophet and imitating the Prophet, and so he who imitates the shaykh is thus imitating the Prophet, but with a nearer, more visible model. […] In loving his shaykh, a Sufi is ultimately loving God (Sedgwick 2000: 37).
8Dieser Beitrag hat zum Ziel, die Frage nach Formen von ‚neuer Religiosität‘ in der Türkei anhand von Romanliteratur und mit einem Fokus auf der literarischen Gestaltung mystischen Erlebens zu erörtern. Diese Gestaltung basiert wesentlich auf dem Einsatz von Medien aller Art, einschließlich des schon erwähnten mürşits. Die Analyse der Medien, die in den betrachteten Romanen jeweils eine Rolle spielen, erlaubt es, Formen der Vermittlung zu erkennen, denen – in Abhängigkeit vom außerliterarischen Kontext ihrer Entstehungszeit – besonders hohe Angemessenheit und Erfolg zugeschrieben werden. Diese Annahme ist inspiriert von Charles Taylors Überlegungen, dass die Vermittlung religiösen Erlebens eines Vokabulars bedarf, das zum größeren Teil gesellschaftlich vorgegeben und dadurch verständlich ist. Selbst die Art der Erfahrung ist nach Taylor gesellschaftlich bedingt.
Denn alle Erfahrungen benötigen irgendein Vokabular, und diese Vokabulare werden uns zwangsläufig in erster Linie von unserer Gesellschaft vermittelt, ganz gleich, welche Variationen wir später an ihnen durchspielen werden. Das, was wir religiöse Erfahrung nennen könnten, erhält seine Gestalt unmittelbar von den Ideen oder dem Verständnis, mit dem wir unser Leben leben. Und diese Sprachen, diese Vokabulare sind niemals lediglich die eines Individuums (Taylor 2002: 30-31).
- 3 Charles Taylor verweist in diesem Zusammenhang an der angegebenen Stelle auf die Arbeiten des ameri (...)
9Ob jemand einen Erweckungstraum oder eine Engelssichtung hat, hängt ganz eng damit zusammen, ob es in seiner Gesellschaft geläufig ist, solche Erfahrungen zu haben.3 Doch gleichzeitig trifft der Autor eines literarischen Werks eine Entscheidung hinsichtlich der Auswahl und des Einsatzes der in seinem Text auftretenden Medien, was einen Rückschluss auf die Selbstpositionierung desselben im gesellschaftlichen Kontext seiner Zeit erlaubt. Anders gesagt, es geht um „das dialogische Verhältnis […] zwischen neuen Medien und Medienformaten auf der einen Seite und dem literarischen Erzählen im Roman auf der anderen“, wobei der technische Medienwandel sich auch auf das literarische Erzählen und das Genre des Romans auswirkt (Nünning/Rupp 2011: 6).
10Es handelt sich um einen kulturwissenschaftlichen Zugang, der nicht den Versuch unternimmt, das mystische Erleben einer Romanfigur ‚verständlich‘ zu machen, sondern danach fragt, wie darüber gesprochen wird, wie „die Subjekte solcher Erfahrungen bewertet und eingeschätzt werden, weshalb und zu welchen Zweck sie thematisiert werden, welche Ursachen, Funktionen und Wirkungen man diesen Erfahrungen zuschreibt […]“ (Spörl 2001: 219).
11Der Beitrag verbindet also allgemeinere Ansätze zur Intermedialität in der Literatur, insbesondere dem Roman, mit der näheren Betrachtung eines spezifischen Mediums, des mürşit, und versucht aus dieser Perspektive Erkenntnisse über die Position der islamischen Mystik in der türkischen Gesellschaft aus der Sicht des Autors zu gewinnen. Durch den Vergleich eines zentralen Werkes mit zwei früheren Romanen wird zugleich der Versuch unternommen, den außertextlichen, technischen Medienwandel in der Türkei mit dem Wandel des literarischen Erzählens im Allgemeinen und der literarischen Umsetzung des Mediums ‚şeyh‘ im Besonderen in Beziehung zu setzen.
- 4 Der Roman erschien zuerst unter diesem Titel in englischer Sprache, im folgenden Jahr mit kleineren (...)
12Als zentrales Beispiel dieser Analyse dient Bab-ı Esrar (2008) von Ahmet Ümit; ergänzend werden The Clown and his Daughter (1935)4 von Halide Edip Adıvar sowie Kadınlar Tekkesi (1956) von Refik Halit Karay hinzugezogen. Die Auswahl der Texte beruht zum Teil auf ihrer Popularität: So gehören Adıvars und Karays Roman zu den Klassikern der modernen türkischen Literatur; Ümits Bab-ı Esrar wird bis heute stetig neu aufgelegt und ist in verschiedene Sprachen übersetzt worden. Zugleich entstanden die Werke in ganz unterschiedlichen politischen Phasen, wobei in jeder dieser Phasen ‚Religion‘, einschließlich der Mystik, wichtiger Bestandteil des politischen Diskurses war – unbeschadet der unterschiedlichen Bewertung von Religion in den einzelnen Zeiträumen. Zuletzt unterscheiden sich die drei Werke in signifikanter Weise hinsichtlich der gesellschaftlichen Bedeutung und der literarischen Funktion, die die Autor*innen der Mystik zuweisen.
13In allen drei Romanen spielt, ganz grob formuliert, die Beziehung zwischen einer weiblichen und einer männlichen Figur eine konstitutive Rolle. Die gesellschaftliche Bedeutung, die dieser Konstellation zukommt, sowie der komplexe Zusammenhang zwischen zugeschriebenen Geschlechterrollen und den Vorstellungen über die Beziehung zwischen dem mystischen Lehrmeister und seinem Schüler – den gendered imageries (Malamud 1996: 89) – werden in diesem Beitrag nur insoweit behandelt, als sie sich aus dem eigentlichen Thema, der Medialisierung der religiösen Erfahrung, ergeben.
- 5 Soweit nicht anders angegeben, stammen alle Übersetzungen ins Deutsche im Verlauf dieses Aufsatzes (...)
Hu hu hu Derwisch / der Derwisch hat ein Kloster eröffnet / sein Rock hat Geheimnisse versprüht / aber niemand hat sie gelöst / hu hu hu Derwisch / sein Kopf hat den Himmel erreicht / sein Bart hat den Boden berührt / seine Lippen haben Geheimnisse versprüht / aber niemand hat sie gehört …
Das war ein Reimspruch, den mein Vater aufsagte, als ich noch ein kleines Kind war, wenn er mich schlafen legte, gerade so wie ein Schlaflied. Meine Mutter sagte immer, dass ich auch nach Jahren diesen Reim nicht vergessen hätte. Bis zum Beginn der Grundschule soll auch ich diesen Reim aufgesagt haben, wenn ich meine Puppen schlafen legte. Schön und gut – doch wer sagte jetzt diesen Reim auf? Ich wendete meinen Kopf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Ein paar Augen so blau wie ein wolkenloser Himmel blickten mir entgegen (BE: 201).5
- 6 Der auf Türkisch verfasste Roman ist bisher nicht ins Deutsche übersetzt worden.
14Bab-ı Esrar von Ahmet Ümit, zu Deutsch Tor der Geheimnisse,6 ist als Kriminalroman angelegt und überschreitet zugleich die Genregrenzen hin zum spirituell-fantastischen Roman und zum Bildungsroman (Tüfekçioğlu 2011). Das Werk steht in einer Reihe von vielen weiteren voneinander unabhängigen Kriminalromanen desselben Autors. Aktuelle Themen der politischen und gesellschaftlichen Diskussion in der Türkei bilden bei Ahmet Ümit in der Regel den Hintergrund, auf dem sich der Roman entwickelt. Die große Popularität, die der Mystiker Mevlana Celaleddin Rumi (1207-1273) und die sich auf ihn gründende Mevleviye als vermeintliche Form sowohl des ‚türkischen‘ als auch des ‚liberalen Islam‘ zu Beginn der 2000er Jahre in der Türkei erfuhren, trug ohne Zweifel zur Entstehung des in der englischen Übersetzung The Dervish Gate (2011) betitelten Romans bei. Der achthundertste Geburtstag Rumis im Jahr 2007 war in den Kultur-Gedenkkalender der UNESCO aufgenommen worden, und so bot die Ausrufung des sogenannten Rumi-Jahres in der Türkei Institutionen aller Art, einschließlich staatlichen, die Gelegenheit, mittels kultureller Veranstaltungen auf die besondere Anerkennung des Rumi-Erbes durch die Weltgemeinschaft zu verweisen. Neben Ahmet Ümit veröffentliche auch Elif Shafak, eine ebenfalls populäre türkische Schriftstellerin, in dieser Zeit einen Rumi-Roman, nämlich Aşk (2009), zu Deutsch Die vierzig Geheimnisse der Liebe. Allerdings bediente Elif Shafak mit diesem Werk viel mehr einen internationalen Markt (des Interesses an spirituellen Themen), wohingegen es sich bei Bab-ı Esrar um einen in der Kernaussage sehr türkischen Roman handelt, wie schon Zeynep Tüfekçioğlu (2011) gezeigt hat.
15In diesem Roman verknüpft der Autor mehrere Geschichten auf unterschiedlichen Zeitebenen und außerhalb der Zeit. Der Übergang von einer Geschichte zur anderen wird ganz explizit durch den Einsatz (verschiedenartiger) Medien hergestellt. Nicht zuletzt der Titel, Tor der Geheimnisse, verweist auf dieses Grundelement der Erzählstruktur.
16Die Erlebnisse der englischen Versicherungsagentin Karen Kimya Greenwood, die sich für ihren Arbeitgeber von London nach Konya in der Türkei aufmacht, um einen Hotelbrand zu untersuchen, stehen im Zentrum des Romans. Mittels der Figur dieser erfolgreichen und schwangeren Frau, Tochter eines türkischen Sufis und einer britischen Ex-Hippie, verknüpft Ümit mehrere Themen, die er im Laufe des Romans regelrecht durcharbeitet. Als Karen Kimya sich auf ihre Reise aufmacht, weiß sie noch nicht, dass sie an einem Wendepunkt in ihrem Leben angekommen ist. Doch während ihres Aufenthaltes, der nur wenige Tage dauert, erfahren Seele und Geist der zwar in Arbeit und Partnerschaft erfolgreichen, doch von ihren seelischen Bedürfnissen und ihrer familiären Vergangenheit weitgehend abgeschnittenen Frau einen Heilungsprozess, der es ihr ermöglicht, sich in ihrem Londoner Leben neu zu positionieren.
17Im Rahmen des Kriminalromans nimmt Karen Greenwood die Position des Ermittlers oder Detektivs ein: Ihre Aufgabe ist es, die Hintergründe, die zeitlichen und technischen Einzelheiten des Hotelbrands zu prüfen und womöglich Hinweise auf Brandstiftung oder wenigstens Fahrlässigkeit zu finden – in diesem Fall wäre die Versicherung nicht mehr in der Pflicht zu zahlen und hätte mehrere Millionen Pfund gespart. Diese Aufgabe ist also nicht ungefährlich für Karen Kimya, denn sollte es sich tatsächlich um Brandstiftung und Versicherungsbetrug handeln, würden die Täter alles versuchen, dies zu verheimlichen und die Versicherungsagentin in die Irre zu führen, vielleicht sogar zu töten.
18Elemente des Bildungsromans finden sich in Karen Kimyas Auseinandersetzung mit ihrer persönlichen Geschichte. Die Reise nach Konya wird zum Trigger der Auseinandersetzung mit einem lange verdrängten Kindheitstrauma. „The bildungsroman focuses on the image of the human in the process of becoming“ (Gürle 2014: 92, gestützt auf Mikhail Bakhtin). Karen ist schwanger und hat eigentlich schon entschieden abzutreiben. Genauer gesagt, hat diesen Entschluss ihr ebenfalls beruflich sehr erfolgreicher Lebensgefährte und Vater des Kindes gefasst und Karen zunächst von diesem Weg überzeugt. Während des Aufenthaltes in Konya mehren sich allerdings bei Karen die Zweifel daran, ob sie selbst hinter diesem Entschluss steht oder nur die Meinung ihres Geliebten übernommen hat. Doch Karen muss nicht nur das Verhältnis zu ihrem Freund und die gemeinsame Zukunft – als Familie? – klären, sondern auch ihr Verhältnis zu dem wichtigsten Mann in ihrer Vergangenheit, ihrem Vater. Der Vater, der sich als Sufi der Mevleviye verschrieben hat, verlässt eines Tages Frau und Kind, um seinem mystischen Lehrer in ein neues Leben zu folgen. Diesen Verlust hat Karen nie überwunden, aber bisher gut verdrängt. Der Aufenthalt in der Stadt Konya, die sie als Kind mit ihrem Vater besucht hatte, lässt diese Verdrängung nicht mehr zu, und Karen sieht sich gezwungen, sowohl dem Freund als auch dem Vater gegenüber eine eigene, gereifte Position einzunehmen.
19Der Schauplatz des Krimis, Konya mit seinen islamischen Gebäuden und allgegenwärtigen Erinnerungen an Celaleddin Rumi, sowie die Lebensgeschichte des Vaters erlauben es Ahmet Ümit, Themen des Sufismus sowie die mevlevitische Geschichte und Kultur in den Roman einzuarbeiten. Fantastische und spirituelle Begebenheiten und Figuren aus der Mevleviye spiegeln Karens persönliche Probleme und führen sie schließlich einer Lösung zu.
20Die Londoner Versicherungsagentin lebt im Tempo ihrer Metropole; in gerade mal drei Tagen soll sie alle Einzelheiten des Brands klären, und das in einem Umfeld, das ihr trotz Kindheitserinnerung und Türkischkenntnissen letztlich fremd ist. Karen hat keine Zeit zu verlieren; so besteht ihre Arbeit aus einer selten unterbrochenen Abfolge von Sprechen, Lesen, Schreiben. Wo sie ihre Klienten und Kollegen nicht persönlich sprechen kann, geht die Kommunikation über Handy und Laptop weiter. Das Privatleben spielt sich auf dieselbe Weise ab: Für Lebensentscheidungen bleiben Treffen im Restaurant und Gespräche am Handy, eingeklemmt zwischen zwei business meetings. Die elektronischen Medien scheinen den Unterschied zwischen direkter und vermittelter Kommunikation aufzuheben und täuschen dabei über ihren medialen Charakter hinweg. Das Scheitern von (thematisch sensiblen) Dialogen am Handy wird nicht den Mängeln zugeschrieben, die einem Telefongespräch eigen sind, sondern den Befindlichkeiten der Telefonierenden, beispielsweise der hormonellen Unordnung, in der sich die schwangere Karen befindet.
Nicht erst Computernetze oder VR, sondern bereits das Telefon transportiert die Erfahrung eines virtuellen Raums, indem es das Vermittelnde des Mediums selbst als einen Ort des medialen ‚da‘-Seins erscheinen lässt. Wer telefoniert, ‚teilt seine Präsenz‘; das Telefon verbindet mithin nicht nur entfernte Kommunizierende miteinander, sondern steht auch für eine Trennung oder Spaltung des eigenen Hier […] (Buschauer 2010: 288).
21In diesem unreflektierten Umgang mit Kommunikation, dieser Ignoranz gegenüber der Bedeutsamkeit von Distanz und Nähe, der Existenz verschiedener Räume und der Wahrnehmungsfähigkeit der menschlichen Sinne (die weit mehr können als nur hören – am Telefon – oder nur sehen – am Laptop), ist das Fantastische und Spirituelle in Ümits Roman bereits angelegt. Die Spannung des Buchs resultiert aus der Schöpfung und Verknüpfung verschiedener Räume und Zeiten, Wahrnehmungsebenen und Interpretationsangebote. Die Kriminalgeschichte und ihr linearer Zeitverlauf werden durch Einbrüche aus der Welt der Träume und der übersinnlichen Wahrnehmungen sowie historische Rückgriffe regelrecht durchkreuzt. Orte verlieren ihre materielle Beständigkeit, so wie der Brand das Luxushotel und mit ihm eine bestehende Ordnung zerstört hat. In dem Maße, in dem die einzelnen Bestandteile in und durch Karens Wahrnehmung – und durch ihre Nachforschungen – zu einem Ganzen werden, wird auch Karens Selbst zu einem Ganzen, das sich sowohl mit seiner Vergangenheit und seiner Zukunft aussöhnen kann als auch scheinbar gegensätzlichen Kulturen einen produktiven Platz in ihrem Leben einräumt.
22Medien so unterschiedlicher Kategorien wie Träume, Texte und Computer kommen hier in der Herstellung, der Verknüpfung und der Deutung der verschiedenen räumlichen, zeitlichen und Wahrnehmungsebenen eine entscheidende Bedeutung zu: Sie funktionieren als erzählerisches Mittel, mittels dessen schnell von einem Handlungsstrang zum anderen umgeschaltet werden kann. Dadurch kann die für den Krimi notwendige Spannung aufgebaut und die Aufmerksamkeit der Leser auf einen anderen, weiteren Aspekt gelenkt bzw. abgelenkt werden. So kann ein Telefonanruf ein Gespräch, das auf die Klärung einer Frage zuzusteuern schien, abrupt unterbrechen; zugleich werden durch diese Technik Ortswechsel in der Erzählung mühelos möglich, Verflechtungen zwischen Räumen imaginativ hergestellt.
23Gleich zu Beginn des Romans wird deutlich, wie der Autor die verschiedenen Wahrnehmungsebenen verknüpft. Die allererste Szene bietet nur Wahrnehmungsfragmente, auf die sich die Leser zunächst keinen Reim machen können. Offensichtlich geschieht ein Mord, doch warum, wo, an wem und durch wen und zu welcher Zeit, bleibt ungeklärt. In der nächsten Szene wird die Protagonistin Karen eingeführt, und zwar gleich in geradezu physischer Einheit mit ihrem Laptop, als sie nämlich versucht, während des Flugs nach Konya zu arbeiten:
Ja, ich musste mich endlich auf meine Arbeit konzentrieren. Ich wandte meinen Blick auf die Zahlen, die auf dem Bildschirm meines Laptops auf meinem Schoß zu sehen waren. Die Zahlen schienen mich anzublicken und zu sagen ‚Nun fang endlich an!‘ Ich begann zu arbeiten, schaute nach der Höhe der Versicherungspolice, versuchte die Höhe des Versicherungsanspruchs für das abgebrannte Hotel Yakut zu berechnen, doch nach der zweiten Gleichung konnte ich mich nicht mehr konzentrieren. Ich klappte den Laptop zu und verstaute ihn in meiner Tasche (BE 15).
24In der nächsten Szene befindet sich Karen immer noch im Flugzeug und scheint im Traum eine Stimme zu hören:
In diesem Moment hörte ich die Stimme … eine Männerstimme … Weich, warm, liebevoll. […] Ich hörte sie klar und deutlich: ‚Kimya, Kimya, Kimya Hanım!‘ Ich schreckte auf und öffnete meine Augen (BE 19).
25Was nur ein kurzer Traum zu sein scheint, wird plötzlich zum irritierenden Ereignis: Die Traumstimme hatte nicht „Karen!“ gerufen, sondern „Kimya!“. Dies ist der zweite, türkische, Vorname der Protagonistin, den ausnahmslos ihr Vater und dessen mystischer Lehrer in ihren Kindheitsjahren verwendet hatten. Auf diesen wenigen ersten Seiten wird Karen also gleich zweimal gerufen, einmal von Zahlen auf dem Bildschirm und dann von einer Stimme ohne erkennbare Quelle. Karen kann sich diesen Anrufungen einerseits nicht entziehen, andererseits jedoch den Aufforderungen (noch) nicht nachkommen.
26Ahmet Ümit verstreut auf den ersten Seiten Hinweise, die noch niemand deuten kann. Bei einer erneuten Lektüre wird deutlich, dass alle relevanten Themen hier bereits benannt werden: Karens Arbeitsauftrag, ihre Schwangerschaft, vor allem aber ihre Kindheitserinnerungen, die durch die verstörende Erkenntnis geprägt sind, dass man von ein und demselben Menschen sowohl über alles geliebt als auch verlassen werden kann. Das unverständliche, aber gar nicht negativ bewertete Verhalten des Vaters musste, so die Wahrnehmung des Kindes, etwas mit Religion, „mit einer Art Glaube“(BE 19) zu tun haben. Damit wird die Frage aufgeworfen, ob es vielleicht die Religion oder auch die spirituelle Erfüllung sind, die der durch den Westen geprägten Karen zur Erlangungen persönlicher Reife und Ruhe fehlen. Beachtenswert ist, dass dieser Westen nicht zwangsläufig (nur) der geografische Westen Europas, Großbritannien, ist. Karen Kimya teilt diesen möglichen Mangel an Spiritualität mit den Menschen, die der säkularisierten Schicht der Türkei angehören und die in der Gegenwart sowohl fiktional als auch faktisch nach neuen Wegen der spirituellen Erfüllung suchen.
27Ganz so, wie es die ersten Seiten des Romans zeigen, bewegt sich Karen Kimya auch in den folgenden Kapiteln, während ihres Aufenthaltes in Konya, zwischen zwei Welten, zwischen der immanenten Welt der Zahlen, Versicherungspolicen und Kriminellen und der transzendenten Welt fantastischer und mystischer Erlebnisse. Eine dritte Welt ist die ihrer Kindheit. Diese Welt wird durch Erinnerungen an die Eltern, einen imaginierten Spielkameraden und den Aufenthalt in Konya konstituiert und verknüpft ursächlich die beiden anderen Welten.
28Die transzendente Welt verfügt dabei über einen realhistorischen Hintergrund; das mit diesem verbundene erinnerungskulturelle Narrativ allerdings erfährt in Ümits Roman eine Neudeutung, wie Tüfekçioğlu gezeigt hat (Tüfekçioğlu 2011). Es geht um die Beziehung zwischen dem unabhängigen und provokanten antinomischen Wanderderwisch Şemsettin und dem als theologische und gesellschaftliche Autorität anerkannten Mevlana Celaleddin Rumi, die im Jahr 1244 in Konya aufeinandertrafen. Erst durch diese Beziehung und den damit verbundenen Schmerz erreicht Celaleddin Rumi seine eigentliche mystische und poetische Reife, auf der seine die Zeit überdauernde Berühmtheit fußt (Ritter/Bausani 2012). Doch trotz dieser grundlegenden Bedeutung des Wanderderwischs für die mystische Lehre der Mevleviye wurde diese Figur oft vernachlässigt, wenn nicht gar negativ dargestellt, da sein Verhalten und seine Auffassung von Mystik den gesellschaftlichen und religiösen Konventionen entgegenzustehen scheinen. Insbesondere der Vorwurf einer homosexuellen Beziehung zwischen den beiden Männern, die auf der absoluten mystischen Hingabe der beiden füreinander beruht, und der gewaltsame, aber letztlich ungeklärte Tod Şemsettins sind für Ahmet Ümit eine ideale Vorlage, Politik und Gesellschaft der türkischen Gegenwart zu hinterfragen und eine Gegenerzählung zu gestalten, die auch auf den Mord an dem armenischen Publizisten Hrant Dink im Jahre 2007 referiert.
Bab-ı Esrar constructs an alternative cultural memory by shifting the attention from Rumi to Shams. Not only is Shams’ influence on Rumi and his poetry underlined throughout the novel, but Ümit emphasizes Shams’ own contribution to Sufi teaching and literature. Additionally, the novel revolves around his murder by the statesmen, which has been hidden from public for a long time (Tüfekçioğlu 2011: § 46).
29Seinen transzendenten Charakter erhält dieser historische Erzählstrang durch den Zugang in die andere Welt, wie ihn Ümit gestaltet hat. Karen Kimya gelangt mehrmals, und scheinbar ohne eigenes Zutun, durch unterschiedliche Pforten in jene Welt. Dort wird sie Zeugin der alternativen Geschichte, aber nicht als außenstehende Beobachterin, sondern unmittelbar beteiligt im Körper einer der handelnden Figuren.
30Das erste Mal betritt Karen diese Welt, als sie in ihrem Hotelzimmer über ihre Beziehung zu ihrem Geliebten, Nigel, und zu dem ungeborenen Kind nachdenkt. Besonders beschäftigt Karen die Frage danach, wieviel Nähe und Abstand, Autonomie und Selbstlosigkeit, Identität und Differenz zwischen zwei Liebenden herrschen soll.
Bedeutet lieben nicht auch, etwas zu erlangen, das vom Selbst verschieden ist, danach zu streben? Wieso sollte man sich darum bemühen, etwas zu erlangen, das nicht anders ist als man selbst? (BE 50).
31Zugleich fürchtet sich Karen davor, das Kind nicht genügend lieben zu können. Hatte denn nicht sogar ihr Vater, der sie angeblich über alles liebte, sie verlassen? In diesem Moment der inneren Zweifel sieht Karen an der Wand eine „eisblaue Tür“. Zunächst scheint dieses Bild nur die Reflektion ihres Computerbildschirms zu sein. Diesen Moment des Zweifels an Karens Wahrnehmung, den die Leser mit ihr teilen, verlängert und nutzt Ümit, indem er durch Karens inneren Monolog sowohl ihre Kindheitsbegeisterung für alles Fantastische ins Spiel bringt als auch einen intertextuellen Verweis auf orientalische Märchen einflicht. Die erwachsene Karen glaubt zu ihrem eigenen Bedauern nicht mehr an Fantasiehelden und Wunder, doch wünscht sie sich, die eisblaue Tür wäre eine ‚reale‘ Pforte, „durch die ich in eine Welt gehen könnte, in der ich von allen meinen Problemen erlöst bin“ (BE 51).
32Durch diesen Abschnitt über vergängliche Kinderfantasien und Märchenwelten erhält der folgende Übertritt in die Welt der Transzendenz eine reale Qualität. Zunächst hört Karen wieder den Ruf „Kimya! Kimya!“ und sieht zugleich von ihrem Balkon aus auf der Straße den unheimlichen schwarzgekleideten Mann stehen, der ihr schon zuvor begegnet war. Beide Dinge scheint sie noch in wachem Zustand zu erleben, während man bei der Lektüre des sich direkt anschließenden Kapitels zunächst an einen Traum denkt. In diesem siebten Kapitel mit dem Titel „Zeigst Du mir das Antlitz Muhammed Celaleddins?“ sieht Karen erneut – nachdem sie eingeschlafen ist? – die eisblaue Tür auf der Wand.
Die eisblaue Tür befand sich immer noch an ihrer Stelle. Dem hätte ich eigentlich keine Bedeutung zugemessen, da ich den Laptop offensichtlich nicht geschlossen hatte und es somit normal war, dass sich die Tür dort befand. Allerdings bemerkte ich, dass die Tür nun leicht geöffnet war (BE 55).
33Durch die Tür gelangt Karen in einen Blumengarten, in dem sie auf den schwarzgekleideten Mann stößt, der niemand anders als Şemsettin ist. An Şems‘ Reaktion auf die Begegnung mit Karen zu nächtlicher Zeit in diesem Garten sind zwei Aspekte bedeutsam: Şems scheint die Frau erstens zu kennen – auch wenn er sie stets Kimya nennt – und zweitens über sie verärgert zu sein, wobei der Grund für diese Verärgerung fast bis zum Ende des Romans ungeklärt bleibt. Das Kapitel endet damit, dass Karen sich aus diesem Traum erwachend am späten Morgen in ihrem Zimmer wiederfindet. Die Traumqualität des Erlebten wird jedoch in den folgenden Kapiteln zunehmend in Frage gestellt, denn Karen Kimya wird immer wieder in ähnliche Szenen hineingezogen, die sich zu Şems‘ Lebzeiten in Konya abspielen. Manche der Ereignisse vermag Karen auf selbst Gelesenes und Gehörtes zurückzuführen, andere Dinge aber müssen entweder ihrer (kindlichen) Fantasie oder einer anderen Wirklichkeit entspringen.
34Alle Sequenzen wie die hier geschilderte, in denen Karen in die transzendierte Vergangenheit gelangt, folgen einem ähnlichen Ablauf und enthalten Topoi bestimmter Kategorien: Wetterphänomene (Wind, Gewitter, Regen), sensorische Wahrnehmung (Geruch, Stimmen), Widerschein/Reflektion, Pforten, Metamorphose des Aussehens und der Wahrnehmungsperspektive, Gewalterlebnisse, Verstörung, Rückkehr. Auf die Bedeutung von Metamorphose und Gewalt werde ich im folgenden Abschnitt und anhand eines weiteren Beispiels zu sprechen kommen. An dieser Stelle möchte ich mich kurz auf die Funktion der Pforten konzentrieren. Es ist offensichtlich, dass Karen durch geheimnisvoll aufscheinende Pforten von einer Welt in die andere gelangt. Die darauf aufbauenden Erzählsequenzen des Übergangs lassen sich aus verschiedenen Perspektiven lesen. Zum einen aus religionsanthropologischer Perspektive: Klaus E. Müller (Müller 1999) verweist auf die Bedeutung bestimmtern heiliger Stätten, die aufgrund ihrer ‚historischen Tiefe‘ als besonders geeignet dafür gelten, mit der Vergangenheit oder den Verstorbenen Kontakt aufzunehmen. „Ihre gewisse stofflich gedünnte Durchlässigkeit ließ sie als ideale Durchstiegsstellen zum Jenseits erscheinen“ (Müller 1999: 16). Was Müller für „primordiale Kulturen“ beschrieben hat – so im Untertitel seines Buches – lässt sich bis in die spirituellen Vorstellungen der Gegenwart hinein verfolgen. Schon visuell als Durchstiegsstellen oder Übergangsorte wahrnehmbare Stätten – Quellen, Kamine, Begräbnis – und Gebetsstätten – bieten sich besonders für die literarische Umsetzung an. Beim Blick auf Bab-ı Esrar fällt auf, dass in den meisten Fällen genau solche geläufigen Orte für Karen Kimya Greenwood zur Pforte in die andere Welt werden. In der allerersten Sequenz dieser Art allerdings, die ich hier beschrieben habe, kommt eine andere Art von Ort zum Einsatz: Karens Laptop, der oft wie eine Erweiterung ihrer physischen Existenz ins Virtuelle beschrieben wird, wird zum ‚Türöffner‘. Die eisblaue Farbe des Bildschirms, die zur Symbolfarbe des Übergangs wird, nimmt der Wand des Hotelzimmers ihre Solidität und schafft in dieser ganz ‚unspirituellen‘ Umgebung eine Pforte.
35Die zweite Lesart von ‚Pforte‘ steht mit der Kategorisierung des Buches als Bildungsroman in Zusammenhang. Anders als im idealtypischen Bildungsroman ist die Protagonistin der Adoleszenz schon lange entwachsen; sie muss sich sogar schon mit der Frage auseinandersetzen, ob die aktuelle Schwangerschaft vielleicht ihre letzte Chance darstellt, vor dem Eintritt der Menopause überhaupt noch Mutter zu werden. Andererseits hat sich ein Teil von Karen offensichtlich noch nicht entwickeln können, keine Reife erlangt. Das verdrängte Trauma des Vaterverlusts behindert Karens Beziehung zu ihren emotionalen Bedürfnissen, zur spirituellen Erfüllung und zu Männern. Selbst die Kenntnisse über den Sufismus, diesen Bestandteil einer vollständigen Bildung, die Karen einst als Kind durch die Vermittlung ihres Vaters erworben hatte, sind vermeintlich verloren gegangen. Zurück in Konya, erlangt Karen im kurzen Zeitraum von nur wenigen Tagen in einem seelisch und körperlich schmerzhaften Prozess diese Kenntnisse wieder und stellt auf spirituelle Weise die unterbrochene Kommunikation mit ihrem Vater wieder her, was zur Aussöhnung führt.
36Das literarische Konzept des Bildungsromans wird durch Ümit in Form von Liminalität, wie sie die Anthropologie beschreibt, bildreich umgesetzt. Aufbauend auf Arnold van Genneps Schema der Übergangsriten‑Trennung, Übergang und Angliederung (van Gennep 1909), beschäftigte sich Victor Turner in den 1960er Jahren vor allem mit der liminalen Phase, in der die betroffene Person, das ritual subject, ihren bisherigen Zustand oder Status oder ihre Gemeinschaft schon verlassen, aber noch keinen neuen, gefestigten Status erreicht hat. „Liminal entities are neither here nor there; they are betwixt and between the positions assigned and arrayed by law, custom, convention, and ceremony“ (Turner 1969: 95). Die Ambiguität dieses Zustands wird durch eine Vielzahl von Symbolen ausgedrückt: „Thus, liminality is frequently likened to death, to being in the womb, to invisibility, to darkness, to bisexuality, to the wilderness, and to an eclipse of the sun or moon“ (ebd.). Am Ende dieser Phase, die oft durch Ausgeliefert-Sein und Passivität gegenüber dem Ritualleiter gekennzeichnet ist, empfängt das ritual subject neue Kräfte „to enable them to cope with their new station in life“ (ebd.). Auf Karens Erleben umgemünzt heißt das, dass sie sich durch die Reise nach Konya von ihrem bisherigen Umfeld, in dem sie über einen bestimmten Status und angemessenes Wissen verfügte, bereits entfernt hat. Die Tage in Konya sind durch ständige emotionale, soziale und kognitive Unsicherheit gekennzeichnet. Dieser Zustand potenziert sich in der anderen Welt. Abgesehen von ihrem Nicht-Wissen bezüglich des Sufismus weiß Karen auch in beruflichen Situationen oft nicht adäquat zu kommunizieren und kann Freund nicht von Feind unterscheiden. Die transzendierte Welt, in die sie durch die Pforten gelangt, ist verwirrend und beängstigend. Die bisherige Karen existiert hier nicht. Aus Karen Greenwood wird Kimya, die Tochter des türkischen Sufis, oder auch Şems selbst. Şems tritt als der – selbstgerechte und ungeduldige – Lehrmeister auf, doch Karen verweigert sich lange den Botschaften, die sie mittels der ihr geläufigen Denkweise zu verstehen versucht. Es bedarf mehrerer liminaler Phasen, bis Karen loslassen, sich den transzendenten Botschaften öffnen und als eine Andere zurückkehren kann. Die Übergangssequenzen sind zunehmend von Gewalt gekennzeichnet und verknüpfen die Morde und Todesfälle auf der Ebene des Kriminalromans mit dem Tod von Şems und Celaleddin Rumis Ziehtochter Kimya. In der letzten Sequenz allerdings werden alle Rätsel gelöst; anders gesagt, Karen gelingt es, ihr Trauma zu überwinden und mit neuen Fähigkeiten, in diesem Fall einer gestärkten emotionalen Kompetenz, nach London zurückzukehren.
37Die Pforten selbst schließlich besitzen eine liminale und mediale Qualität. Für die Figur Karen Kimya bilden sie die Schwelle, die überschritten werden muss. Für die Leser markieren sie als literarische Strategie den Übergang zwischen der immanenten und der transzendenten Welt und vermitteln zwischen beiden, ohne selbst Teil davon zu sein. Auf die mediale Qualität weist Ümit explizit hin, wenn er die erste Pforte aus dem eisblauen Widerschein des Computerbildschirms entstehen lässt. In späteren Sequenzen sind es nicht mehr die technischen Medien, sondern Erinnerungsmedien wie Grabsteine und Inschriften, durch deren Anblick Karen in Şems‘ Welt gelangt. Auch eine alte Standuhr in der Şems-i Tebrîzî-Moschee in Konya kann diese Funktion erfüllen:
Während das Uhrpendel kräftig hin- und herschwang, hallte der Gongschlag immer noch nach, als wolle er sagen ‚Die Zeit ist gekommen‘. Als der Schlag verhallt war, öffnete sich der untere Teil der Uhr ächzend. Wieder befand sich eine geheimnisvolle Pforte vor mir! In meinen Ohren verspürte ich das bekannte Rauschen. Wieder war die Umgebung von einem leichten Hauch erfüllt, nahm meine Nase den Geranienduft wahr. Wieder erzitterte mein Körper. Ja, der Geist des schwarzgekleideten Derwischs war wieder irgendwo in meiner Nähe. Die leise innere Stimme, die mir riet, nicht zu gehen, nahm ich erst gar nicht zur Kenntnis. Meine Neugierde sog mein ganzes Selbst in sich auf; ich überließ mich ihr und ging voran, dem immer stärker werdenden lieblichen Geranienduft folgend (BE 335).
Pamuk’s mystical plots unfold as follows: The ‘beloved’, whether a man, woman, the divine, a dream, or an identity, is the object of the protagonist’s desire for reunion. Reunion with the ‘beloved’ […] fails on the level of the plot, giving rise to a state of unrequited love. In place of the reunion, the Sufi narrative gives the seeker what he needs rather than what he wants
38schreibt Erdağ Göknar in seinem Kapitel zu “Secular Sufism” bei Orhan Pamuk (Göknar 2013: 211). Auch in Bab-ı Esrar kommt, wie erwähnt, dem bewussten oder unbewussten Wunsch nach Vereinigung mit dem Geliebten oder Begehrten eine wesentliche, den Plot und seine Durchführung strukturierende Rolle zu. Anders als bei Pamuk allerdings müssen die Suchenden zunächst das Objekt ihrer Sehnsucht erkennen, daraufhin kann die glückliche Vereinigung erfolgen. Die Vereinigung ist jedoch nicht der Endpunkt; vielmehr werden die Suchenden durch den Tod des Geliebten wieder von diesem getrennt, können nun aber als in sich selbst vereint weiterleben. Das gilt für Karen und ihren Vater ebenso wie für Celaleddin Rumi und Şemsettin. Eine ähnliche Verbindung waren in der Vergangenheit Karens Vater und sein Meister Shah Nesim eingegangen. Wie sich deren Verhältnis nach dem gemeinsamen Weggang aus Konya entwickelt hat, erfährt man allerdings nicht. Die literarisch am eindringlichsten, nämlich durch einen Perspektivwandel der Ich-Erzählerin Karen, gestaltete Vereinigung jedoch findet zwischen Karen und Şems statt. (Auf das Scheitern einer weiteren Vater-Kind-Vereinigung, nämlich von Ziya und İzzet Efendi, werde ich im nächsten Abschnitt eingehen.)
- 7 Einen ersten Überblick über die Vielfältigkeit dieses Themas bietet Mojaddedi (2008).
- 8 Die Übersetzung von fanā‘ mit ‚Entwerdung‘ geht im Wesentlichen auf die Arbeiten von Hellmut Ritter (...)
39Ahmet Ümit hat durch das Aufgreifen des Strebens nach mystischer Vereinigung den Kern des Sufismus zur syntagmatischen Achse seines Erzählens gemacht. Dieses Streben bestimmt die „narrative Konfiguration religiöser Erfahrungs- und Wahrnehmungsweisen“ (Bingel 2013: 72); es bestimmt, wie der Roman die aus der Welt aufgegriffenen Inhalte und Elemente miteinander verknüpft (ebd.). Zugleich ist die unio mystica vielleicht das problematischste Thema des Sufismus, sorgt es doch sowohl innerhalb als auch außerhalb des sufischen Islam für heftige Diskussionen. Basierend auf einer ganzen Reihe theologisch-mystischer Begrifflichkeiten geht es im Kern darum, wer oder was sich eigentlich mit wem, in wem vereinigt und schließlich vergeht, also den mystischen Tod stirbt (Radtke 1996: 187). Der schwerste Vorwurf, den die Gegner des Sufismus hier machen, ist die Behauptung, die Sufis strebten eine Vereinigung mit Gott an, hielten diese gar für möglich. Diese Überschreitung aller Grenzen zwischen Gott und den Menschen wird auch von einem Großteil der Sufis abgelehnt und durch eine Reihe anderer elaborierter mystischer Konzepte ersetzt.7 Im Sufismus der Mevleviye liegt das Hauptaugenmerk auf der Verschmelzung zwischen dem Schüler und dem Meister; der Schüler erfährt seine Entwerdung8 zunächst durch sein Aufgehen im Meister (türk. fenâ fişşeyh, arab. fanā‘ fī-š-šaykh), doch eigentlich geht es um eine Verschmelzung, die den Unterschied zwischen Ich und Du, zwischen Liebendem und Geliebtem aufhebt. Durch diese Aufhebung der Unterschiede wird Erkenntnis (der Wahrheit bzw. Gottes) möglich. Allerdings kann der Weg des Sufis noch über diese Stufe hinausführen, indem die Liebenden sich wieder trennen und nun die Entwerdung in Gott, fenâ fillah, angestrebt wird.
40Ümit seinerseits thematisiert ganz überwiegend die erste Verschmelzung und die folgende Trennung, nicht aber die zweite Stufe, weder als Entwerdung in Gott noch als Verschmelzung mit Gott. In den transzendenten Szenen des Romans begegnet Karen Kimya dem Derwisch Şemsettin und verwandelt sich innerlich und äußerlich in denselben.
[A]ls ich mich erneut im (spiegelnden) Kupfertablett erblickte, fand ich den Mann mit den von Natur aus schwarz umrandeten Augen und dem schwarzen Bart im schwarzen Filzumhang gar nicht mehr seltsam. Denn ich war er (BE 132).
41Parallel zur Aufklärung des Hotelbrands – bei dem es sich tatsächlich um Brandstiftung handelt – erweitert Karen durch diese Metamorphose auch ihr Wissen über den Sufismus der Mevlevis und insbesondere über das Verhältnis zwischen Şems, Celaleddin, Kimya und den anderen, eifersüchtigen, Bewunderern und Verwandten Celaleddins. Durch die Verschmelzung mit Şems erlebt Karen schließlich auch dessen Ermordung durch seine feigen Neider ‚am eignen Leib‘. In der diesseitigen Welt wird Karen ebenfalls unmittelbar mit dem Tod konfrontiert: Entführt vom Drahtzieher des Versicherungsbetrugs, wird sie durch Şems‘ Eingreifen befreit, wohingegen der Entführer und sein Gehilfe einen grausamen Unfalltod sterben. Durch den Unfall leicht verletzt, wird Karen ins Krankenhaus gebracht, wo sie – unter dem Einfluss der Schmerzmittel? – ein letztes entscheidendes Erlebnis in der anderen Welt hat.
42Dieses letzte Erlebnis, das für Karen tatsächlich zum Ende ihrer liminalen Phase wird, unterscheidet sich in einigen Aspekten von den früheren transzendenten Sequenzen. In einer fantastischen Szenerie, in der Steppe Konyas und im Licht des eisblau leuchtenden Salzsees, führt Karen, als sie selbst, ein letztes Streitgespräch mit Şems (BE 375). Şems konfrontiert sie nicht nur mit der Tatsache, dass die Brandermittlung nur ein willkommener Anlass für sie gewesen war, in Konya nach dem Vater zu suchen, sondern auch damit, dass sie sich endlich entscheiden muss, welches Leben sie führen will: ihr eigenes oder das ihres hedonistischen Freundes? Mit Kind oder ohne? Auf dem Salzsee, einem Erinnerungsort aus Karens Kindheit, erscheinen sieben Mevlevi-Derwische, die sich für den Sema vorbereiten. Einer der Derwische, die zu Beginn alle Şems gleichen, wird zu Karens Vater, und so erhalten Vater und Tochter die Gelegenheit, einander ihre Gefühle zu offenbaren, wobei Karen diesmal eine Metamorphose zu einem kleinen Mädchen durchmacht, das seinen Vater verloren hat. Es stellt sich heraus, dass beide durch eine tiefe Sehnsucht zueinander verbunden, aber auch auf ihren Lebenswegen eingeschränkt waren. Nicht nur hat die Tochter die Entscheidung des Vaters zu gehen nicht nachvollziehen können; auch der Vater konnte sich in seiner Sehnsucht nach Frau und Tochter nie ganz dem Sufismus widmen. Indem es beiden gelingt, nun endlich die Perspektive des anderen nachzuempfinden, können sie einander verzeihen und in Liebe verbunden loslassen. Nur wenig später erfährt Karen durch einen Handyanruf ihrer Mutter, dass ihr Vater in Pakistan verstorben sei.
43„Wer keinen mürşit hat, dessen Imam ist der Teufel“, lautet eine Kapitelüberschrift in Bab-ı Esrar. Dies ist ein im Sufismus geläufiges Motto, „denn zu gefährlich ist es, den Pfad mit seinen zahlreichen Stationen und Zuständen allein gehen zu wollen. Zwischen muršid und murīd mußte eine geistige Übereinstimmung bestehen, die es dem murīd ermöglicht, sich ganz dem Meister hinzugeben, ‚wie ein Leichnam in der Hand des Totenwäschers‘“, erläutert Annemarie Schimmel (Schimmel 1990: 180).
44Sufis und mürşits verschiedenen Charakters gehören zu den wichtigsten Protagonisten des Romans: Şemsettin und Celaleddin Rumi, Poyraz Efendi und Shah Nesim, und schließlich İzzet Efendi. Für İzzet Efendi ist sein Leben als Mevlevi aufs Engste mit dem historischen Raum Konya und mit einem kulturellen Umfeld verknüpft, in dem ein Mevlevi nicht als Fremder oder Exot gilt. Deshalb hatte er es stets für falsch gehalten, dass sein Freund Poyraz Efendi für die weltliche Liebe zu seiner Frau nach England auswanderte. In İzzet Efendis Darstellung drückt sich die mevlevitische Lehre in der spirituellen Liebe zwischen Schüler und Meister aus, die tiefer geht als jede weltliche Liebe, sowie in der religiösen Toleranz, der zufolge Menschen auf verschiedenen Wegen und durch unterschiedliche Praktiken zur göttlichen Wahrheit gelangen können. In der Realität der sozialen Beziehungen allerdings hat İzzet Efendi seinem Sohn Ziya kein Lehrmeister sein können: Ziya hat nach materiellem Reichtum gestrebt, ist dabei gescheitert, und muss für seine Missetaten nicht nur mit dem physischen Tod bezahlen, sondern wird zuvor auch noch von seinem Vater verstoßen.
- 9 Zur Entwicklung des neuplatonischen „Emanationism“ im Islam s. Sedgwick (2017: 30-49).
45Şems hingegen verfügt über eine besondere Eigenschaft, die ihn von den übrigen Sufis klar abhebt: Er führt Karen durch alle Stationen ihrer Transformation, er lüftet den Schleier und zeigt „mir mein Ich in mir“ (BE 169). Dabei ist er viele in einem, indem er unterschiedliche Erscheinungsformen annimmt: der historische Şemsettin, Şems als Bettler in der Gegenwart, Karen, Sunny, Karens Vater. Durch das Thema der Emanation, ein Konzept, das von manchen sufischen Strömungen vertreten wird,9 verbindet Ahmet Ümit die islamische Mystik mit Karens psychischem Bedürfnis nach Ganzheit.
Wir alle sind das Resultat des einen Urgrundes, wir alle sind Teilchen desselben Lichts, wir alle sind durch Gottes Hauch existent geworden, was bedeutet da die äußere Form? (BE 379).
46In ihren transzendenten Erlebnissen hat Karen ein vielschichtiges Bild von den großen Meistern der mevlevitischen Lehre gewonnen: Niemand ist nur gut oder böse. Şems, der Celaleddin zur Erkenntnis führt, ist zugleich ein selbstgefälliger, egozentrischer Mensch, wenn es um seine Selbsteinschätzung als Mann und Meister geht. Vielleicht hat er sogar seine junge Braut Kimya auf dem Gewissen. Auch das Verhalten von Shah Nesim entzieht sich einer eindeutigen Bewertung: Für Karens Vater war er das große Vorbild, für ihre Mutter derjenige, der Poyraz Efendi aus der Familie gerissen hat.
47Die Romanfiguren erzählen unterschiedliche Versionen derselben Geschichte. Auch körperlose Stimmen und Fantasiefiguren wie Karens ‚Kindheitsfreund‘ Sunny kommentieren und verwirren mit ihren Einwürfen. Die Darstellung der mevlevitischen Lehre, wie sie durch İzzet Efendi erfolgt, entspricht der geläufigen Darstellung einer toleranten und freundlichen, zugleich keiner Häresie verdächtigen und der Scharia und dem Koran gemäßen Form von Sufismus. In einem Gespräch zwischen Karen und ihrer Mutter jedoch flicht Ümit die schwierige Vorstellung ein, dass es bei der unio mystica im Islam um eine Einswerdung mit Gott gehe.
Ja, das war das große Geheimnis, die absolute Wahrheit, von der Şems versucht hatte zu sprechen. Das war das gemeinsame Geheimnis meines Vaters, Shah Nesims, Şems‘, Mevlanas und İzzet Efendis: zum Erhabenen zu werden (BE 362).
- 10 Allerdings spricht Mikail Bayram i.d.R. von hulûl, dem Glauben an die Inkarnation Gottes in verschi (...)
48Diese Vorstellung wird, wie erwähnt, von den meisten Sufis abgelehnt. Prominent wurde sie in Bezug auf die Mevleviye allerdings in den letzten Jahren in der Türkei durch den früheren Geschichtsprofessor Mikail Bayram (1940– ), der in seinen Arbeiten und Fernsehauftritten auch postulierte, Mevlana Celaleddin Rumi und Şemsettin hätten eine homosexuelle Beziehung gehabt. Ahmet Ümit hat dem Roman eine Liste von ihm selbst herangezogener Sekundärliteratur beigefügt, die auch Bayrams Werke enthält.10
49Das Gespräch zwischen Mutter und Tochter erlaubt es auch, den Sufismus einer weit kritischeren Würdigung zu unterziehen, als es bis dahin aus der Perspektive der suchenden Karen, die viel zu sehr verstrickt war in die Geschichte und ihre Gefühle, möglich war. „Glaubst du daran? Also dass mein Vater ein Gott werden wird?“, fragt Karen (BE 362). Karens Mutter, die Ex-Hippie, die immer noch an jeder Kundgebung gegen Tierquälerei und für Menschrechte teilnimmt, ist religiös nicht gebunden und hält diese Vorstellung der Sufis nur für eine Wiederholung aller historisch früheren Überlegungen zur göttlichen Natur des Menschen. Immerhin kann sie der mevlevitischen Lehre eine gewisse Sympathie entgegenbringen, fokussiere diese doch auf die Liebe zum Menschen und lasse unterschiedliche Korandeutungen zu. Allerdings hat die Mutter sich niemals den Glauben ihres Mannes zu eigen gemacht. Es ist gerade das Geheimnis und das Schweigen der Sufis, das sie kritikwürdig findet.
Ich habe eine ganz einfache Vorstellung vom Leben. […] Zu leben ohne auf Privilegien zu beharren, ohne zu herrschen, ohne auf der eigenen Meinung als der einzig richtigen zu bestehen. […] Unter der Bezeichnung ‚Geheimnis‘ etwas für sich zu behalten, was man in Erfahrung gebracht hat, halte ich für eine Privilegierung (der eigenen Person) (BE 363).
50Und in der Tat sind es die Geheimnisse, die unbewältigten Traumata, das Schweigen – statt Aufdeckung – und die Gewalt, die zum Grund und Auslöser von Tod und Zerstörung werden, in Bab-ı Esrar und andernorts.
51Aus dieser Perspektive lassen sich die Sufis in Bab-ı Esrar auch als (Massen-)Medien verstehen, die über relevantes Wissen verfügen, dies aber – um die Gesellschaft nicht zu verstören – für sich behalten. Angesichts der Lage der freien Berichterstattung durch Medien in der Türkei hat Ümit hier in wenigen Sätzen eine politische Kritik in den Roman eingebracht, die eine dauerhafte Relevanz besitzt.
52The Clown and his Daughter das ist der Titel des von einer türkischen Autorin in englischer Sprache verfassten Romans, der 1935 in London erschien. Die Autorin Halide Edip Adıvar erstellte selbst die türkischsprachige Version, die im folgenden Jahr unter dem Titel Sinekli Bakkal, zu Deutsch Der Fliegenkrämer, zunächst als Fortsetzungsroman in einer türkischen Zeitung publiziert wurde. Der Vergleich zwischen beiden Versionen macht deutlich, dass es sich nicht um eine wortwörtliche Übersetzung von The Clown and his Daughter handelt, sondern um einen in Teilen sprachlich und inhaltlich überarbeiteten Text (Heigl 2008: 585-588). Die Grundaussage des Romans passt sich mühelos in dieses mehrsprachige Schaffen der Autorin ein: Es geht um eine geglückte west-östliche Synthese, die sich sowohl in einer produktiven Liebesbeziehung zwischen einer Türkin und einem Italiener als auch in der Musik manifestiert, die ihrerseits durch die Verknüpfung italienischer und türkischer Klangwelten eine Weiterentwicklung erfährt. Der Roman ist sowohl als Werk einer Exil-Autorin der 1930er zu lesen als auch als historischer Roman, der sich mit der Gesellschaft, der Kultur und der Religion einer entscheidenden Phase des späten Osmanischen Reichs auseinandersetzt.
53Das richtige Religionsverständnis und die Schönheit des Islam in seiner wahren Form sowie eine Reihe von moralischen Entscheidungen sind sich kontinuierlich wiederholende inhaltliche Elemente des Romans. Neben den politischen Hintergründen – die Handlung ist in den Jahren vor 1908 angesiedelt, der späten Phase des Despotismus [İstibdat] unter Sultan Abdülhamit II. – und deren Auswirkungen auf den Einzelnen und die Gesellschaft bietet The Clown and his Daughter Überlegungen zu einer Reihe religiöser Thematiken, die ihrerseits eine variantenreiche literarische Gestaltung erfahren: mystisches Wissen, das sowohl verstanden als auch erfahren werden kann; die heilende Wirkung einer religiösen Konversion, wenn sie unter der richtigen Voraussetzung stattfindet; die seelenzerstörende Praxis zelotischer Religionsvertreter und die Ästhetisierung der religiösen Erfahrung als ein die Menschheit einendes Verfahren.
54Im Mittelpunkt des Romans steht Rabia, eine Protagonistin (fast) ohne Fehler. Wie ihre Namensgeberin, die als erste muslimische Mystikerin gehandelte Rābiʿa al-ʿAdawiyya al-Qaisiyya (gest. 801 in Basra), ist sie durch eine hohe spirituelle Begabung ausgezeichnet. Anders als bei Rābiʿa al-ʿAdawiyya jedoch manifestiert sich diese Begabung gerade nicht im sprachlich-intellektuellen Bereich; vielmehr erkennt die Rabia des Romans ihre Umgebung intuitiv, trifft auf diese Weise moralisch richtige Entscheidungen und offenbart ihre Sensitivität im überragende Vortrag des Korans und religiöser Liedtexte. Den Höhepunkt ihrer musikalischen Reife erlebt sie erst während einer letzten zugleich traumatischen und erlösenden Begebenheit, die in Rabia eine ganz eigene musikalische Welt entstehen lässt.
55Rabia, die zusammen mit ihrer verbitterten Mutter ungeliebt und misshandelt im Haus ihres heuchlerischen Großvaters und Imams lebt, erfährt keine intellektuelle Bildung. Sie kann allerdings kraft ihrer Gabe ihre Empfindsamkeit und ihre Menschlichkeit bewahren, indem sie ihren Schmerz in ergreifende (sakrale) Kunst transformiert. Die Musik bleibt das Medium, durch das sie ihre Welt wahrnehmen und gestalten und sich selbst mitteilen kann. Rabias Leben wendet sich zum Guten, als sie von einer Gönnerin aus dem Umfeld des Palasts entdeckt wird. Dadurch entrinnt sie noch als Kind der Tyrannei ihres Großvaters. Künftig bestimmen zwei andere erwachsene Männer ihre geistige und musikalische Entwicklung: der väterliche und beständige mevlevitische Sufi Vehbi Efendi sowie der provokante italienische Musiker Peregrini, der als ehemaliger katholischer Priester eine eigene durch ein fanatisches Religionsverständnis belastete Biografie mit sich herumträgt. Diese so unterschiedlichen Männer sind durch eine enge Freundschaft verbunden, die auf dem ihnen gemeinsamen Musikverständnis, der Suche nach den tieferen Bedeutungen des Lebens sowie schließlich auch auf der Sorge um Rabias Entwicklung beruht. Die Fürsorge der beiden Männer ermöglicht es Rabia, sich beide Welten zu erschließen: die transzendente Welt, die nicht von religiöser Gewalt und Empfindungsarmut geprägt ist, sondern von ästhetischer Schönheit und der Verlässlichkeit eines immerwährenden Kosmos, sowie die diesseitige Welt, in der Rabia zu einer selbstbewussten Künstlerin, Frau und Mutter wird. Das Wissen beider Welten heilt ihre traumatisierte Seele und Körper. Während Vehbi Efendi jedoch Beständigkeit und Tradition lehrt, ist Peregrini das hinterfragende Prinzip. So, wie er in philosophischen Diskussionen jede Meinung zerpflücken muss, um zu neuen Antworten zu kommen, so arbeitet er auch an seiner Musik, die er unter dem Einfluss seiner neuen Heimat Istanbul stetig weiterentwickelt. Peregrinis künstlerisches Erleben hat vieles gemeinsam mit der „gottlosen Mystik“ (Spörl 2001) der europäischen Literatur. Erst die Synthese zwischen Rabia und Peregrini, zwischen ihren Körpern, ihrer Musik und ihren religiösen Biografien bringt etwas Neues hervor, ohne das die Welt nicht fortbestehen könnte. Während allerdings in religiöser Hinsicht Rabia, und mit ihr der Islam, durch ihre Glaubensfestigkeit die Auseinandersetzung gewinnt, ist es die neue, säkulare Musik Peregrinis, die die entscheidenden Szenen des Romans bestimmt, nicht die Musik der Mevlevis.
56Rund 30 Jahre liegen zwischen der Entstehungszeit des Romans und der Zeit der Handlung. Innerhalb dieses Zeitraums waren u.a. die Osmanische Dynastie und mit ihr die gesellschaftliche Position der Sufis untergegangen. Das Gesetz von 1925 über den Bann der sufischen Gemeinschaften (und bestimmter religiöser Praktiken) hatte den Sufismus als religiöse Ausdrucksform für die nächsten Jahrzehnte in der Türkei marginalisiert. Die Autorin ihrerseits hatte in ihrer Kindheit die Welt der Mevlevis von nahem erlebt, sich später der Propaganda für den türkischen Befreiungskrieg gewidmet, und schließlich 1926 die Türkei aus politischen Gründen verlassen. Vor diesem Hintergrund ist die Entscheidung, einem Mevlevi-Meister eine Hauptrolle zu geben, mehr als der Versuch, für ihre englische Leserschaft etwas Lokalkolorit oder Exotik in den Roman zu bringen.
57Vehbi Efendi ist der Fachmann für religiöse und seelische Bedürfnisse. Seine persönlichen Ziele bestehen darin, das Leid der Menschheit zu verringern sowie sich selbst und anderen inneren Frieden und Ausgeglichenheit zu verschaffen. Intellektuelle und politische Aufregung sind ihm fremd. Bei seinem Freund Peregrini sieht er eine
extreme and dangerous intellectuality of the student, the ruthless and logical reasoning which ignored the illogical and unreasonable issues of human nature (CD 103).
58Als Rabias Vater, Tevfik, ein zweites Mal in die Verbannung geschickt wird, sieht Vehbi Efendi sich der Gefahr ausgesetzt, an der göttlichen Weisheit zu zweifeln; dies gilt es umgehend zu beenden:
… when his mind began to question the divine scheme he regarded such questioning as a symptom of spiritual sickness. His soul must be out of tune. He must at once begin to tune it. Therefore he must fast, detach himself from his mortal body, make an effort to reach the finer essence of being, subjugate the coarse husk of his soul, chastise it with every sort of self-denial (CD 209).
59Die Beschreibung der Ausschiffung der Verbannten, des Leids, das Rabia befällt, und die Reaktion Vehbi Efendis sind in den beiden Versionen des Romans deutlich unterschiedlich ausgestaltet. Zwar wird dieses Ereignis in der türkischen Version angesprochen, allerdings vermeidet es Adıvar dort, rituelle Details wie Fasten und Meditieren zu benennen.
60Für Menschen, die nach einem angenehmeren Islam suchen als dem der Hölle und Verdammnis, wie ihn Rabias Großvater predigt, erscheint die Lehre der fröhlichen und kunstbeflissenen Mevlevis ein gangbarer Kompromiss zu sein, so auch für die alternde Gattin des Paschas, Rabias Gönnerin (CD 22). Die revolutionären Jungtürken jedoch halten die heitere Gottergebenheit der Mevlevis für gefährlich, weshalb diese ausgelöscht werden müssen:
… all mystic thinkers and their Orders, [must be] ruthlessly exterminated. They cannot wield worldly power, but they manage to keep alive a spiritual energy which saps the vitality of a nation, which leads to dreaming and retards material progress (CD 65).
61Die Tür oder das Mittel, eine religiöse Erfahrung zu evozieren oder literarisch umzusetzen, ist der Sufimeister Vehbi Efendi nie in diesem Roman. An die Stelle der Person treten Musik und Dichtung, wobei schon die Ästhetik des Vortrags allein eine Änderung der Weltempfindung evozieren kann. Mit Blick auf die von Adıvar hier eingesetzte literarische Strategie ist allerdings auffällig, dass das künstlerische Schaffen Rabias und die Empfindungen, die sie dadurch möglicherweise selbst erlebt oder bei anderen hervorruft, sehr häufig aus der beobachtenden Perspektive einer anderen Person heraus beschrieben werden und Rabias eigenes Empfinden dadurch verdeckt bleibt. Diese Strategie unterstreicht Rabias manchmal schwer zu ergründenden Charakter, weist aber zugleich auf die stets individuelle Wahrnehmung einer künstlerischen Performanz hin. In Peregrinis Wahrnehmung offenbart sich in Rabias Gesang nicht die religiöse Intention des Komponisten oder Autors des jeweiligen Werks, sondern der widersprüchliche, wenn auch „magische“ Charakter Rabias:
Put that girl behind two candles and a desk, at once she conjures up a demon or an angel by the strange harmony that flows from her lips. It is uncanny, how she deprives one of all reasonable thought by the magic of her chanting! (CD 97).
62Doch für Vehbi Efendi bringt die Performanz des Vortrags das Einswerden der gequälten Kinderseele Rabias hervor; Rabia erfährt aus dieser Perspektive sowohl eine therapeutische Heilung ihrer Seele als auch eine Zunahme ihrer religiösen Reife:
She achieves oneness in her chant … she attunes herself to the Infinite (CD 98).
63Musik, gespielt und gesungen von Rabia, Peregrini und anderen Protagonisten, korrespondiert mit der Handlung, charakterisiert die Kultur und Mentalität der einzelnen Figuren und wird zur Klangfarbe der einzelnen Szenen. Das Musikmachen bestimmt das Leben der Hauptfiguren, und zuletzt wird es zum rettenden Medium, das Rabia und Peregrini von ihren Traumata befreit und einen Weg in eine gemeinsame Zukunft erschafft.
64Die Romanfiguren im Mikrokosmos der Fliegenkrämergasse begegnen sich mit Respekt und Empathie; das gilt auch für die Eheleute Rabia und Peregrini/Osman. Ihre musikalischen Prädispositionen allerdings, die im Roman als „westlich“ und „östlich“ bezeichneten musikalischen Konventionen, bleiben unvermittelt und als das jeweils Andere bestehen. In den letzten Kapiteln des Romans jedoch kommt es zur Fusion der musikalischen Kulturen, wobei sich Musik und Traum vermischen, gespeist von religiöser und künstlerisch inspirierter Imagination.
- 11 Geschmack und Konsum, wie sie sich in der Wahl von Kleidung und Einrichtung zeigen, nehmen ebenfall (...)
65Nach dem Tod von Rabias Großvater übernehmen die Eheleute das Haus, richten es nach ihrem eigenen Geschmack ein11 und beginnen somit, die bösen Geister der Vergangenheit zu bannen. Jedoch wird die positive Entwicklung von Schwangerschaftskomplikationen überschattet. Rabia muss sich zwischen Abtreibung und Kaiserschnitt entscheiden. Obwohl alle Menschen in ihrer Umgebung ihr zur Abtreibung raten, einschließlich Vehbi Efendi, entscheidet sich die Mutter für die Austragung der Schwangerschaft bis zum Kaiserschnitt, der für sie selbst tödlich enden könnte. Während dieser Zeit ist Peregrini, seit seinem Übertritt zum Islam Osman genannt, damit beschäftigt, die Oper vom Verzauberten Brunnen zu komponieren, deren Libretto und Musik wesentliche Anregungen aus den orientalischen Feenmärchen und Volksliedern aufgreifen. Als Osman an einer zentralen Stelle der Oper verzweifelt nach der richtigen Tonfolge sucht, ist es Rabia, die durch ihre Intuition und ihr musikalisches Gedächtnis die Lösung herbeiführt: Eine Sequenz aus dem Lied eines albanischen Straßenarbeiters macht die Oper perfekt. Osman dankt ihr mit den Worten
I believe that you are a song of Allah in person, Rabia. You are not only my wife, you are my inspirer and collaborator (CD 364).
66Rabia wird in dieser Zeit erneut von Alpträumen gequält, in denen ihr Gott in der Gestalt ihres Großvaters inmitten aller Höllenstrafen erscheint und droht, ihr Kind zu töten. Weder zusätzliche Gebete noch Riten des Volksislam vermögen die Angstfantasien zu vertreiben. Die Angst wird durch den sich dramatisch verschlechternden Gesundheitszustand Rabias verstärkt. Es kommt zum in letzter Minute durchgeführten Kaiserschnitt – während draußen ein Schneesturm heult – Mutter und Kind überleben. Die moderne Medizin in Form des Narkosemittels ermöglicht Rabia, die eigene Angst und Verwirrung, die sie bis dahin stets in ihrem Leben empfunden hatte, hinter sich zu lassen:
A sense of void, of emptiness all around her – her body relaxed, and she sank into the welcome and liberating void (CD 373).
- 12 Der in der Türkei weit verbreitete, von Süleyman Çelebi im 15. Jh. verfasste Text Vesîletü’n Necât, (...)
67Im Zustand dieser „befreienden Leere“, unter Narkose, gelingt es Rabia zu singen. Noch einmal wird deutlich gemacht, dass die junge Frau sowohl ihre ‚traditionelle Kultur‘ bewahrt und weiterentwickelt als auch dem Schaffen eines westlichen Künstlers den entscheidenden Impuls gegeben hat. Während der Verzauberte Brunnen für die ost-westliche Synthese der Moderne steht, verweist der Vortrag des türkischen Mevlüd-Textes12 in D-Dur, einer westlichen Tonart, auf die Weiterentwicklung des ‘Eigenen’. Was die Ärzte während des Eingriffs hören, sind
… errant notes from the opening of the Mevlut in the major key, bits of her mosque repertoire. And the two and a half notes of the fairy through it all. What a medley! (CD 374).
68The Clown and his Daughter beinhaltet eine lange Liste von Textverweisen und Musikzitaten. Der Sufi Vehbi Efendi ist Teil dieser Musikkultur und Repräsentant einer in den Augen der Jungtürken diskreditierten „alten“ Weltanschauung. Er ist nicht derjenige, der andere zur religiösen Erkenntnis führt – auch wenn seine pastorale Fürsorge gelegentlich nachgefragt wird – er und seine Sicht auf die immanente und die transzendente Welt sind Teil eines Ganzen, das nicht mehr funktioniert, wenn Teile daraus gelöscht werden. Die eigentliche Fähigkeit zur Erkenntnis liegt in jedem Menschen selbst und kann sich durch ästhetische Produktion, durch Musik und Text ausdrücken. Ohne eine Weiterentwicklung der Kunst, eine zeitgemäße Auseinandersetzung mit dem Bestand und der Einführung neuer Medien wie dem Klavier und der Oper, kann dieser Ausdruck allerdings nicht adäquat gelingen.
- 13 Hierbei handelt es sich um eine unzureichende Übersetzung des Titels. Das tekke ist der Gebäudekomp (...)
69In Refik Halit Karays Kadınlar Tekkesi (Das Kloster der Frauen13, 1956) steht die Beziehung zwischen einer jungen Frau und einem gealterten Sufi-Scheich im Mittelpunkt der Erzählung. Der Scheich erweckt allerdings eher den Eindruck eines diesseitsgewandten zendost, eines Freundes der Frauen, als den eines erleuchteten, spirituellen Führers. Neşide, der weibliche Hauptcharakter, scheint bis zu den letzten Seiten in ewiger Unentschiedenheit durch die Geschichte zu schlingern, und die intertextuellen Referenzen verorten den Scheich und seine Anhängerschaft nicht in einem Raum elitärere Sufi-Literatur, sondern unterstreichen in der Vielfältig- und Beliebigkeit ihrer Verwendung den manipulativen Charakter von Scheich Baki. Insgesamt, und diese Intention des Autors lässt sich leicht durch verschiedene Passagen nachweisen, geht es um eine Kritik der religiösen Verführbarkeit und Verführung in den frühen Jahren der türkischen Republik, als es den Menschen an der rechten Orientierung auf geistlichem Gebiet mangelte. Karay macht es jedoch weder seinen Charakteren noch den Lesern leicht, zwischen ‚Wahrheit‘ und ‚Lüge‘ oder ‚Schein‘ zu unterscheiden. Eine zweite Lektüre ermöglicht oft einen veränderten Blick auf die Figuren; in vielen Fällen aber bleibt die Uneindeutigkeit als Prinzip bestehen.
70Der Roman ist durchgehend auf Intertextualität und Intermedialität angelegt. In den Rückblenden auf die Jugend des Scheichs wird schnell deutlich, dass nicht nur die Gesellschaft sich geändert hat, sondern auch die Kommunikationsmedien. Während Scheich Baki in früheren Jahren noch im Staatsdienst als Verfasser amtlicher Briefe [mektupçu] arbeitete und sich mit seiner Angebeteten mittels gekennzeichneter Worte in französischen Romanen austauschte, sind es jetzt technische und Massenmedien, Telefon und Zeitung, über die Menschen miteinander in Kontakt treten oder mittels derer die Geschichte eine neue Wendung nimmt. Damit steht der ‚Briefschreiber‘ ganz explizit für den gesellschaftlichen und kulturellen Wandel in der Türkischen Republik. Während Wandel und Fortschritt grundsätzlich positiv konnotiert sind, gehört aber Scheich Baki zu denen, die nur ihren eigenen Vorteil sehen und sich ohne Skrupel, aber auch – emblematisch für seine Zeit – in Verwirrung zwischen den kulturellen Sphären bewegen.
71Wie aber hat sich der Sufismus geändert? Gibt es noch Scheiche, denen man sich anvertrauen kann? Und wer kann die Menschen auf dem richtigen Pfad führen? Nach wem soll man sich richten? Nach den Reichen, den Lebemännern und -frauen, den Bohemiens oder den abgebrannten Zeitungsschreibern? Die Gestalt Scheich Bakis ist zu ambivalent gestaltet, als dass man ihn ausschließlich für einen spirituellen Scharlatan halten könnte. Er scheint Phasen wahrer religiöser Demut zu durchleben und hat als Derwisch gelebt – wenigstens äußerlich. Viel wichtiger noch ist aber, dass er die mentalen Bedürfnisse der Menschen in seiner Umgebung, insbesondere der Frauen, genau erkennt und für alle die richtigen Worte findet. Er ist zweifellos ein manipulativer Charakter, doch die Frauen in seinem Umfeld sind sehr zufrieden mit dem, was er ihnen bietet.
72Auch für Neşide bedeutet die Bekanntschaft mit ihm einen wichtigen Schritt in ihrer persönlichen und gesellschaftlichen Entfaltung. Aus dem einfachen Mädchen des Istanbuler Umlands wird eine selbstbewusste Frau, die sich in der Gesellschaft zu bewegen weiß. Die Ablehnung, die sie dem Scheich zu Beginn entgegenbringt, weiß dieser so zu nutzen und zu wenden, dass Neşide ihr Leben lang ohne Wissen ihrer Umgebung in Liebe an den Scheich gebunden bleibt. Obwohl es – vermutlich – zu keiner sexuellen Beziehung zwischen Baki und Neşide kommt, entsteht dennoch eine ménage à trois. Die Ehe zwischen Neşide und ihrem charakterschwachen Mann İrfan wird ohnehin nur angebahnt, um das Mädchen in den Einflussbereich von Scheich Baki zu bringen, denn dieser erkennt bei der ersten Begegnung in ihr ein neues Objekt seiner Begierde. Aus diesem Grund erhebt İrfan auch keinen Einspruch gegen eine (sehr) nahe Beziehung zwischen Neşide und dem Scheich. Neşide jedoch findet die Ergebenheit ihrer Schwiegerfamilie Baki gegenüber anstößig und verweigert zunächst jeden Kontakt mit diesem. Auch ihren Ehemann lehnt sie aus diesem Grund innerlich ab; es kommt zu keiner erfüllten sexuellen Beziehung. Das ändert sich nach einer von Neşide nicht gewünschten Begegnung zwischen ihr und dem Scheich, in deren Verlauf es Baki durch seine Worte über (göttliche) Schönheit und Liebe gelingt, Neşides Empfindungen ihm gegenüber zu manipulieren, erste positive Gefühle bei ihr zu wecken. Am Abend empfindet Neşide eine „doppelte Trunkenheit“, verursacht durch Bakis Worte und Bier, aufgrund derer sie das erste Mal eigene sexuelle Befriedigung erfährt. Am Morgen schämt sie sich zwar für ihre Zügellosigkeit, auf der anderen Seite hätte sie, wäre sie sich selbst gegenüber aufmerksamer gewesen,
bemerken können, dass sie eine Frau geworden war“ (KT 86).
73Bakis Einfluss zeitigt also eine ganz und gar weltliche Erfahrung. Was man als Beweis für Bakis Scharlatanerie lesen könnte, gewinnt einen komplexeren Charakter, wenn man beachtet, dass der Roman mit den Themen arbeitet, die zentral sind für den Sufismus und zugleich die stärkste Kritik bei Nicht-Sufis hervorrufen: ‚Schönheit‘, ‚Liebe‘ und die Nähe des mürşit zu Gott. Scheich Baki und seine Anhängerinnen dehnen und überdehnen die Bedeutung der Konzepte und Begriffe, bis sie jede inhaltliche Schärfe verloren haben. Probleme mit dieser ‚Exegese‘ haben allerdings nur die Außenstehenden. Für die Beziehung der Frauen zu ihrem Scheich ist es nicht einmal notwendig, den vorgetragenen persischen, arabischen oder osmanischen Text zu verstehen; die Wirkung des Klangs, die so entstehende „mystische Erotik“ (KT 80), genügt, um die manchmal egomanen, manchmal spirituellen Bedürfnisse der Frauen zu erfüllen. Man kann argumentieren, dass Refik Karay in diesem Roman einerseits ausführlich darstellt, welch zentrale Rolle Wort, Text und Medium für die Evozierung und Vermittlung der nicht-darstellbaren religiösen Erfahrung haben. Andererseits scheint der Inhalt selbst nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. Egal ob abgehalfterter Journalist, gealterter Sufi oder desillusionierte Witwe: Geredet und geschrieben wird außerordentlich viel in Kadınlar Tekkesi. Das Wesentliche hingegen, wie Neşides geheime Liebe zu Baki, bleibt als Geheimnis des Einzelnen verborgen.
74Anliegen des Beitrags war es, zu hinterfragen, wie im türkischen Roman die Medialisierung der religiösen Erfahrung gestaltet wird. Den Anstoß zu dieser Frage gab Charles Taylors Überlegung, dass die Vermittlung religiösen Erlebens eines Vokabulars bedarf, das zum größeren Teil gesellschaftlich vorgegeben und nur dadurch verständlich ist. Ergänzend zu erwähnen ist hier das Paradox der Vermittlung des Nicht-Vermittelbaren: Die religiöse Erfahrung wird grundsätzlich als eine außertextuelle Erfahrung charakterisiert; ihr Inhalt ist unsagbar. Andererseits funktionieren Religionen und insbesondere mystische Formen über Text. Eine religiöse Erfahrung, die nicht mit der Gemeinschaft geteilt, dieser mitgeteilt wird, ist nicht in der Welt. So sind es gerade die Religionsspezialisten, und hier wiederum die Mystiker, die entscheidend zur literarischen Produktion beitragen.
- 14 Nur Baba ist der Name des zügellosen Bektaşi-Meisters. Ins Deutsche wurde der Roman von Annemarie S (...)
75Die literarische Grundlage dieses Beitrags bildete Ahmet Ümits Bab-ı Esrar. Um der Frage nach dem historisch-gesellschaftlichen Wandel der literarischen Medialisierung nachgehen zu können, wurden The Clown and his Daughter sowie Kadınlar Tekkesi herangezogen. Diese drei Romane wurden ausgewählt, da sie über vergleichbare inhaltliche Elemente verfügen: Eine weibliche Hauptfigur durchlebt eine Zeit des Wandels und der Reifung, und dies geschieht u.a. in der Auseinandersetzung mit Themen der islamischen Mystik im Allgemeinen und mit einem männlichen Sufi, der als Wegführer, als mürşit, agiert, im Besonderen. Die islamische Mystik, insbesondere aber die Organisationsform tarikat – was sich nur unzureichend als ‚Orden‘ übersetzen lässt – sowie der an der Spitze der tarikat stehende Religionsspezialist, mürşit oder şeyh, haben die Autoren der Türkei immer wieder fasziniert. Dies rührt zum einen aus der historisch gewachsenen kulturellen Bedeutung der sufischen Gemeinschaften her und zum anderen aus der politisch motivierten Ablehnung derselben, wie sie Yakup Kadri Karaosmanoğlu schon 1914 in seinem Roman Nur Baba14 formulierte und wie sie 1925 durch das nationale Verbot der tarikat in der Türkei bestätigt wurde.
76Eine grundlegende Annahme des Beitrags war, dass der literarische Erfolg der Medialisierung im Zusammenhang mit dem außerliterarischen Kontext, d.h. der Entstehungszeit und dem gesellschaftlichen Diskurs, steht. Rückgebunden an die Praxis der Mystik bedeutet das auch, dass man nach der Rolle des Sufi-Meisters als ganz besonderem Medium fragen kann. Davon ausgehend, dass der Meister die Adepten auf ihrem Weg der Erkenntnis führt und ihnen die elementare religiöse Erfahrung der Erkenntnis des Geheimnisses vermitteln kann, lässt sich auch fragen, wie die jeweiligen Roman-Autoren diese Themen literarisieren, das Medium mürşit literarisch einsetzen, und wie sie als Autor*in selbst zu tarikat und mürşit stehen.
77Aus einer historischen Perspektive lässt der Wandel, den die verschiedenen hier erwähnten Elemente – einerseits Medien, andererseits religiöse Erfahrungen – durchlaufen, auf einen gesellschaftlichen Wandel schließen, sehen doch gerade die türkischen Autoren sich selbst unmittelbar eingebunden in den gesellschaftlichen Diskurs und verantwortlich für die Entwicklung desselben. Wer in der modernen türkischen Literatur die islamische Mystik aufgreift, tut das nie (allein) aus persönlichem oder ästhetischem Interesse oder aufgrund einer thematischen Konjunktur. Selbst wenn es sich bei dem jeweiligen Roman nicht um einen roman à thèse im engeren Sinne handelt, so schrieben und schreiben gerade Autor*innen wie die hier behandelten immer auch als politische Subjekte mit einem gesellschaftlichen Anliegen.
78Eine erstaunliche inhaltliche Nähe weisen Bab-ı Esrar und The Clown and his Daughter auf: Die Sufi-Meister gehören der Mevleviye an; die weibliche Hauptfigur leidet an einer seelischen, in der Kindheit erlittenen Traumatisierung und findet in einem Heilungsprozess, der Anteile sowohl der transzendenten als auch der immanenten Welt enthält, zu sich selbst. Das Erwachsen-Werden geht einher mit einer problematischen Schwangerschaft. Die Entscheidung, diese Schwangerschaft auf jeden Fall auszutragen, steht für die neu gewonnene Kraft dieser Frauen. Zugleich verweist die kreative Kraft der Frauen auf die Kosmologie der Mystik, die Vorstellung von endloser Erneuerung und Fortbestand der Welt. In beiden Romanen wird dem Islam in Form der mevlevitischen Mystik ein positiver Einfluss auf Mensch und Gesellschaft zugeschrieben. Dennoch handelt es sich nicht um religiöse Literatur, sondern um säkulare Literatur, die explizit religiöse Topoi und Texte aufgreift.
79Auch Karays Roman, der eher in die Reihe der tarikat-kritischen Werke einzuordnen ist, verzichtet nicht auf die Idee, dass ein Sufi-Meister kraft seiner Worte und seines Charismas die seelische Entwicklung seiner Adepten (positiv) beeinflussen kann. Karays Figur Baki unterscheidet sich einerseits deutlich von den bescheidenen, nur mystisch interessierten Männern der anderen Romane. Andererseits aber verweisen alle drei Romane auf die Schwächen der Meister, die sich in der transzendenten Welt besser zurechtfinden als in der immanenten, und oft genug keine Antwort finden auf politische oder familiäre Krisen.
80Die religiöse Erfahrung selbst vermittelt Ümit auf komplexe Weise durch den Einsatz diverser Medien, Traumerfahrungen, Zeitsprünge und Identitätsverschiebungen. Letztere führen auch zu einem Wechsel der Erzählperspektive. Ümit verknüpft problemlos Sufi-Meister und Laptops: Die Kultur der Mevleviye hat die Türkei trotz des gesetzlichen Verbots der tarikat niemals verlassen. Es geht aber nicht um religiöse Überzeugungen, sondern um die literarische Aktualisierung von in der Türkei bekannten Themen und Figuren, deren Übernahme sogar zum Verweis auf die negative Macht aktueller politischer Tabuthemen taugt.
81Der Sufi-Meister als Führer auf dem mystischen Pfad und als Tor zur Erkenntnis ist nicht aus der türkischen Romanliteratur verschwunden. Ebenso deutlich wird, dass der säkulare Roman der türkischen Moderne religiöse Topoi aufgreifen kann, ohne zur religiösen Literatur zu werden. Die hier betrachteten und viele weitere Romane ähnlicher Thematik übernehmen dieses Prinzip der Einbettung religiöser und mystischer Topoi in Geschichten, in denen der Mensch, nicht Gott, Souverän ist. Zugleich verzichten die Romane nicht auf das Unheimliche. Die Sufis der Romane bringen nur das zum Vorschein, was in den Menschen verborgen ist.